Glückseligkeit im Schatten der Entbehrung
Ein kleines Zettelchen der Erinnerung

Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie dieses kleine Zettelchen zu mir kam, das man auch als Lesezeichen benutzen kann und das dieses Zitat aus der Bibel enthält: „Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir!“ (Gen 26,24) Auf der Rückseite steht ein handgeschriebenes Datum: 2. März 1997 – womit ich keine besonderen Ereignisse verbinden kann, aber ich weiß: Ein paar Wochen vorher, am 4. Februar, lernte ich meinen späteren Ehemann kennen. Dieses kleine unscheinbare Zettelchen wurde später sehr wichtig für mich: Seitdem mein Mann – fast auf den Tag genau – vor acht Jahren von mir gegangen ist, lag das Zettelchen auf dem Regal neben meinem Bett. Ich stellte es so auf, dass die Schrift gut sichtbar war, an die Bücher oder etwas anderes angelehnt. Natürlich kippte es immer wieder mal um und mit der Zeit zog es meine Blicke nicht mehr so oft auf sich, aber es steht immer noch da.
Diese wenigen Worte gaben mir viel Kraft und den Glauben, dass auf irgendeine Weise jemand irgendwo darauf achtet, dass ich genug Kraft habe, aufzustehen, zu arbeiten, meinen Sohn, der damals noch in seinem Teenageralter war, aufzuziehen, das täglich Notwendige finanziell zu sichern.
Sie haben mir geholfen, daran zu glauben, dass die Seele unsterblich ist, dass das Sterben nur den Körper betrifft und der liebe Mensch, der uns verlassen hat, trotzdem auf irgendeine Weise bei uns bleibt: in unseren Gedanken, Erinnerungen, in unseren Gesten und unserem Wortgebrauch, in den Ausdrücken, Sätzen, die wir gemeinsam benutzten, worüber wir dasselbe dachten, worüber wir gemeinsam lachen konnten. So hat mir dieses Zitat auch geholfen, daran zu glauben, dass die Seele ewig ist, dass sie nicht verschwindet, sondern irgendwo wartet, es ihr gut geht und sie die Hinterbliebenen beschützt.
Die Suche nach einem neuen Weg
Niemand kann die Veränderungen in seinem Leben umgehen, die durch Krisen, Erschütterungen oder unwiederbringliche Verluste verursacht werden. Für mich gewannen diese wenigen Worte der Bibel in meiner schweren Krisenzeit große Bedeutung. Nicht minder unterstützten mich meine Mutter und mein Sohn, spirituell vor allem auch mein Cousin, der mir wertvolle Wegweisungen gab. Der größere Familienkreis und Freunde halfen mir durch ihr Mitgefühl.
Die Fragen standen und stehen im Raum: Wie kann man trotz eines solchen Verlustes dennoch wieder Lebenskraft, Lebensenergie gewinnen? Wie kann eine Hinterbliebene wieder Lebensmut schöpfen, um wertvoll weiter zu machen? Jeder Mensch wird diese Sinnfragen anders beantworten; für mich war die größte Kraftquelle jedoch mein Sohn. Wegen ihm – und durch ihn – habe ich mich nach dem Tod meines Gatten erneut auf die Suche nach einem Weg begeben. Mit all meiner Kraft konzentrierte ich mich nun darauf, die nötigen seelischen und finanziellen Voraussetzungen für unser Weiterleben zu schaffen. Dabei war zweifellos die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz die größte Herausforderung, der ich mich stellen musste. Mein altes Arbeitsverhältnis passte nicht mehr zu meiner Aufbruchssituation und neue Möglichkeiten mussten gefunden werden. Daher waren die darauffolgenden drei Jahre durch eine ununterbrochene Suche bestimmt. Als jemand, der zuvor lehrend an der Hochschule tätig war, gestaltete sich diese als nicht ganz einfach.
Begegnungen bei der Arbeit im Gefängnis
Natürlich musste ich mich in der Zwischenzeit auch auf ein sicheres Einkommen konzentrieren: Eine zweite Arbeitsstelle musste her; deshalb habe ich mehrere Jahre in Strafvollzugsanstalten unterrichtet, und zwar sowohl Frauen als auch Männer. Diese ganz und gar andersartige Umgebung wirkte auf mich ernüchternd. Ich durfte mit Menschen arbeiten, deren Schicksale sie, von Entbehrungen gekennzeichnet, in das Gefängnis geführt hatten: die Entbehrung einer Kindheit, das Fehlen fürsorglicher Eltern, eines unterstützenden Umfeldes. Von den Frauen hatten viele schon im Teenageralter Kinder bekommen und wurden schon als Mittdreißigerinnen zu Großmüttern. Sie hatten keine Ausbildung, keine Zukunftsperspektiven, manche von ihnen hatten auch schon die Hölle einer Suchtkrankheit hinter sich.
Ein im Gefängnis arbeitender, empathischer Mensch lernt mit der Zeit auch sehr viel über sich und über sein Leben. Man lernt die positiven Seiten des eigenen Lebens richtig zu schätzen, viele vergangene Episoden des Lebens erscheinen in einem anderen Licht. Im Vergleich zu den Insassen fühlt man sich als vom Glück begünstigt. Und natürlich versucht man denjenigen, die weniger von den „Talenten“ empfangen durften, etwas zu geben und an sie weiterzureichen: Zuwendung, Aufmerksamkeit, positive, ihnen unbekannte Kommunikationstechniken, Motivation, heilende Geschichten. Selbstverständlich wird der Erzählende unbemerkt durch die Wirkung der Sprache und der Geschichten mit in deren heilende Wirkung hineingezogen und gestärkt. Diese sechs Jahre, in denen ich mich mit Gefangenen beschäftigen durfte, waren in dieser Hinsicht eine kontemplative Lebenszeit auch für mich.
Veränderung und neue Möglichkeiten
In der chinesischen Schriftsprache setzt sich das Wort „Krise“ aus zwei Charakteren zusammen. Der eine bedeutet „Gefahr“, der andere „Möglichkeit“. Die westliche Zivilisation ist geneigt, diesen zweiten Aspekt zu vergessen, obwohl er ein wichtiger Grundstein für die Überwindung einer prekären Situation sein kann: Es sich bewusst zu machen, dass die Veränderung das Bedürfnis der Suche und die Notwendigkeit des Findens neuer Möglichkeiten in sich birgt. Das entspricht sowohl auf der persönlichen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene einer Grundwahrheit. Sie verlangt von uns allerdings auf beiden Niveaus immer gleichzeitig Flexibilität, Offenheit und nicht zuletzt Ausdauer.
Diese drei außerordentlich wichtigen Attribute sind auch für mich in den vergangenen Jahren zu einer umfassenden Wahrheit geworden: Indem ich sie gelernt und angewendet habe, hat meine jahrelange ausdauernde Suche vor fünf Jahren ihr wichtigstes Ergebnis erzielt: Ich habe eine Universitätsstelle gefunden – oder diese mich –, durch die ich nicht nur der allgemeinen Entwicklung dienlich sein kann, sondern in der ich mich auch selbst entfalten kann. Schon heute kann ich behaupten, dass ich auf dieser mittleren Führungsposition an einer kirchlichen Hochschule wichtige internationale Vorgänge lenken darf und unterrichten kann, ein Forschungsinstitut und eine Werkstatt führen und bei der Herausgabe wissenschaftlicher Publikationen mitwirken darf. All das macht mich glücklich.
Geteiltes Glück
Aber was bedeutet es, glücklich zu sein? Kann man darüber nur im abstrakten Sinne sprechen und schreiben? Oder kann man diesen Begriff immer nur aus seiner eigenen persönlichen Perspektive heraus interpretieren und so versuchen, nur sein individuelles Leben, seine Gefühle und Weltanschauungen mit Sinn zu erfüllen? Der ungarische Philosoph Béla Hamvas meint hierzu: „Das Glück kann nur derjenige ertragen, der es teilt. Das Licht wird nur in dem zum Segen, der es anderen weitergibt.“ Für mich hat dieses Teilen eine Schlüsselbedeutung in Bezug auf die Definition von Glück: das Teilen mit der Familie, mit den eigenen Kindern. Die mit geliebten Personen verbrachten, vertrauten Stunden und Tage. Die miteinander geteilte Zeit, die zusammen erlebte qualitativ-hochwertige Zeit. Aber wenn wir auf sie zurückblicken, bleiben nur Augenblicke, gleichwie das eine oder andere Foto.
Glückseligkeit ist das Glück, der Erfolg, das „Gesamtergebnis“ deiner geliebten Menschen, an deren Leben du eventuell – in irgendeiner Rolle – Anteil hast, wenn dies auch nur durch Unterstützung oder bestärkende Worte geschieht. Aber wie kommt dieses Glück schaffende Licht, wie Hamvas es formulierte, in den Menschen zustande? Wie kann man in sich dieses Licht erschaffen? Das Wandeln auf „inneren Pfaden“, die Spiritualität, die Literatur, die Musik, jede der schönen Künste kann Licht erzeugen. Es waren Zeiten, in denen ich mir der Reihe nach alle Werke ausgesuchter Literaten zu Gemüte führte, so des tschechisch-französischen Schriftstellers Milan Kundera oder der russischen Schriftstellerin Ludmila Ulitzkaja. Die durch das Lesen erlebte neue Welt schuf mir für ein paar Stunden eine innere Zuflucht. Damit sind die schönen Künste große Stützen für den Menschen. Sie sorgen für Fröhlichkeit oder bewegen zum Nachdenken.
Für jeden von uns ist es wichtig, sich das Glück möglichst lange zu erhalten, damit wir es nicht nur flüchtige Augenblicke lang erleben dürfen. Meiner Meinung nach können wir erst dann von einem langfristigen Glück sprechen, wenn wir in unserem Leben Stabilität geschaffen haben, wenn möglich in mehreren Bereichen. Und das ist wahrlich nicht einfach. Die im einen oder anderen Lebensbereich erreichte Stabilität kann in uns dann das Gefühl des „Angekommen-Seins“ auslösen: Das Bewusstsein, dass „du deinen Platz gefunden hast“.
Auf steinigem Weg zum Glück
Aber bis zu diesem Gefühl des Angekommenseins muss der Mensch einen sehr langen Weg beschreiten, mit vielen Widrigkeiten. Es kreuzen zudem viele Veränderungen diesen Weg und erschweren ihn zusätzlich. Aber gerade dieser steinige Weg ist maßgebend für unser Glück, weil wir auf ihm und durch ihn am meisten lernen. Und nicht zuletzt erkennen wir, dass man nicht in allen Lebensbereichen das Glück finden und erleben kann. Deshalb ist es gerade auf den verschlungenen Lebenswegen wichtig, dass wir immer wieder die biblische Weisung verinnerlichen und sie nie vergessen: „Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir!“
Ich möchte mich für die Möglichkeit bedanken, dass ich diese Gedanken zusammenfassen und zu Papier bringen durfte, dass ich mich erinnern und wertschätzen konnte. Diese Arbeit war gleichzeitig leicht und schwer, aufmunternd und traurig stimmend, da wir uns meist nicht tagtäglich mit den großen Fragen unseres Lebens, mit den Verlusten und dem Fehlenden beschäftigen – obwohl das alles doch im Hintergrund immer präsent ist. Im Alltag scheint dies aber leider zu oft nicht gleichwertig vorhanden zu sein. Ich glaube, zu Glückseligkeit und zum Glücklichsein gehört nicht nur das Erinnern, sondern auch das Vergessen-Können.
Aus dem Ungarischen übersetzt von Annamaria Strötz.