Polens politische Unruhe

aus OWEP 2/2020  •  von Jerzy Maćków

Prof. Dr. Jerzy Maćków (geb. 1961) ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Regensburg. Er publiziert auch in Zeitungen. 2017 erschien sein Buch „Die Ukraine-Krise ist eine Krise Europas“.

Zusammenfassung

Der folgende Beitrag befasst sich mit den Ursachen und Symptomen der politischen Unruhe in Polen. Er analysiert die politischen Rahmenbedingungen und hinterfragt die daraus resultierenden Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft, die darüber hinaus auch aus dem Ausland wenig beruhigende Unterstützung erhält.

Wenn man Unruhe oder Nervosität wahrnimmt, dann geschieht dies aufgrund zweier Empfindungen: der Angst und (oder) des Unbehagens. Es ist meistens nicht schwer, bei einem einzelnen Menschen die Ursache seiner Unruhe zu erkennen. Anders verhält es sich mit der Unruhe eines ganzen Landes. Diese kann konstatiert werden, wenn viele Menschen von der gleichen Angst getrieben werden oder das gleiche Unbehagen teilen. Wenn also Furcht oder (und) Unzufriedenheit weit verbreitet sind, empfindet das Volk Unruhe.

Von welcher Dauer ist „nationale Unruhe“?

Das in dieser Hinsicht – also aufgrund seiner gemeinsam wahrgenommenen Empfindungen – homogene Volk („Nation“ oder „Gesellschaft“) betritt die Bühne der Geschichte äußerst selten. Wie der polnische Philosoph Leszek Kołakowski es einmal ausdrückte: „Komödien der nationalen Einheit währen nicht lange“. Offenbar wollte Kołakowski ein gelungenes bon mot formulieren und hat es deswegen zugespitzt. Denn die vergängliche Einheitlichkeit des Volkes muss nicht immer dem komisch anmutenden Gefühlsausbruch nach dem Sieg „seiner“ nationalen Fußballmannschaft ähneln, die sich aus Spitzenathleten zusammensetzt, die mit den sie unterstützenden Übergewichtigen und Unsportlichen so gut wie nichts verbindet. Eine Gesellschaft kann darüber hinaus in einen Unruhezustand versetzt werden, der nicht einer Komödie, sondern einem Drama gleicht. Das geschieht zum Beispiel beim gebannten Warten auf das Ergebnis einer politischen Schicksalswahl, deren Dramatik die Demoskopen und Stimmenzähler ebenso wie das „Wahlvolk“ zu überfordern scheint. Als dramatisch ist zudem die ergreifende Erregtheit einzustufen, die die Nachricht über einen Lastkraftwagen auslöst, mit dem ein „Gefährder“ die Menschen, die einen Weihnachtsmarkt besuchten, tötete.

Die Tragödien der nationalen Einheit sind nicht nur selten, sondern sie dauern oft lange. Den unüberwindbaren Kummer des von seinen Nachbarn geteilten Polens goss der Dichter Cyprian Kamil Norwid vor gut 150 Jahren in die folgenden Fragen: „Was hat sich nicht verändert / seitdem ich die Welt betrachte? / Ist denn alle Wirklichkeit / bloß Theaters entracte? / Leben? – bloß des Sterbens Weile? / Jugend? – Tag der grauen Haare? / Vaterland? – seine tragischen Jahre?“ Viele Polen haben heute noch die andere Tragödie ihrer Nation in lebendiger Erinnerung, jene, die am 1. September 1939 begann und sich – je nach der Gruppe, die von ihr am stärksten betroffen war – bis 1945, bis 1948, bis 1956, bis 1989 hinzog. Ihr lagen abwechselnd Todesangst und Furcht vor dem Verlust der Freiheit sowie Verzweiflung über die scheinbar für immer verlorene Souveränität wie auch die Unzufriedenheit mit der schicksalhaften Armut zugrunde.

Gibt es eine spezifische Unruhe, die das seit 1989 wieder souveräne Polen, in atemberaubendem Tempo immer sicherer und wohlhabender werdend, prägt? Die Eigenart der Nervosität, die für das nationale Geschichtstheater charakteristisch ist, wird entscheidend von den Akteuren, den Zuschauern, aber auch von denjenigen mitbestimmt, die um das Theatergebäude einen großen Bogen machen. Die zeitbedingten Gegebenheiten der Vorführung kommen selbstverständlich hinzu.

Ursachen der heute in Polen empfundenen Unruhe

Will man die heutige politische Unruhe Polens analysieren, bietet es sich an, zwischen drei Gruppen zu unterscheiden: der Regierung und ihren Anhängern, der Opposition samt ihrer Gefolgschaft sowie jenen Menschen, die zu keiner der erstgenannten Gruppen stehen.

Nur scheinbar hat die polnische Rechte nach ihrem wiederholt eindeutigen Sieg bei den Sejm-Wahlen im Herbst des vergangenen Jahres keinerlei Gründe für Ängste und Nervosität. Zwar sitzt die von ihrem Vorsitzenden Jarosław Kaczyński geführte Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) fest im Regierungssattel, aber sie ist doch von einer Unruhe ergriffen, die vom ungewissen Ausgang der im Mai 2020 vorgesehenen Präsidentschaftswahlen ausgelöst wird. Obwohl das amtierende Staatsoberhaupt Andrzej Duda, das dem PiS-Lager entstammt, von allen Kandidaten über die größte Anhängerschaft verfügt, hat die Bewerberin der größten oppositionellen Partei PO (der Bürgerplattform), Małgorzata Kidawa-Błońska, durchaus Chancen, die Wahlen zu gewinnen. Dazu wird sie im zweiten Wahlgang die Stimmen aller Wähler brauchen, die im ersten Wahlgang Andrzej Duda nicht gewählt haben werden. Diese Möglichkeit bereitet der PiS schlaflose Nächte. Die Partei animierte deshalb den Staatspräsidenten dazu, eine Wahlkampfstrategie zu verfolgen, die seinen Sieg bereits im ersten Wahlgang garantieren sollte. Nur so ist zu erklären, warum sich Duda bis Februar 2020 unmissverständlich als unkritischer Unterstützer der von der PiS durchgeführten Reformen zeigte. Diese Strategie ging allerdings nicht auf – laut Demoskopen näherte sich der Präsident zu keinem Zeitpunkt der Marke der angestrebten 50-Prozent-Wählerstimmen.

Von diesem Scheitern offenbar stark beunruhigt, ging Duda zur PiS auf Distanz, indem er durchsickern ließ, dass er seine Zustimmung zu einem Gesetz, mit dem das von der Regierungspartei kontrollierte Staatsfernsehen saniert werden sollte, nur dann unterzeichnen würde, wenn dessen Intendant, den Kaczyński unterstützte, abgesetzt werden würde. Dudas Angst vor dem Amtsverlust traf damit auf die Angst der PiS, das wertvolle Instrument zur Manipulation bzw. Gestaltung der öffentlichen Meinung zu verlieren. In dieser Situation erwies sich das rationale Kalkül der Akteure als stark. Ein Kompromiss verhalf dazu, ihre Ängste und ihre Unzufriedenheit im Zaum zu halten: Der Chef des Fernsehens wurde abgesetzt, aber er behielt seinen Einfluss auf die Gestaltung des Staatsfernsehens und Präsident Duda unterzeichnete das Gesetz.

Ein anderes Unbehagen der Regierungspartei kann freilich auf rationalem Wege nicht beseitigt werden. Es geht um die Sorge, dass sich die politische Opposition nach ihrer Rückkehr an die Macht rächen könnte und dass sie dabei wesentlich härter vorgehen könnte, als es in Polen je üblich war. „Du wirst sitzen“ – das ist die im Gedächtnis vieler PiS-Abgeordneter tiefsitzende Drohung, die sie sich während der Debattenpausen im Sejm oft anhören mussten. Dabei hat die PiS zu dieser Barbarisierung des politischen Diskurses nach ihrer Machtübernahme im Jahre 2015 selbst einen freiwilligen Beitrag geleistet, wie nachvollziehbar ihre damaligen Rachegelüste auch gewesen sein mögen. Die in Polen nach dem Regierungswechsel übliche (und legale) Entfernung der politischen Gegner von den Schlüsselposten im Staat erfolgte in den Jahren 2015-2016 hastig und wurde oft von Siegesgeheul begleitet. Die PiS schien überhaupt nicht daran interessiert, nach 2015 auf diesem Feld für die polnische Demokratie neue Maßstäbe zu setzen.

Was die Unruhe im Lager der Oppositionsparteien angeht, so ist mittlerweile deren Angst verflogen, sie müssten infolge des gewaltigen Glaubwürdigkeitsverlusts während ihrer jahrelangen Regierungszeit von der politischen Bühne ganz abtreten. Ungeachtet dessen, dass die PiS als die erste Partei in der Geschichte der Dritten Polnischen Republik ihre Wahlversprechen tatsächlich einlöste, scheinen die Oppositionsparteien eine feste Basis in der Gesellschaft behalten zu haben. Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr hat die neu aufgestellte Opposition zwar erwartungsgemäß in der einen Parlamentskammer, dem Sejm, eine Niederlage erlitten, aber – unerwartet – im Senat die Mehrheit erobert. Damit hat sie für beträchtliches Unbehagen im Regierungslager gesorgt, weil der Senat über die Macht verfügt, die Gesetzgebung zu verlangsamen.

Die Stärkung der heutigen Oppositionsparteien hat freilich die Ursache für ihr Unwohlsein nicht beseitigt: Sie, die im Großen und Ganzen fast ein Vierteljahrhundert lang in verschiedenen politischen Konstellationen an der Machtausübung beteiligt waren, sind nicht mehr an der Regierung. Politische Identitätsprobleme der PO kommen hinzu. Die Gescheiten unter ihren Funktionären und Anhängern müssen von der irritierenden Vermutung heimgesucht sein, dass sie entgegen ihrer jahrelangen Selbstbezeichnung niemals „liberal“, sondern immer „opportunistisch“ waren.

Die Unruhe außerhalb parteilicher Grenzlinien

Die Unruhe wegen der eigenen Identitätslosigkeit teilt die PO mit jenen nicht genuin politischen Eliten, die sich damit immer noch nicht abfinden konnten, dass sie zwar nach wie vor ihre privilegierte Stellung in den Medien, den Hochschulen, der Wirtschaft und oft auch in der Staatsverwaltung genießen, aber nicht mehr über Kollegen in der Regierung verfügen. Dieses Unbehagen wird von ihrer bis vor kurzem erfolgreich unterdrückten Ahnung verstärkt, dass sie mitnichten gebildeter, klüger, ehrlicher, weltoffener, patriotischer und europäischer als die von ihnen verachteten pisowcy („PiSer“) sind.

Vielmehr müssen sie sich die Frage stellen, ob sie ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht geworden sind. Das betrifft beispielsweise einige prominente Geschichtsprofessoren, die in dem ein oder anderen öffentlichen Streit über die neueste Geschichte Polens (etwa in der Auseinandersetzung über Lech Wałęsa, der in den siebziger Jahren nachweislich ein Zuträger des kommunistischen Sicherheitsdienstes gewesen war) jahrelang gelogen oder zumindest nicht die Wahrheit gesagt haben. Nicht wenige bekannte Journalisten müssen mittlerweile von der verstörenden Erkenntnis befallen sein, sie hätten unter bewusster Verletzung ihrer Berufsprinzipien jahrzehntelang politische Propaganda betrieben. So mancher Richter wird wahrscheinlich erkannt haben, dass sein Arbeitseifer und sein Gerechtigkeitssinn nicht immer dem in seinem Beruf erwarteten Ethos entsprachen. Dem breit verstandenen Oppositionslager bekommt die kräftige Unterstützung der deutschen Medien immer weniger gut. Denn den meisten Polen wurde klar, dass die deutschen Journalisten, die der Opposition nahestehen, deren Professionalität nicht unbedingt übertreffen. Über die Qualität der polnischen Politik sagt wahrscheinlich die Unruhe, die jene Polen ergreift, um deren Stimmen die zerstrittenen Parteien kämpfen, am meisten. Wegen des enttäuschenden Niveaus des politischen Kampfes und der politischen Elite sowie wegen der parteilichen Berichterstattung der Medien haben viele Durchschnittsbürger längst resigniert. Als an der Politik nicht Interessierte verfielen sie in eine Art bequeme Lethargie. Aus dieser werden sie freilich immer wieder herausgerissen und in den Zustand einer verstörenden Unruhe versetzt. Den Politikern gelingt es nämlich, ihr Wahlvolk immer wieder aufs Neue mit Überraschungen wachzurütteln. Wie das geschieht, sei hier mit einem durchaus repräsentativen Beispiel aus dem aktuellen Wahlkampf illustriert.

Erzeugung von Unruhe durch Unruhe

Robert Biedroń, der Kandidat des Wahlbündnisses der „linken“ Parteien für das Amt des Staatspräsidenten, appellierte angesichts der mit dem Coronavirus einhergehenden Gefahren an den amtierenden Staatspräsidenten, den Nationalen Sicherheitsrat einzuberufen, Der Politiker nannte ihn das „wichtigste Instrument zur Koordinierung der Handlungen“, die „die Sicherheit der Polen in Not und Gefahr zu gewährleisten“ imstande seien. Fast zeitgleich gab Biedroń einem Boulevardblatt ein Interview, in dem er über seine und seines Partners Vorliebe für Weltreisen berichtete: „Wir waren kürzlich in Kenia und haben insgesamt bereits 60 Auslandsreisen unternommen! Auf unserem Reiseplan steht jetzt China. Wir fliegen dorthin. Es ist billig, weil jetzt niemand wegen des Coronavirus dorthin fährt.“ Offenbar bewogen allein die auf seine Äußerungen folgenden heftigen Reaktionen den Präsidentschaftskandidaten dazu, seine Urlaubspläne zu ändern. Er twitterte: „In den kommenden Tagen werden wir Pabianice, Sieradz, Chełm und dann dutzende andere polnische Städte und Dörfer besuchen. Wir gehen nirgendwo anders hin. Und das einzige China, das wir in naher Zukunft besuchen können, ist hier“. Auf einer Karte markierte er einen Teil des Dorfes Studzionka namens China.

Im katholischen, konservativen Polen habe man kein Verständnis für Homosexuelle, behaupten einige deutsche Korrespondenten, die aus Warschau berichten, immer wieder. Das stimmt so nicht. Biedroń kann ernsthaft damit rechnen, bei der Präsidentschaftswahl gut zehn Prozent der Stimmen zu bekommen. Das ist offenbar der Anteil polnischer Wähler, die auf ähnlichem Niveau wie die deutschen Journalisten argumentieren, die ihn in mehreren Berichten als den „polnischen Macron“ (Mitteldeutscher Rundfunk), den „charismatischen Politiker“ (taz) oder „den Hoffnungsträger der politischen Linken“ (quer.de) apostrophiert haben, ganz zu schweigen von jenen polnischen Medien, die unentwegt gegen die Regierung gerichtete Propaganda betreiben.

Auf der Bühne der polnischen Politik werden weder eine Tragödie noch ein Drama noch eine Komödie gespielt. Es handelt sich um eine seichte Mischung aus allen drei Genres, um eine Farce. Deshalb ist die Unruhe der Polen, die gezwungen werden, sich dieses Spektakel anzuschauen, zappelig und irgendwie ungesund. Biedrońs ursprünglicher Vorschlag war allerdings sinnvoll, und Duda hat deshalb auch den Nationalen Sicherheitsrat einberufen.