Einen Platz finden in der Welt – und nicht zum Feind werden

aus OWEP 4/2016  •  von Reinhard Feiter

Prof. Dr. Reinhard Feiter ist Professor für Pastoraltheologie und Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.

Zusammenfassung

Migration – so zeigen es die in diesem Heft versammelten Berichte und Erzählungen – ist ein vielfältiges Phänomen. Seine Grenzen sind fließend. Denn Migration wird erlitten und gewählt, sie ist Widerfahrnis und Antwort. Deshalb bedarf es unterschiedlicher Perspektiven und mehrfacher Anläufe, um etwas von ihrer Vielschichtigkeit, aber auch ihrer Singularität zur Sprache zu bringen. Aber nur wenn die besprochenen Geschichten und Schicksale auch zum Anspruch an den Verfasser wie die Leserinnen und Leser werden, sind sie als solche in den Blick geraten.

Sieben Schilderungen: Frauen und Männer erzählen die Geschichte ihrer Migration. Nur ein Text stammt nicht von den Betroffenen selbst: Maria Christina Färber und Monika Kleck berichten von Abschiebungen albanischer Asylbewerber aus Deutschland. Bei Anna Wishiwanjuk machen die Ausführungen über sich selbst und wie es dazu kam, dass sie nach Abschluss ihres Studiums in Moskau nicht in ihre ukrainische Heimat zurückkehrte, nur den kleineren Teil ihres Beitrags aus. Weil sie ihren eigenen Fall nicht als typisch erachtet, hat sie eine ganze Reihe weiterer Migrationsgeschichten aus dem Kreis ihrer Bekannten und Verwandten hinzugefügt. Ähnlich und doch anders weitet sich der Blick bei Rupert Neudeck. An die Erinnerung der Flucht, die ihn als Sechsjährigen 1945 zusammen mit Mutter, Großmutter, einer Tante sowie seinen drei Geschwistern von Danzig über Sachsen-Anhalt nach Schwerte in Westfalen führte, knüpft er Beobachtungen und Überlegungen zu heutigen Flüchtlingsströmen.

Das kleine Konvolut an Zeugnissen und Beschreibungen bietet letztlich ein sehr facettenreiches Bild von Migration. Im Folgenden wird es in drei Hinsichten einer näheren Betrachtung unterzogen.

Typisches – ein Register

Den Beginn macht eine Musterung der Texte, die auf Typisches abhebt: auf Lagen, Umstände und Formationen, die sich wiederholen und sich wiederholend voneinander abheben, ohne sich widersprechen zu müssen.1 Auf diese Weise entsteht keine Kategorientafel, sondern ein Register von Situationen, die nicht aufhören, Situation dieser Migrantin oder dieses Migranten zu sein, nur weil sie auch die Situation anderer Migranten ist.2

So begegnen wir neben der transnationalen Migration nach Russland, Polen und Deutschland3 auch der Binnenmigration innerhalb Armeniens und der Ukraine4, selbst eine Kettenmigration, von der Ukraine in die Sowjetunion und von dort nach Polen, kommt vor.5 Die Spannbreite reicht vom Ersuchen um Asyl nach deutschem oder europäischem Recht6 über die Arbeitsmigration, die ein Pendeln zwischen Heimat und Arbeitsstelle mit monatelanger Abwesenheit von der Familie bedeuten kann7 und mit der sich nicht selten auch eine Irregularität des Aufenthaltsstatus und des Beschäftigungsverhältnisses verbindet,8 bis zum studienbedingten Auslandsaufenthalt, der eine Verlängerung oder anderweitige Fortsetzung erfährt.9 Es gibt Beispiele von Deportation: die Verschleppung von Oberschlesiern und Rumäniendeutschen zur Zwangsarbeit in der Sowjetunion.10 Berichtet wird die Flucht und Vertreibung von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und von Serben im Kontext des Bosnienkrieges von 1992 bis 1995; es gibt einen Hinweis auf die Vertreibung der polnischen Bevölkerung aus Lemberg/Lwiw nach 1945, ohne dass sie benannt wird.11

Da ist weiterhin die freiwillige Heimkehr von Migranten in die Ukraine12), allerdings auch die durch Abschiebung gewaltsam erzwungene Rückkehr nach Albanien.13 Da ist die vollzogene oder angestrebte Familienzusammenführung (Familiennachzug),14 aber auch die schleichende Entfremdung oder das Auseinanderfallen von Familien im Laufe von Migrationsgeschichten15 – wie Migration überhaupt stets die gesamte Familie tangiert, auch bei unbegleiteten Jugendlichen.16 Da ist schließlich die Aussiedlung, die aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten Menschen deutscher Abstammung nach Deutschland sowie Menschen mit russischer Volkszugehörigkeit nach Russland (zurück-)führt.17

Keine Migrationsgeschichte gleicht einfachhin der anderen, und doch gibt es vieles, was die Migrantinnen und Migranten, die erzählen oder von denen die Rede ist, miteinander teilen. Denn es sind nicht zuletzt soziale Lebenslagen und kollektive Widerfahrnisse, die sie auf den Weg gebracht haben. Dazu gehören ökonomische Umstände: Geldentwertung, wirtschaftliche Rezession und (Massen-)Arbeitslosigkeit.18 Dazu zählen politische Faktoren wie der Zusammenbruch kommunistischer Systeme und staatliche Sezessionen (Sowjetunion, Jugoslawien und Ukraine),19 die Korruption der Zivilgesellschaft durch mafiöse und kriminelle Machenschaften (Albanien)20 und der Kollaps staatlicher Strukturen überhaupt (Somalia).21 Menschen fliehen vor menschenverachtenden Pressionen aus Albanien und Eritrea22 sowie aus akuter Lebensgefahr in den Kriegszonen der Ukraine und Syriens.23 Aufkommende politische Spannungen zwischen Herkunftsland und Land des aktuellen Aufenthalts (Ukraine – Russland) stellen vor die Frage: Rückwanderung oder Einbürgerung?24 Ferner lösen Umwelt- und Naturkatastrophen Migrationsströme aus. Der Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 und das Erdbeben von Spitak im Kaukasus 1988 haben beide dazu geführt, dass Menschen ihre Heimatregion verlassen mussten.25

Auch sogenannte „Pull-Faktoren“ der Migration kommen zur Sprache, also dasjenige, was die Fremde zu verheißen scheint, was Menschen anzieht und was sie im anderen Land suchen. Zum einen ist es der Zugang zu einer ausreichenden medizinischen Versorgung und der Schutz an Leib und Leben durch ein staatliches Gewaltmonopol und eine rechtsstaatliche Ordnung.26 Zum anderen motiviert die Aussicht auf Arbeit: sichere Arbeit, die es ermöglicht, für den eigenen Lebensunterhalt und den der Familie selbst aufzukommen – lukrative Arbeit, mit der ein höheres Einkommen erzielt wird und ein gewisser Wohlstand möglich ist – interessante Arbeit, die der eigenen Ausbildung entspricht und zufrieden stellt.27 Schließlich sind es Möglichkeiten der Bildung, die Migrantinnen und Migranten anzieht, und zwar sowohl die hochwertige Ausbildung, die berufliche Perspektiven eröffnet, als auch Bildungsprozesse im Dienste einer umfassenderen Selbstverwirklichung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit.28

Innerhalb solcher unterschiedlicher Konstellationen zeigen sich Vertreibung und Deportation, Flucht und Emigration immer wieder auch als Vorgeschichte gegenwärtigen Lebens und aktueller Migration: Diejenigen, die heute migrieren, sind nicht die ersten Migrantinnen oder Migranten in der Familie29; und auch die Einheimischen haben zugewanderte Vorfahren.30 Oder es erweist sich umgekehrt die persönliche Lebensgeschichte und Gegenwart als Nachgeschichte eines Migrationsschicksals – und es muss nicht das eigene sein.31 Wieviel auch im Einzelnen dem Vergessen anheimgefallen sein mag, Rupert Neudecks frühe Erlebnisse der Flucht sind nie verklungen. Wer mag den Anteil ermessen, die sie an seinem lebenslangen Engagement hatten, nicht zuletzt zugunsten von Menschen auf der Flucht. Er schreibt:

„Wer einmal Flüchtling war, kann sich in einen anderen Flüchtling hineinversetzen. Ich gehöre zu der Generation, die mit den Kindesbeinen noch in die Nazizeit hineinragt, und habe diese Zeit der Flucht mein ganzes Leben nicht vergessen.“32

Marcin Wiatr wiederum verlässt, scheinbar ohne Not („Vertrieben hat mich niemand [...].“ „Wir sind nicht geflüchtet [...].“33), die Heimat und kann vielleicht doch nicht anders umgehen mit den Gespenstern der Vergangenheit: mit der Deportation der Großväter, die ihm und seinen Altersgenossen verschwiegen worden ist, und dem Trauma einer Generation „‚verwaister‘ Enkelkinder.“34

Trotzdem steht bei Marcin Wiatr am Ende nicht allein ein zweifaches Vielleicht: dass ja vielleicht die polnische Literatur einmal den Opfern Gerechtigkeit widerfahren lassen wird und dass dann auch eine Rückkehr nach Oberschlesien vielleicht möglich ist.35 Vielmehr hat er bereits dem, was nur die Zukunft bringen kann, die Tür offengehalten. Bei der Einbürgerung in Deutschland hat er es unterlassen, aus „Marcin Wiatr“ zu „Martin Wind“ zu werden.36 Und vielleicht kann er es auch nur so: mit seinem angestammten polnischen Namen, ertragen, jetzt nicht in seiner Heimat zu leben.

So sehr also die vorliegenden Berichte und Erzählungen dazu einladen, Typisches zu registrieren, so sehr erinnern sie zugleich daran, dass das, was sich wiederholt, anders und verändert wiederkehrt, und dass das, was gleichgesetzt wird, nicht gleich ist.37

Kontingenzen – das Erzählen

In einem zweiten Schritt soll darum die Aufmerksamkeit den Geschichten als solchen gelten38, schließlich begegnen wir der Migration in den sieben hier dokumentierten Zeugnissen (wesentlich) als erzählter Migration. Bemerkenswert daran ist freilich nicht eine besondere Authentizität, die man solchen Erzählungen vielleicht unterstellen mag. Bedeutsam ist vielmehr, dass und wie Migration hier erzählend verstanden und zu verstehen gegeben wird.

Wie andere Erzählungen auch besteht die Migrationserzählung nämlich zunächst aus nichts anderem als aus einer Mannigfaltigkeit von kontingenten Vorkommnissen, also aus solchem, das auch anders oder nicht hätte geschehen können und im Schema eines „Und dann ... und dann ... und dann“ aneinandergereiht ist. Nehmen wir beispielsweise die Erzählung von Irena Wiśniowska:

Sie wächst auf in Tschernigow, einer ukrainischen Provinzstadt, in der das Leben geprägt ist von Mangel an Waren aller Art. Man muss Ausschau halten, wo welche Waren angeboten werden; und die Familie legt für ihre Einkäufe weite Strecken zurück, fährt 140 km nach Kiew für Käse und Wurst, fährt für Bekleidungsartikel ins benachbarte Weißrussland. – 1986, Irena Wiśniowska ist 16 Jahre alt, ereignet sich 80 km von ihrem Wohnort entfernt die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl, die für die Jugendliche ärgerliche Einschränkungen bedeutet. – 1987 besteht sie ihre Aufnahmeprüfung an einem Leningrader Institut für Russische Philologie nicht, da kurzfristig ein Examen in Englisch hinzukam, auf das sie nicht vorbereitet war. – Sie begegnet einer Gleichaltrigen namens Lena, die ebenfalls noch kein Studium aufgenommen hat und deren Mutter dafür sorgt, dass sich beide gut für die Aufnahmeprüfung an der Universität präparieren können. – Sie bestehen beide die Prüfung, nun in Moskau, nehmen dort ihr Studium auf und verbringen zusammen eine gute Zeit. – 1991 liegt Moskau im Zentrum des Staatsstreiches gegen Michail Gorbatschow und seiner Niederschlagung. – In selben Jahr erklärt die Ukraine ihre Selbstständigkeit. Der Rubel verliert seine Gültigkeit in der Ukraine; die eingeführte Übergangswährung, mit dem die Eltern die Studentinnen unterstützen, wird in Moskau nicht als Zahlungsmittel akzeptiert ...

Wie dieser kleine Ausschnitt zeigt, gibt es zwar nicht allein kontingente Vorfälle, sondern darüber hinaus auch noch intentionale Handlungen und Kausalzusammenhänge, doch das Zusammentreffen und der Zusammenhang all dieser Momente ist ebenfalls kontingent; und die Erzählung beseitigt diese Kontingenz und Heterogenität nicht.

Allerdings überführt die Erzählung – wie Paul Ricœur es formuliert hat – die „wilde“ und „irrationale“ Kontingenz in eine „bedeutsame, intelligible Kontingenz“.39 Wodurch dies geschieht? Durch nichts anderes als dadurch, dass Irena Wiśniowska nun all die genannten kontingenten und heterogenen Bestandteile ihrer Lebenslaufes erzählend zusammenfügt; d. h. indem sie sie jene Ereignisse sein lässt, welche die Geschichte einer Migration ausmachen, die über Moskau nach Krakau geführt hat. Was außerhalb der Erzählung nichts anderes ist als etwas, das geschehen ist, aber hätte auch anders oder nicht geschehen können, das wird in der Erzählung zu etwas, das das eine möglich und das andere unmöglich macht, das Auftakt oder Abschluss der Geschichte ist oder die Krise und der entscheidende Wendepunkt:

Irena Wiśniowska erzählt die Geschichte ihrer Migration als Teil einer von früh auf durchaus weltläufigen Biografie, in der Mangelwirtschaft zur bestandenen Herausforderung wird, die Katastrophe von Tschernobyl aber das Ende einer „fröhliche[n] Kindheit“ signalisiert.40 – Da schlagen in Leningrad Türen für sie zu, doch indem sie sich mit Lena anfreundet, stößt sie andere Türen auf: Sie gewinnt eine auf Jahre bedeutsame Lebensgefährtin. Denn als ihnen in Moskau die ökonomische Basis wegbricht, finden sie gemeinsam eine Lösung im Kleinhandel. – Als sie aber bei der Beschaffung von Waren in Polen ausgeraubt werden und, wieder zu Geld gekommen, bankrottgehen, bleiben sie, wo sie sind: in Krakau. – Im Tandem gelingt es ihnen, die Rückschläge zu verkraften, den „Standards der elterlichen Werte und ihrer Lebenseinstellungen“41 zu entsagen, an sich selbst zu glauben und sich ein eigenes Geschäft und Leben aufzubauen: Einkommen zu erzielen, Freunde zu gewinnen.

Die Erzählung von Irena Wiśniowska erzählt Migration als ein „Doppelereignis aus Pathos und Response“:42 Ihre Migrationsgeschichte ist Widerfahrnis tiefgreifender politischer Umwälzungen und schwerwiegender ökonomischer Probleme in den 1990er Jahren sowie des Zusammenfallens dieser Vorkommnisse mit der Phase ihrer Adoleszenz. Freilich: Was ihr widerfahren ist, das haben wir nur in ihrer Erzählung, nämlich in der Weise, wie sie darauf eingegangen ist und darauf ihre Antwort gegeben hat – und z. B. auch womit sie darauf geantwortet hat, nämlich mit Zähigkeit und viel Arbeit wie mit einer auch verbindlichen Weise mit dem umzugehen, was ihr vorgegeben ist und ihr widerfährt. So nimmt z. B. Irena Wiśniowskas Erzählung ihren Anfang mit etwas, das „vorbei“ ist. Den Auftakt bildet der Hinweis auf den langen Prozess, in dem sie nicht nur sesshaft wurde in Polen und die polnische Staatsbürgerschaft erhielt, sondern in der Verheiratung mit einem polnischen Mann auch ihren ukrainischen Familiennamens abgelegte, ja darüber hinaus durch das Polonisieren ihres Vornamens von „Inna“ in „Irena“, die Friedliche, aufhörte „die andere“ zu heißen.43 Damit wird die Geschichte ihrer Migration zur Geschichte einer Assimilation, bis hinein in die als „selbstverständlich“ deklarierte Konversion zum Katholizismus.44 Dem widerspricht nicht, dass solche Angleichung nicht vollständig gelingt. Es gibt Grade des Gelingens auch in der Assimilation: Konsequent bemüht sie sich, Polnisch zu lernen, es bleibt aber ein Akzent; sie spricht ein Polnisch wie die Menschen in der Grenzregion zur Ukraine.45 Assimilation hat ihren Preis: Der Verwurzelung in Krakau opfert Irena Wiśniowska den regelmäßigen Kontakt zu den Eltern und Verwandten in der Ukraine; und doch vermisst sie diese und alles Russische.46 Assimilation bedeutet, die Asymmetrie in den Beziehungen anzuerkennen, erwartet keine Geschenke, setzt auf die eigene Leistung: „Auf uns hat hier niemand gewartet, und niemand hat uns geholfen. Wir halfen uns selbst [...].“47

Diese wenigen Hinweise genügen aber schon, um zu entdecken: Das Erzählen kennt bestimmte Narrative (narrative Motive). Da ist etwa der Name beziehungsweise die Namensänderung, wofür es mit Irena Wiśniowska und Marcin Wiatr auch gleich zwei pointiert voneinander abweichende Beispiele gibt.48 Darüber hinaus kontrastiert der Assimilation bei Irena Wiśniowska das Bewahren der eigenen Tradition und Identität bei Nikola Erceg. Dieser stellt Wiśniowskas Maxime: „Feiertage sind dann Feiertage, wenn man sie gemeinsam feiert“49, das Lob einer Diaspora-Existenz entgegen, die vom „Kampf um die eigene Identität, Sprache und Schrift“ bestimmt ist50, kommt aber mit ihr vielleicht doch überein im Streben nach einer Trennungen überwindenden Gemeinschaft.51 Ein wichtiges Narrativ ist natürlich das der Herkunft. Es umfasst die u. U. schrittweise Ablösung wie den vielleicht nie endenden Diskurs über eine Rückkehr und das emotionale Verhältnis zum Herkunftsland. Gibt es – wenn meine Deutung stimmt – bei Marcin Wiatr eine Sehnsucht danach, dass das verlassene Land, die Heimat, wieder Heimat werden könne, so findet sich bei Nikola Erceg ein Werben um die Rückkehr von Serben, die im oder nach dem Bosnienkrieg emigriert sind.52 Ein Schwanken spricht aus den Worten Anna Wishiwanjuks,53 heftiges Heimweh bekundet Inga Gevorkyan.54

Das zentrale Narrativ aller Migrationsgeschichten jedoch ist, einen Platz in der Welt finden.55 Dieses Narrativ umfasst Fluchtwege, Reiserouten, Verkehrs- und Transportmittel, Häuser und Wohnungen, Städte und Stadtviertel, aber auch Obdachlosigkeit, Notunterkünfte und Verstecke.56 Dem Mangel an Wohnraum kann die Bedeutung einer Wohnung gegenüberstehen, die diese hat, um Zugang zu einer medizinischen Versorgung zu erhalten oder sich legal in einem Land aufhalten und Arbeit aufnehmen zu können. Wie die Formulierung: Einen Platz in der Welt finden, schon sagt, geht es stets um mehr als nur um Orte und Gebäude. Das Narrativ löst sich zwar nie ab von konkreter Materialität und Lokalität, aber diese markieren Möglichkeiten zu leben und zu handeln: Einen Platz in der Welt finden heißt, es gibt für mich den Ort, wo mir das Recht eingeräumt wird, Rechte zu haben (Hannah Arendt): Sämtliche Notlagen, die Maria Christina Färber und Monika Kleck schildern, verbinden sich mit diesem Moment. Einen Platz in der Welt finden heißt, ich kann mit anderen zusammen tätig sein: Nicht nur bei Irena Wiśniowska, sondern auch bei Rupert Neudeck spielt dies eine prominente Rolle, die nicht deckungsgleich ist mit der oben genannten Arbeit, jedoch nah benachbart dem Motiv der Selbstverwirklichung, das in den so unterschiedlichen Erzählungen von Irena Wiśniowska, Inga Gevorkyan und Nikola Erceg maßgeblich ist.

Die Gewalt – aber auch: Die Flucht vor der Komplizenschaft mit der Gewalt

Dass es Narrative der Migration gibt, heißt natürlich nicht, die Geschichtserzählungen von Migrantinnen und Migranten seien letztlich nur deren Konstruktion, auf der Basis von gewissen Rohdaten. Allerdings unterstreicht es, dass die Erfahrung nicht mit „eigener“ Stimme spricht, Erfahrungen vielmehr zum Ausdruck gebracht werden und dass dabei immer auch schon Ordnungen der Rede und der Wahrnehmung greifen. Insofern (re-)konstruieren Menschen erzählend ihre Geschichte, die ihnen widerfahren ist und die bereits selbst durch vielfältige Handlungsordnungen gefiltert bzw. normalisiert ist.

Solche „Filterung“ und „Normalisierung“ kann durchaus gewaltsame Züge annehmen, z. B. wenn in der deutsche Asylgesetzgebung bestimmte Staaten zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt werden. Was es bedeuten kann, wenn nach § 29a AsylG Asylanträge von Staatsangehörigen solcher Staaten als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt werden, solange die Bewerber dies nicht widerlegen können57, schildern die Berichte von Monika Kleck und Maria Christina Färber.58 Weiterhin zeigt Rupert Neudeck auf, wie das Institut des Asyls zuungunsten von Flüchtlingen ausschlagen kann, wenn und insofern das Asylgesetz sie zu destruktiver „Untätigkeit und Passivität“ verpflichtet, ja wie es den Blick auf heutige Migrationsströme verstellt, weil und insofern Migration immer nur als „Verfolgungsgeschichte“ wahrgenommen wird. Darüber hinaus begegnen wir in den sieben Erzählungen und Berichten vielfältigen Schwellen im Sinne von Grenzzonen, die zögern lassen, in denen niemand sesshaft wird, die eine Art Niemandsland sein können, aber auch ein Todesstreifen,59 und den dunklen Geschichtsstunden, auch Europas, in denen Teile der eigenen Kultur und Tradition abgespalten und verdrängt werden – und zusammen mit ihnen jene Menschen, die sie, meine Fremdheit, verkörpern.60 Denn wer ist nicht heimatlos und nirgends fremd (gewesen)?61 Da ist die „Wohnungszwangswirtschaft“, die ihren Wert hat, weil ein Obdach unabdingbar ist62; da ist das Willkommen frei gewährter Gastfreundschaft63, die nie selbstverständlich ist, obwohl vielleicht alle einen Ort suchen wie das Krakau von Irena Wiśniowska: einen Ort, der der „sich von oben öffnet“, der ebenso mich wählt, wie er von mir gewählt wird.64

Trotzdem: „Unvollständige Zugehörigkeit“ ist der Status des Gastes.65 Er ist derjenige, der von Draußen kommt und als Fremder, Ausgegrenzter, ins Eingegrenzte des Eigenen einbezogen wird. Ist er willkommen, ist es Gastfreundschaft, gibt es einen Rechtstitel für den Aufenthalt, so ist es ein Sonderrecht. Schließlich ist Gast, wer kommt, um nicht zu bleiben. Wer in ansässige Familien einheiratet oder durch Einbürgerung ins Staatsvolk aufgenommen wird, ist deshalb auch nicht länger ein Gast. Wer aber als Gast zu bleiben gedenkt, ist bald unerwünscht. Denn sein Verhalten ist der Gastfreundschaft gegenüber ungebührlich, in der Rechtsordnung aber ein Verstoß – geahndet u. U. mit Abschiebung und (Abschiebungs-)Haft. Es ist offensichtlich nur ein schmaler Grat, der die Aufnahme des Fremden als Gast von seiner Bekämpfung als Feind trennt; und für mich gibt es deshalb eine Flucht, durch die ein analysierend-kommentierendes Sich-Verhalten zu den versammelten Erzählungen und Zeugnissen an sein Ende kommt, aufhört: die Flucht jenes albanischen Jugendlichen, der sich den Gesetzen der Blutrache nicht unterwerfen wollte und der geflohen ist, um nicht zum Komplizen der Gewalt und Feind eines anderen Menschen, um nicht zu seinem Mörder zu werden.66


Fußnoten:


  1. Vgl. Bernhard Waldenfels: In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt (Main). 2. Aufl. 1994, S. 43-51. ↩︎

  2. Der wissenschaftlich übliche Rückverweis auf die unterschiedlichen Erzählungen und Beschreibungen hat deshalb auch den Charakter einer „Rückerstattung“. – Zitiert werden die Texte im Folgenden mit Namenskürzel und Seitenzahl: AW = Anna Wishiwanjuk, CF-MK = Christina Färber und Monika Kleck, IG = Inga Gevorkyan, IW = Irena Wiśniowska, MW = Marcin Wiatr, NE = Nikola Erceg, RN = Rupert Neudeck. ↩︎

  3. Vgl. AW [261, 262 ff., 266], IG [269, 271 f.], IW [252], MW [243]. ↩︎

  4. Vgl. IG [269], IW [255]. ↩︎

  5. Vgl. IW [255-258]. ↩︎

  6. Vgl. CF-MK [282 f.], RN [295 f.]. ↩︎

  7. Vgl. AW [265 f.], IG [268 f.]. ↩︎

  8. Vgl. IG [272 f.]. ↩︎

  9. Vgl. AW [261], IW [254 f.], NE [276-278]. ↩︎

  10. Vgl. MW [243-245, 247]. ↩︎

  11. Vgl. RN [291-295], IW [253], NE [279 f.]. ↩︎

  12. Vgl. AW [263 f.]. ↩︎

  13. Vgl. CF-MK. ↩︎

  14. Vgl. IG [272], CF-MK [288 f.]. ↩︎

  15. Vgl. IW [259 f.], AW [263]. ↩︎

  16. Vgl. RN [295 f.]. ↩︎

  17. Vgl. MW [243], AW [264]. ↩︎

  18. Vgl. IW [256 f.], IG [269, 270 ff.]. ↩︎

  19. Vgl. IG [269], IW [255 f.], NE [279 f.]. ↩︎

  20. Vgl. CF-MK [282 f.]. ↩︎

  21. Vgl. RN [297]. ↩︎

  22. Vgl. CF-MK [282 f.], RN [297]. ↩︎

  23. Vgl. AW [265 f.], RN [297]. ↩︎

  24. Vgl. AW [262, 265 f.]. ↩︎

  25. Vgl. IW [255], IG [268]. ↩︎

  26. Vgl. CF-MK. ↩︎

  27. Vgl. AW [261 f., 263-266], CF-MK [288 f.], IG [271 f.], IW [256 f., 258]. ↩︎

  28. Vgl. AW [261 f.], IG [274], IW [254 f.], NE [276-278]. ↩︎

  29. Vgl. IW [254 f.]. ↩︎

  30. Vgl. IW [253]. ↩︎

  31. Vgl. NE [280 f.]. ↩︎

  32. RN [291]. ↩︎

  33. MW [244]. ↩︎

  34. MW [245]. ↩︎

  35. Vgl. MW [250 f.]. ↩︎

  36. Vgl. ebd. ↩︎

  37. Vgl. Bernhard Waldenfels: Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung. Berlin 2015, S. 196-209. ↩︎

  38. Zum Hintergrund vgl. Paul Ricœur: Zufall und Vernunft in der Geschichte. Aus dem Französischen von Helga Marcelli. Tübingen 1986. ↩︎

  39. Ebd., S. 16, 14. ↩︎

  40. IW [255]. ↩︎

  41. IW [255, 257 f.]. ↩︎

  42. Waldenfels, Sozialität (wie Anm. 37), S. 20. ↩︎

  43. Vgl. IW [252]. ↩︎

  44. Vgl. IW [259]. ↩︎

  45. Vgl. IW [258 f., 252]. ↩︎

  46. Vgl. IW [260]. ↩︎

  47. IW [260]. ↩︎

  48. S.o. ↩︎

  49. IW [259]. ↩︎

  50. NE [280]. ↩︎

  51. NE [281]. ↩︎

  52. Vgl. NE [281]. ↩︎

  53. Vgl. AW [261 f.]. ↩︎

  54. Vgl. IG [269, 272 f.]. ↩︎

  55. Vgl. IW [252], NE [281]. ↩︎

  56. Hier und bei den folgenden Momenten nimmt die Ubiquität möglicher Belege in allen Texten einzelnen Nachweisen ihren Sinn. ↩︎

  57. Wird der Antrag abgelehnt, bleibt nur eine Woche Zeit, dagegen zu klagen; zusätzlich muss innerhalb derselben Frist ein Eilantrag gestellt werden (vgl. §§ 74 Abs. 1, 36 Abs. 3 S. 1 AsylG; § 80 Abs. 5 VwGO). Ohne Eilantrag und bei Ablehnung kann die Abschiebung vollzogen werden, auch wenn über die Klage noch nicht entschieden ist. ↩︎

  58. Vgl. insbes. CF-MK. ↩︎

  59. Vgl. NE [279 f.]. ↩︎

  60. Vgl. MW [243-245, 247]. ↩︎

  61. Vgl. Dtn 26,5-11. ↩︎

  62. Vgl. RN [294]. ↩︎

  63. Vgl. IG [273]. ↩︎

  64. Vgl. IW [252 f.]. ↩︎

  65. Waldenfels, Sozialität (wie Anm. 37), S. 305. ↩︎

  66. Vgl. CF-MK [289 f.]. – Ausgeschlossen ist im Übrigen nicht, dass dieser Wunsch und Wille auch Nikolaj G. bestimmt und er sich deshalb der Rekrutierung zum Kriegsdienst und jeglicher Verwicklung in die Auseinandersetzung im Bezirk von Lugansk im Osten der Ukraine zu entziehen sucht; vgl. AW [266 f.]. ↩︎