Globale Umbrüche, Flucht und Migration als europäische Herausforderungen

aus OWEP 4/2016  •  von Alois Glück

Alois Glück (geb. 1940) ist seit seiner Jugend in Politik, Kirche und Gesellschaft tätig. Zwischen 1970 und 2008 war er für die CSU Mitglied des Bayerischen Landtags (2003 - 2008 Landtagspräsident). Zwischen 2009 und 2015 war er Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.

Zusammenfassung

Die Verunsicherung der europäischen Staatengemeinschaft angesichts von hunderttausenden Menschen, die sich auf den Weg nach Europa machen, ist Symptom einer Krise, die an das Selbstverständnis der Wertegemeinschaft Europa rührt. Eine „Festung Europa“ kann nicht das Ziel sein. Wie der folgende Beitrag zeigt, ist in der Flüchtlingsfrage gemeinsames europäisches Handeln das Gebot der Stunde.

„60 Millionen Flüchtlinge auf unserem Planeten Erde schreien die Ungerechtigkeit der Welt förmlich heraus. Wir müssen endlich begreifen, dass wir die Herausforderungen auf unserem Planeten nur gemeinsam oder gar nicht lösen können. Wir sitzen sprichwörtlich alle in einem Boot! Es gibt nicht mehr länger eine erste, zweite oder dritte Welt. Es gibt nur noch eine Welt, für die wir gemeinsam Verantwortung tragen!“ Mit diesen Worten hat Bundesentwicklungsminister Gerd Müller schon zu Beginn des Jahres 2015 und dann immer wieder auf die reale Situation in dieser Welt und die damit verbundenen Konsequenzen hingewiesen.

Die politische und gesellschaftliche Realität hat Papst Franziskus zutreffend beschrieben, wenn er von der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ spricht. Solange wir Europäer von dieser Entwicklung in der Welt nicht unmittelbar betroffen waren, waren wir mehr oder minder betroffene Zuschauer, haben uns Bilder von ertrunkenen Flüchtlingen und den Tragödien im Mittelmeer für den Moment betroffen gemacht, aber nicht mobilisiert.

Aufgewacht sind wir erst, als die Menschen zu uns kamen, uns mit ihrer Not konfrontierten. Die Flüchtlinge und Migranten haben dann bei uns in Deutschland die Stärken und die Schwächen in unserer Gesellschaft mobilisiert und offen gelegt. Die Stärken einer kaum für möglich gehaltenen Welle des Engagements von Menschen für die Flüchtlinge und Migranten, die Entfaltung einer „Willkommenskultur“ in Deutschland, die beispiellos ist; ebenso aber auch die Freisetzung von Hass, feindseligem Verhalten, Verrohung und Gewalt in der Sprache und im Handeln. Die plötzlich so große Zahl von Menschen, die in ihrer Not zu uns kommen, hat uns unvorbereitet getroffen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es so formuliert: „Wenn ich könnte, würde ich die Zeit um viele, viele Jahre zurückspulen, um mich mit der ganzen Bundesregierung und allen Verantwortungsträgern besser vorbereiten zu können auf die Situation, die uns im Spätsommer 2015 eher unvorbereitet traf.“1

Wenn wir die Entwicklungen begreifen wollen, müssen wir in die Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zurückblicken. Der ganze Westen träumte davon, dass nun ein weltweiter Siegeszug von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat beginnt. Diesen Traum haben wir weiter gepflegt, als längst andere Entwicklungen im Gang waren. Wir haben die Wirklichkeiten lange verdrängt. Darauf haben wir auch europäische Regelungen und die Weiterentwicklung der Europäischen Union gebaut, gewissermaßen unter „Schönwetter-Bedingungen“ mit Regeln wie den Abkommen von Dublin und Schengen, die jetzt nicht funktionierten.

Unvorbereitet, das gilt nicht nur für die Bundesregierung, es gilt für die ganze Europäische Union und letztlich für uns alle. Aber jetzt können wir die Situation nicht mehr verdrängen.

Gemeinsames europäisches Handeln

Jetzt sind Klärungsprozesse über unsere Maßstäbe, unsere Einstellungen, unsere Wertorientierung für das Handeln unausweichlich und dringlich. Vor allem ist nach der Phase der Sofortmaßnahmen für die ankommenden Flüchtlinge und Migranten nun ein gemeinsames europäisches Handeln in der ganzen Bandbreite der notwendigen kurzfristigen und langfristigen Maßnahmen zwingend notwendig. Das ist nun die große Herausforderung, der große Prüfstein für die Völker und die Politik der Europäischen Union, die schon vor der „Flüchtlingskrise“ immer mehr auseinander driftete. Seit einigen Jahren entwickelt sich die Europäische Union immer mehr auseinander. Es zeigt sich, dass die kulturellen, die sozialen und die historischen Prägungen in den einzelnen Ländern eine weit größere innere Vielfalt haben und die Unterschiede weit größer sind, als bislang angenommen.

Diese Krisensituation der gemeinsamen europäischen Politik ist eng verwoben mit inneren Krisen verschiedener Ausprägungen in den Gesellschaften der meisten Mitgliedsländer und mit einer globalen Vertrauenskrise.

In einer solchen Situation des Umbruchs sind vor allem einige Grundeinsichten und gemeinsame Maßstäbe für das Handeln dringlich. Dafür haben wir gerade auch als Christen eine Bringschuld. Das dürfen wir nicht den demagogischen Vereinfachern, den Populisten linker oder rechter Prägung überlassen. Wir müssen die Ängste, etwa vor Verlust der eigenen Identität, vor „Überfremdung“, vor Fremdbestimmung durch anonyme zentrale Kräfte, ernst nehmen und dafür andere Antworten entwickeln als die Nationalisten.

Zu diesen Grundeinsichten gehört zunächst und vor allem, dass Europa keine isolierte ruhige Insel innerhalb einer zunehmend unruhigen Welt sein kann. In allen ökonomischen und technischen Entwicklungen dieser Zeit sind wir Europäer eng auf die Zusammenarbeit mit anderen Völkern, Ländern und Kontinenten und politischen Systemen sehr unterschiedlicher Art angewiesen. Vor allem der Wohlstand in Europa hat eine wesentliche Quelle in der Arbeit vieler Menschen und in den Rohstoffquellen in anderen Regionen dieser Erde. Wir können aber nicht – und dürfen auch nicht in unseren Erwartungen – nur Nutznießer dieser Globalisierung sein. Die notwendige Einsicht ist, dass wir immer mehr und immer enger eine weltweite Schicksalsgemeinschaft sind. Das gilt eben nicht nur in der Ökonomie oder für den Klimawandel, es gilt auch für die politischen Krisen und ihre Folgen. Die Flüchtlinge dokumentieren diese Wirklichkeit.

Der Antwort Europas kann nicht das Ziel einer „Festung Europa“ sein. Die Antwort kann auch nicht die Alternative „Abschreckungskultur“ statt „Willkommenskultur“ sein. Das wäre eine moralische Bankrotterklärung für das „christliche Abendland“, für eine Europäische Union, die sich gerne als Wertegemeinschaft definiert.

Für eine wertorientierte europäische Politik können nur Maßnahmen infrage kommen, die nach den europäischen Maßstäben von Recht und Gesetz, nach den Maßstäben der Menschenwürde vertretbar sind. Unsere Mitverantwortung und Solidarität für Menschen in Not endet auch nicht an unseren Landesgrenzen oder an den Außengrenzen der Europäischen Union. Gewiss können wir nicht alle Not leidenden Menschen in Europa aufnehmen. Menschen, deren Leben und deren Existenzgrundlagen durch die Kriege im Umfeld von Europa vernichtet sind, müssen wir wirksam helfen. Weil zwar unser Wille zur Hilfe nicht begrenzt ist – hoffentlich! –, aber unsere Möglichkeiten, sind entsprechende Prioritäten notwendig. Dies darf aber nicht zur wohlfeilen Entschuldigungsformel für Abwehrmaßnahmen werden. Unsere Mitverantwortung und unsere Solidarität für Menschen in Not verlangen, dass wir das uns Mögliche tun, Anstrengungen und Belastungen auch auf uns nehmen. Dies gilt nicht nur für die Aufnahme in unserem Land und für den Umgang mit diesen Menschen, es gilt auch für entsprechende Maßnahmen in den Herkunftsländern. Ganz besonders gilt dies für die bei gutem Willen rasch realisierbaren Verbesserungen für die Lebenssituation der Menschen in den riesigen Flüchtlingslagern im Umfeld von Syrien, in Jordanien, im Libanon und auch in der Türkei. Das ist ein Gebot der Solidarität, aber auch der Klugheit. Wenn mit den weiteren Entwicklungen in Syrien die Strukturen in diesen Ländern überlastet werden und zusammenbrechen, werden wir in Europa mit einer Fluchtbewegung konfrontiert werden, die weit größer sein wird als die von 2015.

Für die Verteilung der Flüchtlinge in Europa wird immer wieder europäische Solidarität eingefordert. Das ist richtig und notwendig, gleichzeitig müssen wir aber auch die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Bedingungen in den einzelnen Ländern ernst nehmen. Dies darf aber wiederum nicht zu Maßstäben und Entscheidungen führen, die dem Anspruch der Würde des Menschen nicht gerecht werden und noch weniger christlichen Maßstäben. Einen entsprechenden Klärungsbedarf, eine entsprechende klärende Debatte und auch kritische Auseinandersetzung, braucht es auch innerhalb der Kirchen in Europa.

Bei der Diskussion um die notwendige Solidarität dürfen wir auch nicht einseitig nur auf die Mitgliedsländer in Mittel- und Osteuropa blicken. Auch wir in Deutschland haben uns unter Berufung auf das Dublin-Abkommen über die Registrierung und den Aufenthalt von Flüchtlingen und Migranten auf die rechtlichen Verpflichtungen der Länder im Süden Europas verlassen. Solidarisches Handeln in Europa begrenzt sich auch nicht auf die entsprechende Verteilung der Flüchtlinge. Die einzelnen Länder können genauso in anderer Weise, im Rahmen der vielfältigen Aufgaben, ihren Beitrag einbringen. Dafür braucht es Gesprächsbereitschaft und auch Einfühlungsvermögen.

Afrika – Schicksalsfrage für Europa

Darüber hinaus gibt es eine weitere große Dimension, die Entwicklung in Afrika. Schon der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat immer wieder darauf verwiesen, dass Afrika die Schicksalsfrage für Europa wird. In den meisten afrikanischen Ländern sind mehr als 50 Prozent der Menschen jünger als 25 Jahre, für 2050 wird eine Verdoppelung der Bevölkerungszahl prognostiziert. Wenn diese Menschen nicht eine Zukunftsperspektive haben, die ihnen eine menschenwürdige Existenz ermöglicht, haben sie nichts mehr zu verlieren und werden sich entsprechend entschlossen auf den Weg machen.

Hier wird aber besonders drastisch deutlich, was generell für die gesamte westliche Welt und eben besonders auch für Europa unausweichlich notwendig wird: eine ehrliche Auseinandersetzung über die Fluchtursachen und über die damit verbundenen Konsequenzen. Das ist und wird ein sehr unbequemes Thema. Wir brauchen eine ehrliche Diskussion über die Auswirkungen unseres Lebensstils auf die natürlichen Lebensbedingungen in solchen Regionen. Deshalb müssen wir die Regeln des Welthandels ehrlich debattieren, die Ausbeutung ganzer Regionen durch den Abbau von wichtigen Rohstoffen für unsere Entwicklung und die teilweise katastrophalen Folgen für die Lebensräume und für die Ausbeutung der Menschen. Ein zentrales Problem für die Situation und die Entwicklung in Afrika ist die Korruption in den Wirtschaftssystemen, in der Gesellschaft und in der Politik. Auch hier können nur gemeinsame Maßstäbe und gemeinsames Handeln der Europäer zu entsprechenden Veränderungen wirksam beitragen. Europa braucht schon aus Eigeninteresse eine gemeinsame politische Strategie für die Entwicklung dieses bisher weitgehend vernachlässigten Kontinents. Europa braucht also nicht nur eine gemeinsame Flüchtlingspolitik, sondern auch eine koordinierte und damit gemeinsame Afrikapolitik. Wegen der verschiedenen historischen Entwicklungen und Eigeninteressen war dies bislang ein mehr oder minder aussichtsloses Unterfangen. Es geht um eine neue Dimension von Weitsicht, von solidarischem Handeln. Wer dafür nicht ansprechbar ist, sollte bedenken, dass es letztlich aus eigenem Interesse um eine entsprechende Zukunftsvorsorge geht.

Christliche Verantwortung

Bei den Diskussionen und Entscheidungen um die richtigen Maßnahmen, um die Möglichkeiten und Grenzen unseres Handelns, können Christen selbstverständlich zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen.

Für Christen kann aber nicht zur Disposition stehen der Maßstab der Würde des Menschen und die damit verbundenen Schlussfolgerungen. Im Alltag ist dies der Respekt vor anderen Menschen, unabhängig von Rasse, Alter, Leistungskraft oder Hilfsbedürftigkeit. Dies gilt ebenso für Menschen anderer kultureller und religiöser Prägung. Dazu gehört auch eine entsprechend differenzierte Auseinandersetzung mit den Entwicklungen im Islam.

Die tiefgreifenden und umfassenden Veränderungen in unseren Gesellschaften und in den weltweiten Entwicklungen zwingen uns zu einem Lernprozess, zu Abwägungen und notwendigen Entscheidungen. Als Christen haben wir dafür kein Patentrezept. Aber wir haben gerade in so unübersichtlichen und stürmischen Zeiten Orientierungen für unseren Weg und unseren Beitrag. Dieser Verpflichtung können wir nicht ausweichen. Dafür brauchen wir die Verbindung von Wertmaßstäben, Sachkompetenz und Engagement mit langem Atem.


Fußnote:


  1. Pressekonferenz am 19.09.2016; vgl. dazu z. B. http://www.n-tv.de/politik/Merkel-raeumt-Fehler-bei-Fluechtlingspolitik-ein article18676371.html (Link mittlerweile inaktiv!). ↩︎