Der Dienst der Kirche in russischen Gefängnissen

(Fallbeispiel)
aus OWEP 2/2014  •  von Alexander Stepanov

Erzpriester Alexander Stepanov ist Vorsitzender der Abteilung für Wohltätigkeit der Sankt Petersburger Diözese und Vorsteher der Kirche des Hl. Märtyrers „Johannes des Kriegers“ im Jugendgefängnis Kolpino.

Zusammenfassung

Trotz mancher Fortschritte muss man die Situation der Häftlinge im russischen Strafvollzug generell als „schwierig“ kennzeichnen. Noch immer steht „Bestrafung“ an erster Stelle, gefolgt von „Umerziehung“, und erst ganz allmählich gewinnen Konzepte zur Resozialisierung an Boden. Besonders betroffen sind jugendliche Häftlinge. Die orthodoxe Kirche engagiert sich, wie der Beitrag zeigt, seit mehr zwanzig Jahren in den Gefängnissen, doch neben einzelnen Erfolgen gibt es immer wieder Rückschläge.

Bevor ich den Dienst der Kirche in den Gefängnissen beschreibe, möchte ich zunächst in wenigen Strichen skizzieren, was das Gefängnis im heutigen Russland darstellt, denn seine Besonderheiten prägen wesentlich die Stellung des Geistlichen im Gefängnis und stellen ihn vor besondere Aufgaben. Die Grundzüge des Strafvollzugs gehen auf die sowjetische Zeit zurück.1 Charakteristisch ist dabei die Unterbringung der Strafgefangenen in Besserungsanstalten, so genannten Kolonien, mit durchschnittlich 1.000-2.500 Insassen in Wohngemeinschaften von 50-100 Personen. Die Häftlinge verfügen über größere oder geringere Bewegungsfreiheit auf dem Territorium der Kolonie (je nach der Strenge der Gefängnisordnung), sie werden zwangsweise zur Arbeit herangezogen, ihr Alltag wird von einer verhältnismäßig geringen Zahl von Aufsichtspersonen überwacht.

Erfahrung alltäglicher Brutalität im Gefängnissystem

In allen Straflagern ist der Alltag ziemlich trostlos. Es herrscht eine Hackordnung vor, unter der die körperlich schwächsten Häftlinge am meisten zu leiden haben. Besonders schwierig wirkt sich das auf jugendliche Häftlinge aus; da ich bereits seit 18 Jahren in der Kolonie von Kolpino unweit bei Sankt Petersburg Dienst tue, kenne ich die verheerenden Folgen dieses Systems. In sich verfügt es sogar über eine gewisse Logik, nach außen hin wirkt es vernünftig, effektiv, wirtschaftlich, d. h. in seiner Art vollkommen. Aber es fällt schwer, seinen zersetzenden Einfluss auf alle Beteiligten einzuschätzen.

Jugendliche Häftlinge in Kolpino (Foto: Renovabis-Archiv)

Erniedrigung, Verhöhnung und Prügel sind die täglichen Begleiter des Lebens im Jugendgefängnis. Das Fehlen einer offensichtlich notwendigen besonders strengen Kontrolle des nächtlichen Lebens in den Jugendgefängnissen lässt sich nur damit erklären, dass die Verwaltung ein solches „Erziehungssystem“ bewusst aufrecht hält. Während im Gefängnis für Erwachsene der gewöhnliche Gefangene eine für ihn mehr oder minder akzeptable Nische für seine Existenz finden und für sich allein leben kann, ohne sich in fremde Angelegenheiten einzumischen, indem er dabei alle geschriebenen und ungeschriebenen Regeln des Gemeinschaftslebens beachtet, ist dies im Jugendgefängnis praktisch unmöglich: Man wird dich unbedingt „vereinnahmen“, wird dich zwingen, entweder dich den Stärkeren zu unterwerfen, Prügel und Erniedrigungen zu erdulden oder selbst eine höhere Stufe in der Hierarchie einzunehmen und den eigenen Status durch bestialische Grausamkeit gegenüber Schwächeren zu bestätigen.

Die Jugendlichen leben in einem Stresszustand, in der ruhelosen Erwartung eines plötzlichen Überfalls in vollem Umfang (vonseiten der Verwaltung ebenso wie vonseiten der Zellengenossen). Es ist offensichtlich, dass alle verunstaltet werden: die Peiniger wie die Opfer. So ist es nicht erstaunlich, dass die Rückfallquote bei den ehemaligen Häftlingen der Jugendstraflager außerordentlich hoch ist, wobei die Schwere des Verbrechens von Mal zu Mal zunimmt.

„Besserungsanstalten“ und „Erziehungsanstalten“

Unsere Straflager heißen „Besserungsanstalten“ für Erwachsene und „Erziehungsanstalten“ für Jugendliche. Bis vor kurzem wurden diese Bezeichnungen durch den Begriff „Arbeits“- mit Bindestrich ergänzt. Das entspricht noch immer der sowjetischen Vorstellung, derzufolge Arbeit der beste Erzieher sei. Mit dieser Arbeit ergaben sich in der Zeit der Perestroika Probleme. Damit wenden uns dem Problem der Erziehung und Umerziehung zu, die als Hauptziel des Freiheitsentzugs für Kriminelle gelten. Dahinter steht die Annahme, dass der Straftäter, der seine Strafe verbüßt hat, umerzogen wird und als nützliches und gesetzestreues Mitglied in die Gesellschaft zurückkehrt. Nach Angaben des Innenministeriums wurden in der Zeit von Januar bis April 2013 48 Prozent der Straftaten von Personen verübt, die schon eine Freiheitsstrafe verbüßt hatten (und wie viele Vorbestrafte kamen davon, indem sie die Tat nicht Vorbestraften unterschoben?). Der Anteil der Minderjährigen an der Gesamtzahl beträgt konstant 3 Prozent, wobei jeder Vierte besonders gefährliche Rückfalltäter und jeder Fünfte zu lebenslänglicher Haft Verurteilte ehemaliger Zögling der Erziehungsanstalten für Jugendliche ist. Im Gefängnis für Erwachsene lautet die gewöhnliche Charakteristik für Ehemalige aus dem „Knast für Minderjährige“: besonders aggressiv, besonders zynisch, besonders grausam. Das sind die Früchte der Erziehungsarbeit im Gefängnissystem!

Dabei ist das bisher Gesagte beileibe nicht alles. Die Erziehungsaufgabe wird deklariert, aber nicht ernsthaft als Ziel angestrebt. Es genügt ein Blick auf die Kennziffern der Erziehungstätigkeit, nach denen dieser Bestandteil der Arbeit der Einrichtung bewertet wird. Als vernünftiger Maßstab könnte einerseits eine Statistik der Rückfälligkeit der entlassenen Häftlinge der verschiedenen Straflager gelten und andererseits die Anzahl derer, die einen Arbeitsplatz gefunden oder eine Familie gegründet haben, d. h. deren Sozialisation gelungen ist. Die Sammlung von Informationen über Gesetzesverstöße im Wiederholungsfall bereitet keine Schwierigkeiten. Sie werden festgehalten und bei jeder folgenden Urteilsverkündung berücksichtigt. Man muss nur den vorangegangenen Freiheitsentzug der konkreten Anstalt zuordnen, wo der Rückfalltäter seine Strafe verbüßt hat. Stattdessen rechnet man die Anzahl der psychologischen Abteilungen in der Anstalt zu den erzieherischen Merkmalen, ebenso die Zahl der fest angestellten Psychologen, die Zahl der abgehaltenen erzieherischen Beratungen und ähnliches mehr. Dabei müssen diese Merkmale auf dem Papier vorhanden sein, im Rechenschaftsbericht. Das wichtigste Produkt, das von den Erziehungsabteilungen hervorgebracht wird, sind Berichte. Der reale Vollzug dieser oder jener Maßnahmen interessiert kaum jemanden, und die Qualität und Effektivität will erst recht keiner bewerten. Das System ist ganz auf sich selbst fixiert, seine Aufgabe besteht darin, während des Aufenthalts eines Gefangenen in der Anstalt Exzesse zu vermeiden, doch was aus ihm später wird, darum kümmert sich der FDSV2 nicht.

Wenn der Häftling sich dem Gefängnissystem nicht einfügen will, sei es aus irgendeinem persönlichen Motiv, wegen seiner grundsätzlich kriminellen Haltung oder aber weil er versucht, die ihm gesetzlich zustehenden Rechte zu behaupten, muss er „gebrochen“ werden. Dieser Begriff umfasst die Gesamtheit der Zwangsmaßnahmen gegen die widerspenstige Person vonseiten der Verwaltung wie auch des „Aktivs“3, das von dieser angeleitet wird. Das hat zur Folge, dass im Gefängnis nicht ein Mensch herangezogen wird, der zu einem normalen Leben in der Freiheit fähig ist, sondern der „ideale Häftling“, d. h. ein Mensch, der sich möglichst gut an das Leben im Gefängnis angepasst hat, an jenes System von Beziehungen also, das dort heute herrscht. Genau solche Menschen empfängt die Gesellschaft nach Verbüßung ihrer Strafe. Selbst dann, wenn ein Mensch nur durch Zufall ins Gefängnis geraten ist, nimmt er dort solche Gewohnheiten an, die ihn für die Gesellschaft gefährlicher machen, als er es meist vor Verbüßung der Strafe gewesen ist.

Der Einsatz von Geistlichen in Gefängnissen

Aus dem bisher Gesagten wird begreiflich, in welche moralisch zweideutige Situation der Geistliche gerät. Nach kurzem Aufenthalt im Gefängnis begreift er, dass das ganze System des Strafvollzugs von Gesetzlosigkeit und Grausamkeit durchdrungen ist. Die einfachen Mitarbeiter geben im Gespräch die Fehlerhaftigkeit des Systems zu, aber sie sind nicht in der Lage, etwas zu ändern, sie sind vielmehr genau so seine Geiseln wie die Häftlinge. Als Militärangehörige sind sie verpflichtet, die Befehle der Vorgesetzten auszuführen, und sie sind darüber hinaus durch die gegenseitige Bürgschaft im Kollektiv gebunden. Gegen das System aufzutreten, bedeutet so viel wie seinen Kameraden Schaden zuzufügen und die korporativen Interessen zu verraten. Auf die Häftlinge selbst kann sich der Geistliche, wenn er sich für deren Rechte einsetzt, auch nicht stützen. Da sie unter starkem Druck stehen, werden sie ihre Anschuldigungen vor Gericht oder in einem Ermittlungsverfahren niemals aufrecht erhalten. Schließlich bleibt dem Geistlichen nichts anderes übrig, als sich dem System anzupassen, zu beten und zu versuchen, das Leid der Menschen durch Mitgefühl und Rat zu erleichtern – ihnen zu helfen, im Glauben eine Stütze zu finden, und die Hoffnung auf ein besseres künftiges Leben in der Freiheit einzupflanzen.

Das sowjetische Gefängnis war ein völlig geschlossenes System, und es begann erst in der Zeit der Perestroika seit dem Ende der achtziger Jahre, sich zu öffnen. Damals besuchten die ersten Geistlichen auf Initiative der Häftlinge selbst und unter Mitwirkung der Verwaltung die Gefängnisse. Im Laufe der neunziger Jahre wurde der Besuch von Geistlichen der Russischen Orthodoxen Kirche zu einer regelmäßigen Erscheinung, zwischen dem Patriarchat und dem FDSV wurden Vereinbarungen über die Zusammenarbeit unterzeichnet, fast in allen Anstalten des FDSV wurden Kirchen oder Kapellen eingerichtet, von denen viele eigene Gebäude darstellen, die unter aktiver Mitwirkung der Häftlinge selbst und mit Unterstützung der Verwaltung gebaut wurden (insgesamt 437). Jeder solchen Kirche ist ein Geistlicher zugeordnet, der die Anstalt regelmäßig besucht. Wie schon angedeutet, unterscheiden sich die Verhältnisse in den Strafanstalten für Erwachsene erheblich von denen für Jugendliche; deshalb sollen sie im Folgenden gesondert behandelt werden.

Charakteristisch für die Straflager für Erwachsene ist das Interesse der Häftlinge selbst am kirchlichen Leben: Groß ist das Bedürfnis nach Reue, es gibt das Bestreben, eine neue Orientierung im Leben zu finden. Gewöhnlich bildet sich rund um die Kirche eine Gemeinde der aktivsten Häftlinge, die sich bemühen, keinen Gottesdienst zu versäumen, möglichst viel mit dem Geistlichen zu kommunizieren und die Sakramente zu empfangen; sie studieren aufmerksam die geistliche Literatur und lesen die kirchlichen Periodika. Um das Leben der Gemeinde zwischen seinen Besuchen zu organisieren, bestimmt gewöhnlich der Geistliche den Ältesten aus dem Kreis der Eifrigsten, Belesensten, der bei seinen Mitbrüdern Autorität genießt. Ihm obliegt es, für Ordnung in der Kirche zu sorgen (wo er oft auch untergebracht wird), ein tägliches Gebet morgens und abends und, wenn möglich, auch tagsüber zu veranstalten, Bücher aus der kirchlichen Bibliothek auszuleihen, alles Nötige für den Gottesdienst vorzubereiten. Da sich im Straflager für Erwachsene die Insassen innerhalb der Kolonie mehr oder minder frei bewegen können, können alle, die es wünschen, in der arbeitsfreien Zeit in die Kirche kommen. Da die Mehrzahl der Lager nicht alle Häftlinge in der Produktion beschäftigt, können viele fast den ganzen Tag im Bereich der Kirche verbringen. Das Morgengebet findet meist vor der Kontrolle statt, sodass man ziemlich früh aufstehen muss, um in die Kirche zu kommen. Nach der Arbeit können sich die Gläubigen ebenfalls in der Kirche versammeln, um eine Abendandacht und später ein Nachtgebet abzuhalten. In der Zeit zwischen den Gebeten und der Arbeit versammeln sich die Mitglieder der Gemeinde häufig bei der Kirche, trinken zusammen Tee, erörtern, was sie im Evangelium oder in der geistlichen Literatur gelesen haben. Der Eifer in der Frömmigkeit, der Wunsch, das christliche Ideal im Alltagsleben zu verwirklichen, übertrifft manchmal bei weitem das Niveau, das man in der Freiheit beobachten kann. So erinnert die Lebensweise der gläubigen Häftlinge an das Leben im Kloster. Diese Lebensweise wiederholt sich ziemlich beständig in allen Gefängnissen für Erwachsene.

Nach meiner zehnjährigen Erfahrung als Priester in einer Haftanstalt für Erwachsene kann ich bezeugen, dass der Kirchendienst im Gefängnis durchaus ernsthafte positive Resultate auch nach der Entlassung zeitigt. Manche Priester errichten für die entlassenen Häftlinge Rehabilitationszentren. Zwar haben sie in der Regel keine ausgeprägten Rehabilitationsprogramme, aber für Menschen, die aus dem Gefängnis kommen und die elementarsten Lebensgewohnheiten einer normalen Gesellschaft verloren haben, erweist sich sogar ein kurzer Aufenthalt in einem solchen Zentrum in der Obhut eines Priesters als äußerst nützlich und heilsam. Es ist kein Zufall, dass die meisten Verbrechen von Rückfalltätern im ersten Jahr nach der Haftentlassung zu verzeichnen sind. Eine Festigung der Praktiken des kirchlichen Lebens, die im Gefängnis erworben wurden, erweist sich als äußerst produktiv für das weitere kirchliche Leben des ehemaligen Häftlings.

Gegenwärtig verrichten die meisten Priester den Kirchendienst im Gefängnis auf freiwilliger Basis. In der Regel ist die Kirche „in der Freiheit“ die eigentliche Dienststelle, von der auch das Gehalt bezogen wird. Seit einigen Jahren wird nun über die Einführung eines Stabs von Gefängniskaplänen diskutiert, die sich gänzlich dem Kirchendienst im Gefängnis widmen sollen. Seit 2010 wird in einigen russischen Bezirken ein Experiment durchgeführt, das den Priester in den Mitarbeiterstab der Anstalt einbindet. Ein Vorteil besteht zweifellos darin, dass der Priester ständig in der Haftanstalt gegenwärtig ist und die Möglichkeit hat, seine Arbeit unter den Mitarbeitern durchzuführen, sodass er mehr Verantwortung für seinen Dienst empfinden wird. Als Nachteil empfinde ich eine unvermeidliche psychische Persönlichkeitsdeformation des Priesters infolge des ständigen Aufenthalts im Milieu der Haftanstalt. Ferner hat ein solcher Priester keine Möglichkeit, Ehrenamtliche aus seiner Kirchengemeinde für seinen Dienst einzusetzen. Außerdem verliert er die Unabhängigkeit von der Verwaltung der Haftanstalt, die jederzeit geneigt ist, ihn für ihre Zwecke zu benutzen. In diesem Fall werden die Häftlinge den Priester als Teil des ihnen feindlich gesinnten Gefängnissystems empfinden. Das führt zum Vertrauensverlust gegenüber dem Priester und damit auch gegenüber der Kirche als solcher. Deshalb bin ich geneigt, die Idee der Unabhängigkeit des Priesters vom Gefängnissystem als bessere Lösung anzunehmen, wobei der Priester seinen Dienst sowohl in der Haftanstalt als auch in einer gewöhnlichen Kirche tut.

Anforderungen an den Geistlichen im Jugendgefängnis

Eine grundlegend andere Situation erwartet den Priester im Jugendgefängnis. Im Gegensatz zum Gefängnis für Erwachsene können die Häftlinge sich nicht individuell im Territorium bewegen (sie bewegen sich in Abteilungen, in Reih' und Glied unter Gesang). Sie können sich nicht nach Belieben ihrer Abteilung versammeln. Es wäre auch höchst unvernünftig, einer Gruppe von Jugendlichen die Möglichkeit zu geben sich zu versammeln, ohne dass sie von Erwachsenen beaufsichtigt würden. Außerdem ist ihre Zeit untertags voll besetzt: morgens die Arbeit in einem Betrieb, am Nachmittag Schule oder sonstige Ausbildung. Unter solchen Umständen ist es völlig unmöglich, eine Gemeinschaft nach dem Vorbild des Erwachsenengefängnisses zu schaffen. Andererseits erfordert die Arbeit mit Jugendlichen eine Kontinuität, seltene Treffen sind unproduktiv. Und hier stellt sich unweigerlich die Frage nach der Mitarbeit von Ehrenamtlichen, die mehrmals in der Woche das Jugendgefängnis besuchen könnten. Wenn diese Besuche einen regelmäßigen Charakter annehmen, ist die Verwaltung meist zu einem Entgegenkommen bereit: Sie befreit die an solchen Treffen Interessierten von den üblichen Veranstaltungen und gibt den kirchlichen Volontären die Möglichkeit, mit einer Gruppe zu arbeiten.

Besonders gut haben sich verschiedene künstlerische Werkstätten bewährt. Wenn sich eine solche kleine Gruppe mit Zeichnen, Kunst, Handwerk, Theateraufführungen usw. beschäftigt, entstehen in der Regel ein guter Kontakt und ein Vertrauensverhältnis zum Erwachsenen, der diesen Unterricht durchführt. Als Beispiel möchte ich das Kunststudio anführen, das seit über zehn Jahren von einem Ikonenmaler aus meiner Kirchengemeinde im Jugendgefängnis Kolpino geleitet wird. Mit großem Vertrauen erzählten ihm die Jugendlichen über ihr Leben und davon, was in der Haftanstalt vor sich geht. Der Maler ist für diese Kinder ein Mensch aus einer anderen Welt. Allein schon der Kontakt mit ihm eröffnet ihnen ganz neue Lebenshorizonte.

Da bei diesen Jugendlichen das Interesse an weltanschaulichen Fragen und insbesondere am geistigen Leben noch kaum vorhanden ist, sind Gespräche über Themen, die sie interessieren, am produktivsten; dabei kann man solche Gespräche anknüpfen, z. B. an einen Film, den man gemeinsam angeschaut hat. Außerdem führt einer unserer Psychologen bereits seit einigen Jahren wöchentliche Trainingsstunden zur Abhängigkeitsprophylaxe durch. Einmal im Monat wird in unserem Jugendgefängnis die Beichte abgenommen mit anschließender Liturgie und Abendmahl. Zum Gottesdienst kommen für gewöhnlich mehr als die Hälfte der Straftäter (es sei bemerkt, dass ein durchschnittliches Jugendgefängnis heutzutage nicht mehr als 100 Häftlinge beherbergt).

Man darf jedoch nicht vergessen, dass diese ganze Arbeit vor dem Hintergrund all dessen, was oben geschildert wurde, durchgeführt wird. Jene hohen christlichen Prinzipien, die wir in der Kirche predigen, werden im Alltag der Jugendlichen ständig mit Füßen getreten, und zwar infolge der Gleichgültigkeit, Nachlässigkeit und bisweilen auch auf direkte Anweisung der Verwaltung. Dieser Umstand war es, der uns in den Jahren 2009-2011 veranlasst hat, einen Versuch zu unternehmen, das Leben und den Erziehungsprozess im Gefängnis Kolpino auf einer prinzipiell neuen Grundlage zu organisieren. Zur Verwirklichung dieser gewaltigen Aufgabe zogen wir das Zentrum des Hl. Wassilij (Basilius) hinzu, das 2004 in meiner Kirchengemeinde gegründet worden war zum Zweck der Betreuung auf Bewährung verurteilter Jugendlicher. Zu diesem Zeitpunkt hatte dieses Zentrum bereits nicht nur in Sankt Petersburg, sondern auch in ganz Russland den unstrittigen Ruf als einzige Institution im Lande, eine reale Alternative zum Jugendgefängnis zu sein. Das Zentrum wird tatkräftig unterstützt von der Vereinigung der Richter, von den Organen des Innenministeriums und von Sozialdiensten der Stadt. Zu einem völligen gegenseitigen Verständnis kam es ferner mit der Unterabteilung des FDSV, die die auf Bewährung verurteilten Jugendlichen betreut. Weil das Zentrum bekannt ist für seine erfolgreiche Arbeit mit Jugendlichen, die sich eine längere Frist mit ganztägiger Betreuung im Basilius-Wohnheim aufhalten, waren wir der Überzeugung, wir könnten das Leben der Jugendlichen auch in einer geschlossenen Haftanstalt organisieren. Daher wurde März 2009 ein Abkommen über die Zusammenarbeit zwischen drei Institutionen, und zwar erstens zwischen dem FDSV Russlands für Sankt Petersburg und das Leningrader Gebiet, zweitens dem Wohltätigkeitsfonds „Zentrum für soziale Adaption des Hl. Basilius des Großen“ und drittens dem Bevollmächtigten für Menschenrechte in Sankt Petersburg unterschrieben. Da zu jenem Zeitpunkt eine Reform des FDSV deklariert wurde, galt unser Projekt als ein Experiment zur Reformierung der Jugendgefängnisse.

Zunächst führten wir eine Untersuchung durch und erstellten ein eigenes spezielles Programm für die Resozialisierung der Jugendlichen, das wir dann z. T. auch in die Tat umzusetzen begannen, indem wir sowohl ständige Mitarbeiter des Zentrums als auch viele junge Ehrenamtliche dafür einsetzten. Der Plan war, innerhalb des Jugendgefängnisses eine Abteilung für Rehabilitation zu schaffen, wohin sich die Häftlinge freiwillig wenden könnten, unabhängig von der Art des begangenen Verbrechens. Der Aufenthalt und die Erziehungsarbeit sollten in kleinen Gruppen (bis zu zwölf Personen) erfolgen. Diese Abteilung sollte gegenüber den gewöhnlichen Forderungen des Jugendgefängnisses keinerlei Privilegien beinhalten, würde sich jedoch in der Praxis ganz radikal von jenen ungeschriebenen „Regeln“ unterscheiden, die oben beschrieben wurden.

Dem Programm wurden einige prinzipielle Ideen zugrunde gelegt, darunter:

  • Rund um die Uhr völlige Kontrolle der Jugendlichen durch die Erzieher; dabei dürfen unter gar keinen Umständen Erziehungsfunktionen an die Häftlinge übertragen werden.
  • Völlige Transparenz des Bestrafungssystems bei Verstößen gegen die Ordnung der Haftanstalt; Vollziehung etwaiger Strafen ausnahmslos im Rahmen des Gesetzes.
  • Tägliche Besprechung der Probleme in den Gruppenversammlungen mit dem Ziel, die Reflexion über eigene und fremde Handlungen zu fördern.
  • Erweiterung künstlerischer Tätigkeit und insbesondere sportlicher Aktivitäten.
  • Enger Kontakt mit den Familien der jugendlichen Straftäter und ständige Information der Eltern über das Leben ihrer Kinder in der Strafanstalt.
Sport im Gefängnis Kolpino (Bild: Renovabis-Archiv)

Während der Arbeit des Zentrums im Jugendgefängnis ist es gelungen, einen guten, sich gegenseitig befruchtenden Kontakt mit den Mitarbeitern des Gefängnisses zu schaffen, die allmählich begannen, die neuen Ideen anzunehmen und sich in die gemeinsame Arbeit einzufügen.

Genau in diesem entscheidenden Moment hat sich das System besonnen und ein kategorisches „Nein“ gesprochen. Der Beschluss wurde auf höchster Ebene des FDSV in Moskau gefasst, mit dem die regionale Leitung des FDSV alle unsere Handlungen abgestimmt hatte. Keinerlei Gründe wurden angegeben, keinerlei Kritik geübt. Es wurde lediglich gesagt „Uns passt das nicht.“ Kurz darauf wurde den Mitarbeitern und Volontären des Zentrums des Hl. Basilius des Großen der Zutritt zum Gelände des Jugendgefängnisses verweigert; der Anstaltsleiter und die Mitarbeiter der Verwaltung, die Verständnis für unsere Arbeit gezeigt hatten, wurden in andere Anstalten versetzt oder einfach entlassen. Das Experiment wurde in einem Anfangsstadium abgebrochen, obwohl die zu erwartenden Resultate sich bereits zu zeigen begannen.

Man kann sich natürlich die Frage stellen, warum das System so vehement auf unseren Versuch, seine allerschlimmsten Seiten zu reformieren, reagiert hat. Warum hat es so entschieden und die durchaus vernünftigen und – man dürfte annehmen – nützlichen Vorschläge abgelehnt? Mir scheint, es geht nicht nur darum, die „Ehre der Uniform“ zu wahren (sozusagen „auch ohne euch wissen wir, was in unseren Anstalten zu tun ist“) oder lediglich um den Wunsch, keine Außenstehenden in die Geheimnisse des Gefängnislebens einzuweihen. Vielmehr ist es wohl so, dass die Vorstellung, ein Verbrecher solle nicht nur durch den Entzug der Freiheit bestraft werden, sondern im Gefängnis für seine Missetaten auch tüchtig leiden, für viele Menschen in Russland leider immer noch ganz selbstverständlich. Und die Mitarbeiter des FDSV haben, wie alle gewöhnlichen Bürger, dieselben Vorstellungen! Offenbar hat die russische Bevölkerung so viele Leiden und Erniedrigungen im Verlauf von Generationen erdulden müssen, dass ein einfacher Freiheitsentzug der Mehrheit als ungenügendes Strafmaß erscheint. Deswegen wird der Versuch, das Augenmerk des Strafvollzugsystems auf Fragen der Umerziehung zu konzentrieren und vom Gesetz nicht vorgesehene Qualen des Gefangenen auszuschließen, als fundamentale Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet, als Absage an die notwendige Vergeltung.

Leider wissen wir nur sehr wenig vom weiteren Schicksal der Jungen des Jugendgefängnisses Kolpino, denn die Verbindung reißt meist sofort nach ihrer Entlassung ab; die meisten kehren an ihren Heimatort weit weg von Sankt Petersburg zurück. Im Verlauf meines 18-jährigen Dienstes im Jugendgefängnis gab es jedoch einige ehemalige Häftlinge, zu denen weiterhin Kontakt besteht. Einer von ihnen arbeitet sogar seit einigen Jahren erfolgreich als Erzieher im Zentrum des Hl. Basilius des Großen. Ich finde in ihm nicht die geringsten Anzeichen von Gefängnisverhalten, das man häufig noch jahrelang bei Erwachsenen in der Freiheit beobachten kann. Obwohl seine glückliche Wiedergeburt nicht ausschließlich unser Verdienst ist (eine wichtige Rolle hat die Familie gespielt), ist er doch ein lebendes Beispiel dafür, wie fruchtbar die Erziehungsarbeit mit jugendlichen Straftätern sein kann. Wir werden jedenfalls unsere Arbeit, wie auch immer sie behindert werden mag, fortsetzen.4

Aus dem Russischen übersetzt von Dmitri Milinski und Dr. Natalie Reber.


Fußnoten:


  1. Über die Strukturen des Strafvollzugs im heutigen Russland informiert ausführlich der Beitrag von Caroline von Gall in vorliegendem Heft, besonders S. 95-100 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  2. Föderaler Dienst des Strafvollzugs. ↩︎

  3. Das „Aktiv“ vereint in der Regel die körperlich stärksten und intellektuell hellsten unter den Gefangenen, die fähig sind, den Großteil ihrer Kameraden in Zucht zu halten. Die Mitglieder des Aktivs genießen die Unterstützung der Leitung in Form von disziplinären Vergünstigungen und Anreizen. ↩︎

  4. Dazu eine aktuelle Ergänzung von Dr. Angelika Schmähling, Renovabis-Projektreferentin für Russland, vom 11.03.2014: Kolpino hat inzwischen einen neuen Leiter erhalten, der der Projektarbeit wieder aufgeschlossener gegenübersteht. Erzpriester Alexander wirkt weiterhin als Seelsorger, auch das Kunststudio existiert noch. Allerdings bleiben nach wie vor viele ungelöste Probleme. ↩︎