Islam in Europa – ein historischer Überblick

aus OWEP 3/2018  •  von Abdelmalek Hibaoui

Jun.-Prof. Dr. Abdelmalek Hibaoui hat den Lehrstuhl für Islamische Praktische Theologie am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Tübingen inne. Er ist auch Autor der anschließenden Übersicht „Einige Grundbegriffe zum Islam“.

Zusammenfassung

Der Islam weist seit Jahrhunderten eine Verwebung mit der europäischen Geschichte auf, und das nicht nur seit dem Osmanischen Reich. Es mag verblüffen, dass sich der Beginn des Islam in Europa in Form eines interkulturellen und interreligiösen Zentrums der Gelehrsamkeit zeigte, welches Muttererde für europäische Wissenschaften werden sollte.

Wenn man sich die Frage stellt, wann der Islam begann, erste Berührungspunkte mit Europa aufzuweisen, fußen Diskussionen darüber oft auf der Annahme extrem entgegengesetzter Pole von Okzident und Orient. Diese Denkweise übersieht einerseits die Geburt aller monotheistischen Religionen, nämlich ihr Aufkommen im Orient, und andererseits die frühe und aktive Mitwirkung des Islam bei der Entstehung einer europäischen Identität. Zieht man in Betracht, dass sich alle monotheistischen Religionen faktisch im Orient bildeten, also Juden, Christen und Muslime – alles Völker des Morgenlandes – ihre Botschaft im Osten empfingen, dann wird ersichtlich, dass keine dieser monotheistischen Religionen in ihrer Entstehung Teil von Europa war, sondern sie erst durch Wanderung, Migration, Eroberungen und Flucht Verbreitung erfuhren.

Wann hat nun der erste Muslim einen Fuß auf europäischen Boden gesetzt?

Der muslimische Feldherr und Berber Tāriq ibn Ziyād überquerte die Meerenge von Gibraltar bereits im Jahr 711, somit nicht einmal 80 Jahre nach dem Tode des Propheten Mohammed, eroberte das Reich der Westgoten und etablierte das islamische al-Andalus, das grob 780 Jahre bestand. Neben der Iberischen Halbinsel waren ebenso Sizilien und weitere Teile von Süditalien vom 9. bis 11. Jahrhundert unter muslimischer Herrschaft. Al-Andalus, nicht zu verwechseln mit dem heutigen Andalusien, erstreckte sich damals, Portugal und die spanische Halbinsel mitinbegriffen, bis kurz vor Barcelona. Diese sehr frühe Begegnung wird heutzutage aus dem europäischen Bewusstsein getilgt; ebenso werden die muslimischen Bevölkerungsanteile von Spanien und Italien, die unter christlicher Herrschaft durch Zwangskonversion oder Abschiebung verschwanden, verdrängt.

Al-Andalus: Muslimische Renaissance in Europa

Al-Andalus galt als Sammelbecken vieler Wissenschaftler, Gelehrter und Übersetzer, die entweder dort geboren waren oder aus der Ferne anreisten, um sich miteinander auszutauschen und angesehene Werke aus dem Lateinischen und Griechischen ins Arabische und umgekehrt zu übersetzen. So reiste auch der aus England stammende Robert von Ketton (um 1110 - um 1160) auf die Pyrenäenhalbinsel, um Zugriff auf angesehene arabische mathematische und astronomische Werke zu erhalten. Obwohl theologische Texte ursprünglich nicht sein Forschungsgebiet waren, fertigte er im Auftrag des Abts von Cluny, Petrus Venerabilis (um 1092 - 1156) in den Jahren 1142 und 1143 eine lateinische Übersetzung des Korans an.

Petrus Venerabilis mag mit seinem Wunsch nach einer lateinischen Übersetzung des Korans einerseits Missionierungsabsichten, andererseits apologetische Zwecke verbunden haben, letztlich resultierte das Bestreben der theologischen Übersetzungen in al-Andalus jedoch in Diskussionen, die sich nicht auf Legenden über den Islam verlassen, sondern auf Wissenschaftlichkeit stützen wollten. Es lässt sich durchaus sagen, dass die Übersetzer und Forscher in al-Andalus Auslöser einer Wiederentdeckung von griechischen Werken waren, die infolge der multikulturellen Exegese zu einer Vereinigung griechischen und islamischen Gedankenguts führte, das dann von den Forschern in ihre Heimatländer zurückgetragen wurde und sich in ganz Europa verbreitete. Die Ideen des muslimisch-spanischen Philosophen und Mystikers Ibn Ṭufaīl al-Qaīsī al-Andalusī (1110 - 1185) über die Bedeutung der Umwelt und die Autonomie des Intellekts als vollendete Form des Wissens fanden in Europa mehrfach eine Wiederaufbereitung, ähnlich wie das auf ihn zurückgehende Motiv der Robinsonade mit ihren über mehrere Jahrhunderte entstandenen vielen Fassungen. Insofern sind zahlreiche in Europa über Epochen hinweg entstandene Werke der Theologie, Philosophie, Medizin, Physik, Chemie, Mathematik und Literatur das Resultat einer griechischen und arabischen Kooperation.

Diese Vermengung des Gedankengutes fand auch unter christlicher Herrschaft in der Levante statt. Die muslimische Herrschaft auf abendländischem Terrain hatte ebenso Anteil an der Verbreitung einer Mischung aus orientalischen und okzidentalischen Elementen wie auch die christliche Herrschaft auf morgenländischem Territorium.

Das Osmanische Reich in Europa

Ab dem 14. Jahrhundert tritt die islamische Herrschaft in Form des Osmanischen Reiches als Großmacht in Europa auf, welches bis ins 20. Jahrhundert bestehen bleiben sollte. Es erstreckte sich in westlicher Ausrichtung zur Zeit der größten Ausdehnung bis kurz vor Wien, also auf Ungarn, Teile Rumäniens, Bulgarien, weitere Balkanländer und Griechenland. Bezüglich des genauen Anfangs wird das Jahr 1299 als Gründungsjahr des Osmanischen Reiches benannt. Unter osmanischer Herrschaft wurden die Rechte so genannter „ahl al-kitāb“ (ein Begriff aus dem Koran, wörtlich „Buchbesitzer“, also Christen und Juden) und später auch anderer nicht-muslimischer Gruppen (als „ahl adh-dhimma“, „Schutzbefohlene) festgelegt. Mit diesen religiösen Minderheiten wurde ein Schutzbündnis vereinbart, das ihnen Rechte im Staat wie beispielsweise die Ausübung ihrer Religion zubilligte.

Die Ursprünge der osmanischen Herrscherfamilie liegen im Dunkeln; es besteht keine Sicherheit darüber, ob ihre Wurzeln überhaupt türkisch waren. Aufgrund jahrhundertelanger ethnischer Verschmelzungsprozesse kann man neben einer türkischen auch über eine turkmenische Abstammung spekulieren, ihr Hintergrund könnte aber auch der arabische, persische oder sogar italienische Raum sein, wobei eine zentralasiatische Komponente nicht zu leugnen ist. Wenn man den Blick auf die ideologische und politische Gestaltung des Osmanischen Reichs richtet, fällt auf, dass diese größtenteils von Persien, den arabischen Ländern, dem Byzantinischen Reich und italienischen Stadtstaaten beeinflusst worden ist. Die osmanische Staatsorganisation richtete sich sehr stark nach byzantinischen Leitbildern aus. Das Reich unterhielt enge kommerzielle Beziehungen zu Genua und Venedig. Osmanische Bräute und Konkubinen kamen oft aus Nachbarstaaten, osmanische privat- und volkswirtschaftliche Taktiken waren auf genuesischen und venezianischen Vorbildern aufgebaut.

Das Osmanische Reich als Teil von Europa?

Falls das Konzept der zivilisatorischen Einheit eines gemeinsamen „Europas“ im 15. Jahrhundert bereits existiert hätte, dann wäre das Osmanische Reich unabdingbarer Teil Europas gewesen. „Europa“ als eine vereinheitlichende Vorstellung existierte zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht; der Fokus lag damals primär auf der Religion, die als starke Kluft zwischen der islamischen und christlichen Welt wahrgenommen wurde. Jedes aufkommende Bewusstsein der Zugehörigkeit zu Europa, welches de facto aufgrund der vorhandenen ökonomischen, sozialen und familiären Beziehungen durchaus im Bereich der Möglichkeiten lag, wurde durch die militärische Stärke des Osmanisches Reiches wieder gedämpft. Hätte die damalige Staatenwelt die heutige Vorstellung einer gemeinsamen europäischen Identität gehabt, dann wäre das Osmanische Reich mit Sicherheit ein integraler Bestandteil des europäischen politischen Geschehens gewesen.

Ist der Islam Teil von Europa?

Es lässt sich festhalten, dass der Islam bereits seit dem 8. Jahrhundert in Gestalt muslimisch besetzter Gebiete Einzug nach Europa gehalten hat, in denen es zu einer wissenschaftlichen, interreligiösen und interkulturellen Blüte kam. Die Erforschung, Kommentierung und Übersetzung wichtiger Werke in alle für europäische Intellektuelle wichtigen Sprachen sorgte einerseits für eine orientalische und okzidentalische Vermischung der Geistes- und Naturwissenschaften und bot andererseits einen fruchtbaren Nährboden für weitere europäische Renaissancen. Damit hat jegliche europäische Wiederbelebung historischer Werke ihren Mutterboden diesem vorangegangenen goldenen wissenschaftlichen Zeitalter zu verdanken, ganz konkret den Früchten des islamischen al-Andalus.

Ebenso hat das Osmanische Reich mit seiner 600 Jahre langen Präsenz in europäischen Ländern dazu beigetragen, dass die europäische kulturelle Entwicklung in diesen Ländern stark von islamischen Denk- und Handlungsweisen beeinflusst wurden. Genauso wie die Vermischung der Kulturen, die in al-Andalus stattfand, war das Osmanische Reich an einer wechselseitigen Durchdringung in ökonomischen, genauer gesagt: privat- und volkswirtschaftlichen, und sozialen Bereichen beteiligt.

Summa summarum hat es also es über die Jahrhunderte hinweg immer in unterschiedlicher Intensität eine muslimische Beteiligung am europäischen Geschehen gegeben, sodass der Islam einen wesentlichen Teil von Europa verkörpert. Würde man den Islam beim Gedanken an Europa wegdenken wollen, so käme dies einer Verarmung der vielgestaltigen europäischen Identität gleich.

Literaturhinweise:

  • Robert L. Benson, Giles Constable (Hrsg.): Renaissance and Renewal in the Twelfth Century. Toronto 1999.

  • Thomas E. Burman: Tafsīr and Translation. Traditional Arabic Qurʾān Exegesis and the Latin Qurʾāns of Robert of Ketton and Mark of Toledo. In: Speculum 73 (1998), Nr. 3, S. 703-732.

  • Daniel Goffman: The Ottoman Empire and Early Modern Europe. Cambridge 2002.

  • Thomas Schmidinger: Islam, Migration, and the Muslim Communities in Europe. History, Legal Framework, and Organizations. In: Vedran Džihić, Thomas Schmidinger (Hrsg.): Looming Shadows. Migration and Integration at a Time of Upheaval. Baltimore/London 2012, S. 99-122.

Einige Grundbegriffe zum Islam

Sunniten und Schiiten

Nach dem Tod des Propheten Mohammed im Jahr 632 gab es Auseinandersetzungen innerhalb der islamischen Gemeinschaft, wer sein legitimer Nachfolger sein sollte. Die Mehrheit der Muslime einigte sich darauf, einen Kalifen (Nachfolger) zu benennen, der die politische und religiöse Führung der Muslime in einer Person vereinen könnte, ohne göttlich legitimierte Autorität zu beanspruchen. Sie wählten Abu Bakr (reg. 632 - 634) als Kalif und sahen sich mit diesem Vorgehen in der Tradition (arab. sunna, „Gewohnheit“) des Propheten; daher rührt die Bezeichnung „Sunniten“. Auch die beiden folgenden Kalifen Umar (oder Omar, reg. 643 - 644) und Uthman (reg. 644 - 656) wurden auf solche Weise ins Amt gesetzt. Eine Minderheit der Muslime lehnte die Entscheidung ab. Sie waren der Überzeugung, Gott selbst würde über den Nachfolger Mohammeds entscheiden, und dieser müsse auch aus dessen Familie stammen. Deshalb glaubten sie, dass nur Mohammeds Cousin und Schwiegersohn Ali und seine Nachkommen das Recht hätten, das politische Oberhaupt (Kalif, Imam) aller Muslime zu stellen. Da für diese Muslime Ali als der rechtmäßige Nachfolger galt, wurden sie von den Sunniten als Partei Alis bzw. Anhänger des Ali „šīʿat ʿAlī“ bezeichnet. Die Anhänger dieser Glaubensrichtung heißen heute Schiiten. Die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten waren anfänglich nicht theologischer Natur, sondern entsprangen der Frage, wer die Gemeinschaft der Muslime leiten soll. Bei den Sunniten bildete sich das Kalifat heraus, bei den Schiiten das Imamat. In beiden Hauptrichtungen gibt es jedoch verschiedene Rechtsschulen, Sufi-Orden (d. h. asketisch-mystische ausgerichtete Gruppierungen) und kleinere Sekten.

Scharia

Scharia (Schariʿa), das arabische Wort für das religiöse Gesetz im Islam, bedeutet ursprünglich „der Weg, der zur Wasserquelle führt“. Wer Gottes Scharia folgt, kommt nicht in der Wüste um, sondern findet das Wasser des Lebens. Im Koran heißt es dazu: „Dann gaben wir dir eine Schariʿa in der Religion, folge ihr und nicht den Gelüsten der Unwissenden“ (Sure 45:18). Man kann die „Scharia“ definieren als die Gesamtheit der auf die Handlungen der Menschen bezogenen Vorschriften Gottes. „Scharia“ ist auch die Bezeichnung für das auf göttliche Offenbarung zurückgeführte islamische Recht, für seine religiösen und rechtlichen Normen, für die Mechanismen zur Findung dieser Normen und für die Auslegungsvorschriften des Islam. Sie ist kein Gesetzbuch, wie es manchmal den Anschein hat, sondern ein überaus kompliziertes System zur Findung von Normen und rechtlichen Regelungen. Zur Scharia gehören die Vorschriften über Gebet und Fasten, über die Speisegebote und die Pilgerfahrt nach Mekka ebenso wie das Vertrags-, Familien-, Erb- und Strafrecht.

Dschihad

„Dschihad“ bedeutet „sich Mühe geben für etwas“ oder „streben nach etwas“. Es beinhaltet den unermüdlichen Einsatz jedes einzelnen Muslims gegen sein eigenes niederes Selbst, das zum Bösen verleitet, und ist zu verstehen als der permanente ethische Auftrag an das Individuum, sich selbst zu verbessern und für die Gesellschaft Gutes zu tun. Im Koran heißt es dazu: „Und setze dich mit aller Kraft dafür ein (dschihad), dass Gott Gefallen an dir findet, so intensiv, wie es nur geht, und wie es Ihm gebührt ...“ (Sure 22:78).

Das Konzept, unter Dschihad sei angeblich der Krieg zur Verbreitung des Islam zu verstehen, ist nicht richtig. In der arabischen Sprache gibt es zwei Wörter für kriegerische Auseinandersetzungen: Das eine lautet „Qital“ und bedeutet „Verteidigung gegen Angreifer“, das andere „Harb“ und umfasst alle anderen Arten von Krieg. Laut Koran ist Muslimen einzig und allein „Qital“, also ein Defensivkrieg, erlaubt. Der Koran beschreibt in vielen Versen die Voraussetzungen eines solchen erlaubten Defensivkriegs. Danach ist die wichtigste Bedingung eine zuvor erfolgte Vertreibung aus den eigenen Häusern. Im Koran heißt es: „Die Erlaubnis, sich zu verteidigen (qital), ist denen gegeben, gegen die (grundlos) Krieg geführt wird, weil ihnen Unrecht angetan worden ist – wahrhaftig, Gott hat die Macht, ihnen beizustehen – all jenen, die ungerechterweise aus ihren Häusern vertrieben worden sind“ (Sure 22:39-40).

Haddsch

Haddsch ist die islamische Pilgerfahrt nach der heiligen Stadt Mekka in Saudi Arabien. Sie gehört zu den fünf Säulen des Islam. Mindestens einmal im Leben treten viele Muslime aus der ganzen Welt, die körperlich und finanziell dazu in der Lage sind, die weite Reise an. Die Pilgerreise wird zur Kaaba unternommen, die sich in Mekka befindet. Kaaba ist das „Haus Gottes“, das heilig ist, seit der Prophet Abraham es zur Anbetung Gottes erbaut hat. Deshalb fühlen sich viele Muslime Gott an diesem Ort ganz besonders nahe. Das Pilgern wird als gottesdienstliche Tätigkeit betrachtet, die besondere Anerkennung verdient. Es dient als Buße – die ultimative Vergebung für Sünden, Hingabe und hochgradige Spiritualität. Die große Pilgerfahrt beginnt am 8.Tag des letzten Monats im Islamischen Jahr, dem Dhul-Hijjah, und endet am 13. Tag; die kleine Pilgerfahrt, ʿUmra genannt, kann zu jeder beliebigen Zeit erfolgen.

Literaturhinweise:

  • Thomas Patrick Hughes: Lexikon des Islam. München 2000.

  • Martin Affolderbach, Inken Wöhlbrand (Hrsg.): Was jeder vom Islam wissen muss. Vollständig überarbeitete Neuauflage. München 2011.

  • Annemarie Schimmel: Der Islam. München 1999.

  • Mathias Rohe: Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart. 3., aktualisierte u. erweiterte Aufl. München 2011.