Gibt es DEN Islam, und wenn ja, wie viele?

aus OWEP 3/2018  •  von Armina Omerika

Prof. Dr. Armina Omerika ist Juniorprofessorin für die Ideengeschichte des Islam an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem auf dem islamischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts.

Zusammenfassung

Die populären Gegenüberstellungen „Islam“ versus Europa“ übersehen eine lange Beziehungsgeschichte zwischen muslimischen und europäischen Gesellschaften und intellektuellen Traditionen. Auch moderne und weitverbreitete Islamverständnisse unter Musliminnen und Muslimen selbst sind zu einem guten Teil Ergebnis von diesen Verflechtungen. Die innere Ausdifferenzierung und Pluralisierung muslimischer Gemeinschaften und islamisch-religiöser Positionen vollzieht sich auch heute entlang einer Reihe von komplexen Faktoren, die sich nicht mit den traditionellen konfessionellen Trennungen und theologischen Klassifizierungen fassen lassen.

I.

Öffentliche und zunehmend auch politische Diskurse über das Verhältnis zwischen „Islam“ und „Europa“ tendieren dazu, in dichotomen Strukturen zu operieren, in denen sowohl „Islam“ als auch „Europa“ als distinkte und voneinander entfernte Einheiten mit klaren Demarkationslinien und Charakteristika gerahmt werden. Insbesondere im Kontext der Migrations- und Integrationsdebatten der letzten Jahre wird im Osten und im Westen Europas die Frage nach gegenseitiger Kompatibilität dieser zwei Größen und, viel konkreter, nach der Fähigkeit des „Islam“ gestellt, sich an das anzupassen, was unter „europäischen Werten“ angenommen wird. In diesen diskursiven Konstruktionen ist „Europa“ schon lange keine rein geographische Referenz auf einen Kontinent, sondern wird, in wechselnden Konstellationen und mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, als eine kulturelle, politische oder zivilisatorische Einheit definiert. „Der Islam“ andererseits wird zu einem komplexen Aggregat aus unterschiedlichen Kategorien verdichtet, in denen Vorstellungen über „orientalische“ Kultur und Mentalität, Bewertungen der gegenwärtigen politischen Realitäten des Nahen Ostens, religiös legitimierte politische Ideologien, Bezüge zu einzelnen Aussagen der islamischen religiösen Quellen und schließlich selektiv herausgegriffene normative Ordnungsvorstellungen etwa des islamischen Rechts zusammengewürfelt werden. Diese Vergegenständlichung des Islam hat der Berner Islamwissenschaftler Reinhard Schulze als eine Festschreibung des Islam zu einem „dichten Begriff“ (thick concept) bezeichnet, einem Begriff also, mit dem Sachverhalte nicht nur beschrieben, sondern gleichzeitig auch bewertet werden und der entsprechend gleichzeitig deskriptive und normative Dimensionen in sich vereine.1 Eine solch konstruierte, abgegrenzte und beschreibbare ontologische Einheit „Islam“ erscheint dann als handelndes Subjekt („der Islam sagt, macht, gebietet, verbietet …“), welches „die Muslime“ und ihr Verhalten durchregiere oder zumindest durchregieren sollte. Entsprechend werden bei der Frage nach islamischer Authentizität die Muslime darauf abgeklopft, ob sie mit den diesem Gebilde angeblich innewohnenden Vorschriften übereinstimmen oder nicht.2

Solche Konstruktionen sind aus mehreren Gründen problematisch. Zunächst einmal verschwindet hinter der angenommenen Polarisierung zwischen „Europa“ und „Islam“ eine komplexe Beziehungs- und Beeinflussungsgeschichte zwischen muslimischen und europäischen Gemeinwesen und Gesellschaften, die von vielschichtigen ideengeschichtlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und anderen Austausch- und Transferprozessen gekennzeichnet war. Vor diesem Hintergrund, und insbesondere mit Blick auf die mittlerweile immer öfter zu hörenden Forderungen nach einem „europäischen Islam“ gilt es auch zu beachten, dass spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die meisten Ausdrucksformen von Islamität und muslimische Konzeptualisierungen des Islam als Ergebnisse vor allem von Aushandlungen und Anpassungen islamischer Wissenstraditionen und islamisch-religiös legitimierter normativer Ordnungen an die europäische Moderne anzusehen sind. Neuere Forschungen3 weisen zunehmend darauf hin, dass die soeben skizzierte Vergegenständlichung des Islam ein gemeinschaftliches Ergebnis der Arbeit von westlichen Islamforschern und islamischen Gelehrten und Intellektuellen war – unter den Letzteren vor allem von Denkern des so genannten islamischen Reformismus –, die sich an geteilten Diskursen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts betätigten.

Die gemeinsame Konfiguration des „Islam“, wie sie uns heute begegnet, geschah in Folge von diskursiven und sozialen Vernetzungen und überlappenden intellektuellen Milieus zwischen muslimischen Intellektuellen aus dem Osmanischen Reich, Ägypten, Südasien und ihren westlichen Kollegen. Intellektuelle Diskurse in diesen Räumen wiesen ähnliche Problemstellungen auf, die sich vor dem Hintergrund der Erfahrung einer globalisierter Moderne und der Abarbeitung an modernen Vorstellungen – wie beispielsweise Nation, Kultur, Zivilisation, Souveränität – entfalteten, die ihren Ursprung in Europa hatten, aber weltweit, darunter auch in der islamischen Welt, produziert und reproduziert wurden. Die spezifischen und lokal unterschiedlichen Bedingungen haben zu einer unterschiedlichen Ausgestaltung und semantischen Aufladung dieser Begriffe geführt, ihre Durchlässigkeit jenseits von kulturellen, religiösen oder staatlichen Grenzen aber nicht verhindern können. Wenn der Islam in heutigen muslimischen Diskursen als starr vorgegeben und unveränderlich aufgefasst wird, ist das zu einem guten Teil ein Produkt der Moderne, allerdings kann man dann durchaus an manche auch in der älteren islamischen Theologiegeschichte vorhandenen Tendenzen anknüpfen, die reichlich Anschlussmöglichkeiten hierfür bieten und die entsprechend operationalisiert werden.

II.

Das Problembewusstsein über diese Sicht des Islam (wenn auch zugegebenermaßen weniger das über ihre ideengeschichtlichen Hintergründe), das Gebot der Differenzierung in der wissenschaftlichen Betrachtung und nicht zuletzt die berechtigten Sorgen um die Folgen von dichotomen und polarisierenden Bildern von „Europa“ und „Islam“ auf die politischen Entscheidungsprozesse und den Zusammenhalt in gegenwärtigen pluralen europäischen Gesellschaften liegen dann auch den mittlerweile auch öffentlich wahrzunehmenden Warnungen zugrunde, „den Islam“ gebe es gar nicht.

Und in der Tat ist die islamische Religion als eine globale Religion ein komplexes Gefüge aus diskursiven Traditionen und religiösen Praktiken, die sich vierzehn Jahrhunderte lang über große geographische Räume entwickelt haben, mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen und Artikulationsformen und jeweils in Wechselwirkung mit den jeweiligen historischen, politischen und allgemein gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen sich diese manifestierten. Doch aus binnenmuslimischer Perspektive ist die Verneinung der Existenz „des Islam“ keineswegs eine leicht hinzunehmende Angelegenheit: Wenn es „den Islam“ nicht gibt, worauf beziehen sich dann über eine Milliarde Menschen weltweit, die sich als Muslime bezeichnen? Schließlich gilt der Islam den Gläubigen als eine wichtige identitäts- und sinnstiftende Bezugsgröße in der eigenen lebensweltlichen Orientierung. Der jegliche kulturelle Grenzen überschreitende Wiedererkennungswert von bestimmten symbolischen und sprachlichen Bezügen wie etwa der šahāda (des Glaubenszeugnisses) oder die in der Erfahrung der Pilgerfahrt nach Mekka konkret erlebte Gemeinschaft von Muslimen aus der ganzen Welt sprechen für die Existenz eines trotz aller partikularen Unterschiede real existierenden gemeinsamen Referenzrahmens.

Es verwundert daher nicht, dass sich die Islamforschung in ihren unterschiedlichen disziplinären Ausprägungen immer wieder die Frage nach der eigenen Gegenstandsbestimmung bzw. nach der Tauglichkeit des Begriffs „Islam“ als analytische Kategorie stellt4, ebenso wenig wie die binnendiskursive Tendenz von innermuslimischen Debatten und Auseinandersetzungen überrascht, letztlich immer wieder in die Frage zu münden: Was ist Islam? In dieser auf den ersten Blick nach einer Wesenhaftigkeit des Islam fragenden Erkundigung steckt im Grunde die Frage nach Begründungszusammenhängen von Islamität: Mit welchen Plausibilitätskriterien werden Positionen, Verhaltensweisen oder sogar ganze Lebensbereiche und wissenschaftliche Traditionen – beispielsweise Geschichte, Kunst oder Philosophie – als „islamisch“ bezeichnet? Die Kritik zeitgenössischer muslimischer Denker an muslimischen wie nichtmuslimischen Festlegungen von Islam richtet sich mitunter auch gegen die Verrechtlichung des Islam, d. h. gegen die Dominanz des religionsrechtlichen Aspekts des Islam über die religiös-spirituelle Dimension (Abdolkarim Soroush) oder über die universalistisch-humanistischen Potenziale der islamischen intellektuellen Traditionen (Mohammed Arkoun, Abdelmajid Charfi). Nicht zuletzt wird dafür plädiert, die stark legalistisch konnotierte Definition des Islam aufzulösen und stattdessen bei der Begriffsbestimmung sämtliche Formen der muslimischen Kulturproduktion, von Dichtung und Literatur, Philosophie bis hin zu Architektur, Musik und Essgewohnheiten zu berücksichtigen, denen – sinngemäß – ein islamisches Ethos zugrunde liegt.5

Im Grunde geht es bei diesen Debatten darum, den Widerspruch zwischen dem schon begrifflich kaum vermeidbaren Rekurs auf eine im kohärenten Sinne verwendete Bezugsgröße „Islam“ einerseits und einer real vorhandenen Heterogenität von Praktiken, Glaubenslehren, theologischen Positionen und lebensweltlichen Verortungen andererseits aufzulösen, die als islamisch bezeichnet werden.

Diese Heterogenität umfasst dabei viel mehr als die große konfessionelle Trennung in Sunniten und Schiiten oder die Existenz unterschiedlicher theologischer Strömungen und der „anerkannten“ Rechtsschulen, die zumeist in orthodoxen Selbstbeschreibungen (der Neuzeit) als Beleg für die innermuslimische Vielfalt angeführt werden. Abgesehen von der Ausblendung von Kontextualität und vom historischen Wandel als einem Faktor der steten Ausdifferenzierung muslimischer Gemeinschaften und der laufenden Interpretation und Reinterpretation von Glaubenslehren wird diese nach wie vor oft reproduzierte Vorstellung von innerislamischer Diversität weder neuen Formen von Differenz, persönlicher Religiosität, neuen Formen von Normativität noch den unterschiedlichen Methoden der Auslegung und der Lektüre von religiösen Texten gerecht, die in der heutigen Zeit unter Musliminnen und Muslimen weltweit zur Geltung kommen.

Selbstverständlich gibt es die als gemeinsam geltenden und als „Säulen“ bekannten zentralen Grundsätze des Islam – das Glaubenszeugnis und die weiteren vier „Säulen“ (das tägliche Gebet, das Fasten im Ramadan, die Almosensteuer und die Pilgerfahrt), ebenso wie es die zentralen Glaubensquellen des Islam gibt – den Koran und die Sunna, die Tradition des Propheten, die spätestens seit dem 9. Jahrhundert im Korpus der Überlieferungsberichte (Hadithe) schriftlich tradiert wurde. Doch schon bei den schriftlichen Glaubensquellen gehen die theologischen Positionierungen auseinander: Die Frage beispielsweise, ob und inwiefern Hadithe als Quelle religiöser Normativität gleichrangig zu behandeln sind mit dem Koran, wird selbst innerhalb der zwei großen konfessionellen Gemeinschaften keineswegs einstimmig beantwortet, auch jenseits der aus der westlichen historischen Islamforschung angestoßenen und unter Muslimen durchaus rezipierten Debatte um die Authentizität der Hadithe. Verschiedene Positionen über die Rechtsrelevanz von Hadithen ebenso wie die Frage nach der verbindlichen Beispielhaftigkeit von prophetischen Handlungen für die Gläubigen sind dabei bereits in der klassischen islamischen Tradition verankert gewesen und wurden differenziert behandelt.

Ein in diesem Zusammenhang wichtiges Differenzierungskriterium, zumindest wenn es um die Glaubenslehren und ihre Umsetzung in der lebensweltlichen Anwendung geht, betrifft die unterschiedlichen Lesarten der religiösen Quellen, die auf unterschiedlichen Methodologien und hermeneutischen Prämissen beruhen, und zwar jenseits der klassischen konfessionellen und theologischen Trennlinien. Eine entsprechende Ausdifferenzierung ist nicht nur in modernen akademisierten Formen des Islam zu finden, wie sie sich auch an Universitäten im deutschsprachigen Raum in Gestalt eines neues Faches „Islamische Theologie“ entwickeln, sondern zunehmend auch in populären Diskursen unter Muslimen, quasi als Antwortmöglichkeiten auf die Bedürfnisse und Erfordernisse des Lebens unter den Bedingungen einer zunehmend verdichteten gesellschaftlichen Pluralität. Ein wichtiges Spannungsfeld in diesem Zusammenhang, das sich auch ganz bedeutsam auf die Hermeneutik insbesondere der Koranlektüren auswirkt, ist der Konflikt zwischen universalistischen und historisierenden Zugängen zu den Quellen. Vereinfacht gesagt geht es dabei um die Frage, ob Aussagen des Korans in ihrer wörtlichen Bedeutung eine überzeitliche Gültigkeit besitzen, oder ob diese nur im Hinblick auf die konkret angesprochene Adressatengemeinde gültig sind, während der „Geist“, die hermeneutisch erschlossene übergeordnete Botschaft und Prinzipien hinter diesen Aussagen von überzeitlicher Relevanz sind. Während die Annahme, der Koran sei ursprünglich als mündliche Rede über zwanzig Jahre in die Dynamik einer sich entwickelnden Gemeinde hinein offenbart worden, beiden Perspektiven gemeinsam ist, herrscht eine große Uneinigkeit über die normative Gültigkeit dieser Aussagen jenseits der konkret angesprochenen Adressaten. Auch diese Debatten nehmen zum Teil diskursive Tendenzen der klassischen islamisch-theologischen Disziplinen auf, verarbeiten sie allerdings unterschiedlich unter den Bedingungen der Gegenwart.

III.

Islamische Theologie mag in ihren klassischen Formen an den traditionellen Bildungseinrichtungen in der islamischen Welt noch nicht in derselben Geschwindigkeit mit der westlichen Akademie mitziehen, aber Interpretation und Reinterpretation von Quellen und Glaubenslehren vor dem Hintergrund sich jeweils wandelnder Erkenntnishorizonte sind selbstverständlich Teil von subjektiven religiösen Erfahrungen von Musliminnen und Muslimen auch unabhängig von den Positionierungen der Gelehrsamkeit. Schließlich gilt es zu bedenken, dass auch muslimische Gläubige keine Theaterdarsteller sind, die sich im Einklang mit von außen vorgeschriebenen Rollen benehmen, sondern Subjekte in ihren Alltagszusammenhängen, deren Einstellungen, Handlungsweisen und Diskurse von einer Vielzahl von Faktoren auch jenseits von Religion bestimmt und geprägt werden.


Fußnoten:


  1. Reinhard Schulze: Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft. In: Frankfurter Zeitschrift für Islamisch-Theologische Studien 2 (2015), S. 99 -125. ↩︎

  2. Ebd., S. 119. ↩︎

  3. Z. B. Dietrich Jung: Orientalists, Islamists and the Global Public Sphere. A Genealogy of the Modern Essentialist Image of Islam. Sheffield 2011. ↩︎

  4. Vgl. Marco Schöller: Methode und Wahrheit in der Islamwissenschaft. Prolegomena. Wiesbaden 2000; Conermann, Stephan Conermann, Syrinz von Hees (Hrsg.): Islamwissenschaft als Kulturwissenschaft. I. Historische Anthropologie – Ansätze und Möglichkeiten. Schenefeld 2007; Abbas Poya, Maurus Reinkowski (Hrsg.): Das Unbehagen in der Islamwissenschaft. Ein klassisches Fach im Scheinwerferlicht der Politik und Medien. Bielefeld 2008. ↩︎

  5. Shahab Ahmad: What is Islam? The Importance of Being Islamic. Princeton, NJ, 2016. ↩︎