Flüchtlinge in Polen. Die Angst vor den Fremden ohne Fremde

aus OWEP 3/2018  •  von Karolina Wigura

Karolina Wigura ist Redakteurin der polnischen Internetzeitschrift „Kultura Liberalna“, wissenschaftliche Assistentin am Institut für Soziologie der Universität Warschau und Ko-Direktorin des Programms „Knowledge Bridges: Poland – Britain – Europe“ am St. Antony’s College an der Universität Oxford.

Zusammenfassung

Die Flüchtlingskrise ist in den vergangenen Jahren zum Gegenstand einer der schärfsten Debatten seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens 1989 geworden. Diese Debatte wurde rasch von der weitreichenden Polarisierung der polnischen Öffentlichkeit geprägt. Deshalb hat sie sich stark radikalisiert, wobei die polnische Gesellschaft die Chance vertan hat, über die große Veränderung nachzudenken, die in den letzten Jahrzehnten in unserem Land vor sich gegangen ist. Und so ist Polen von einem traditionellen Auswandererland zu einem Staat geworden, der für Zuwanderer interessant ist.

In einem seiner Essays hat der bedeutende Soziologe Georg Simmel (1858 - 1918) vor mehr als hundert Jahren über die besondere Rolle geschrieben, die Fremde in jeder Gesellschaft spielen. Simmel zählte verschiedene Personen zu dieser Kategorie: Kaufleute, Zuwanderer, assimilierte Juden usw. Er meinte, dass diese Menschen auf Dauer mit keinem Element der Sozialstruktur verbunden seien, weshalb ihre Lage außergewöhnlich sei. Die besondere Verknüpfung von Nähe und Distanz führe dazu, dass sie scharfsinnige Beobachter der Gesellschaft seien, oft aber auch würde man ihnen „die überraschendsten Offenheiten und Konfessionen“ entgegenbringen, „bis zu dem Charakter der Beichte …, die man jedem Nahestehenden sorgfältig vorenthält“.

In Polen sind in den letzten Jahren aufgrund der Flüchtlingskrise, oder vielmehr aufgrund ihrer Darstellung in den Massenmedien, Flüchtlinge aus Syrien und anderen nahöstlichen Ländern zu einem Synonym für Fremde geworden.1 Die Geschichte der Debatten hierüber, aber auch die Veränderungen der gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber den Flüchtlingen ergänzen Simmels Essay jedoch um einen paradoxen Epilog. Der Soziologe meinte, man müsse sich, um fremd zu sein, zumindest von Zeit zu Zeit unter den Angehörigen der betreffenden Gesellschaft aufhalten. Flüchtlinge aus Syrien, die an der Weichsel besonders viele Ängste auslösen, sind jedoch in Polen nie eingetroffen.

Dieses Paradox hat seine tiefen Gründe. Teilweise hängen sie mit der weitreichenden Polarisierung der polnischen Öffentlichkeit zusammen. Diese Polarisierung führt nicht nur zu einer Radikalisierung der Flüchtlingsdebatte, sondern sie ist längerfristig auch für die liberal-demokratische Grundordnung unseres Landes gefährlich. Eine Teilursache für dieses Paradox besteht aber auch darin, dass Polen, nachdem es lange ein traditionelles Auswanderungsland war, in den letzten Jahrzehnten – vor unseren Augen – zu einem Land geworden ist, für das sich Zuwanderer interessieren. Das verursacht nicht nur Verwunderung, sondern auch viele Ängste und Frustrationen.

Die Flüchtlingskrise im Schraubstock der Polarisierung

Polarisierung ist in der öffentlichen Debatte Polens nichts Neues. Auf die Existenz der charakteristischen Teilung in zwei entgegengesetzte Lager ist schon lange vor 1989 hingewiesen worden. Die Angehörigen der oppositionellen Gewerkschaft „Solidarność” sprachen damals von der Trennung in „wir“ – die Gesellschaft – und „die anderen“ – die von der Sowjetunion aufgezwungene kommunistische Herrschaft. In der Vorstellung von einer guten Gesellschaft und einer bösen Elite klangen Echos mit, die heute als populistisch angesehen werden. Für die polnische Bevölkerung hat diese Sicht der Wirklichkeit allerdings eine lange Geschichte. Vielleicht haben deshalb in den letzten fast 30 Jahren duale Spaltungen eine so zentrale Rolle in der polnischen Öffentlichkeit gespielt.

Die Polarisierung in Polen ist allerdings schwankend und vielgestaltig. Heute ist es anachronistisch, von einander gegenüberstehenden Lagern der Opposition und der Kommunisten zu sprechen. Sie sind de facto durch die beiden Lager ersetzt worden, in die die alte „Solidarność“ zerfallen ist. Das erste, liberal-konservative, wird oft mit der vorherigen Regierungspartei gleichgesetzt, also mit Donald Tusks Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO). Das andere, national-konservative, schart sich derzeit um die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwo¬ść, PiS) von Jarosław Kaczyński. Die Vertreter des ersten Lagers betonen die liberalen Aspekte unseres staatlichen Systems und kritisieren die Einstellung der PiS zum Rechtsstaat und zur Verfassung, außerdem sprechen sie sich für eine entschiedene Trennung von Staat und Kirche, für eine liberalere Familienpolitik und eine stärkere Integration in die EU aus. Die Vertreter des anderen Lagers hingegen verlangen eine größere Präsenz der Religion im öffentlichen Raum und einen größeren Konservatismus in sittlicher Hinsicht, sie heben die Bedeutung nationaler Werte hervor und kritisieren die ihrer Ansicht nach zu weit gehende Einbindung in die europäischen Strukturen.

Diese Spaltung entbehrt jeglicher Nuancen. Seit vielen Jahren wird die jeweils andere Seite völlig klischeehaft gesehen. Die Liberalen nennen die Konservativen „Paranoiker“ und „autoritäre Persönlichkeiten“, während die Vertreter der liberalen Seite als „Verschacherer der Republik“ oder „seelenlose Neoliberale“ bezeichnet werden. Angesichts dessen braucht man sich nicht zu wundern, dass diese Spaltung die Grundlage für die Selbst-Definition von Gruppen und Individuen im politischen und ideologischen Geschehen ist und fast jede politische oder internationale Krise durch diese Brille gesehen wird. Anstatt gemeinsam nach einem Ausweg aus der Lage zu suchen, sind die meisten politischen Akteure antagonistisch eingestellt und passen ihre Äußerungen der Seite an, der sie sich zugehörig fühlen. Genau dasselbe ist mit der Flüchtlingskrise geschehen. Die Diskussion hierüber begann in Polen im Frühherbst 2015. Wenige Wochen genügten, bis sie im Schatten der polarisierten öffentlichen Debatte in Polen stand. Die Medien und die Politiker griffen das Thema umso lieber auf, als Ende Oktober des Jahres Parlamentswahlen stattfanden und die Frage der Aufnahme oder Nicht-Aufnahme von Flüchtlingen von heute auf morgen zu einem wichtigen Bestandteil der polnischen Zukunftsperspektive für die nächsten Jahre wurde.

Das Paket negativen Denkens über Fremde

„Die Cholera auf den griechischen Inseln, Ruhr in Wien, verschiedene Parasiten, Urtierchen, die in den Organismen dieser Menschen ungefährlich sind, können hier gefährlich sein“, sagte der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński bei einer Wahlkampfveranstaltung Mitte Oktober 2015. Das ist nur eines von vielen Beispielen für Äußerungen, die man in jenem Herbst von rechten Politikern hören und in rechten Medien in Polen lesen konnte. In dieser Debatte wurden einige Ausdrücke, die keine Synonyme sind, wechselweise verwendet. Es handelte sich um Bezeichnungen wie Moslems, Araber, Migranten oder Flüchtlinge. Offenkundig wurden diese Ausdrücke genauso gleichgesetzt wie etwa Terrorismus, Terrorist, Islamist, Fundamentalist usw. Dies geschah, ohne die jeweiligen Umstände, die ethnische und religiöse Zusammensetzung sowie das Wissen etwa über den Bildungsstand der nach Europa kommenden Gruppen von Immigranten und Flüchtlingen ausreichend zu berücksichtigen.

Dieses verschwommene Bild von den Moslems wurde vor den Wahlen zu einem handlichen Werkzeug. Es wurde nicht nur verwendet, um Leser und Wähler zu mobilisieren, sondern auch, um die einmal ausgelösten Emotionen auf ganz andere Fragen zu übertragen, etwa auf Entscheidungsmechanismen in der Europäischen Union, auf den westlichen Lebensstil, liberale Werte usw. Man kann dies mit dem polnischen analytischen Philosophen Tadeusz Ciecierski als „Paketdenken“ bezeichnen. Es beruht darauf, dass verschiedene im öffentlichen Raum existierende Ideen, Ansichten, Personen, Institutionen usw. ohne objektive und inhaltliche Grundlage miteinander verbunden werden. In diesem Fall hatte das bezeichnende Konsequenzen. Die Teilnehmer an der öffentlichen Debatte griffen immer öfter auf fertige Wortkombinationen, Argumentationen und Bilder von den Geflüchteten zurück. Unterschiedliche Elemente vereinten sich hier und riefen überraschende Assoziationen hervor, obwohl sie eigentlich kaum etwas miteinander zu tun hatten.

Der Flüchtlings-Tsunami und der sexuelle Dschihad

Und so schrieb und sprach man von einer Welle, einer Invasion, einer Flut von Flüchtlingen aus Ländern, wo Moslems die Mehrheit ausmachen. „Es sind Eroberer, keine Flüchtlinge“ – lautete ein Titel der rechten Wochenzeitschrift „Do Rzeczy“, und eine satirische Zeichnung in der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ zeigte ein mit Flüchtlingen angefülltes trojanisches Pferd. In diesem Krieg, hieß es, würden drei Arten von Waffen verwendet. Erstens – am sichtbarsten – Terrorakte. Zweitens die Demographie. In diesem Zusammenhang wurde von der sexuellen Unzucht der Geflüchteten geschrieben, von „hitzigen jungen Männern, die ihren Samen ausbringen” oder massenhaft Europäerinnen vergewaltigen.

Auch die Frauen hatten angeblich ihre Waffen. „Wenn wir die Dinge nicht selbst in die Hand nehmen“, schrieb ein katholischer Journalist, „werden uns die Moslems besiegen. Und zwar nicht mit Hilfe von Terrorismus, sondern mit den Gebärmüttern ihrer Frauen.“ Das war also die Vorstellung von einem „sexuellen Dschihad“. Die dritte Art von Waffe gehörte zum Repertoire des „sozialen Dschihads“. Die Flüchtlinge wurden als Menge mit einer großen Erwartungshaltung dargestellt, die nach den europäischen (vor allem deutschen) sozialen Wohltaten greifen.

Das so verstandene negative Denkpaket über die Moslems wurde von einem höchst kritischen Bild Westeuropas ergänzt. Es wurde als ein Ort beschrieben, an dem der sträfliche Fehler begangen worden war, die so genannte „Ideologie des Multikulturalismus“ zu verbreiten. Dabei hatte der Multikulturalismus in der Presse keine präzise Definition. Er war eher ein Schlagwort, das eine Reihe als negativ angesehener Dinge zusammenfasste. Dazu gehörten nicht nur Terroranschläge oder eine erfolglose bzw. misslungene Integrationspolitik, sondern auch der angebliche Niedergang der Nationalstaaten, die Schwächung der so genannten traditionellen Familie sowie der christlichen Moral. Alles dies zusammen sollte die „selbstmörderische“ oder „wahnsinnige“ Haltung der europäischen Eliten belegen, die das Leben und die Gesundheit ihrer nationalen Gesellschaften gefährdeten und angeblich Terror-Attentäter rechtfertigten. „Nun steht Deutschland vor dem nächsten Trugbild“, schrieb ein Journalist. „Trotz der gescheiterten Multikulti-Politik verordnet Angela Merkel den Deutschen neue Immigrantenscharen. Das ist so, als wollte man einen Kater mit Wodka behandeln.“

Gibt es ein positives Flüchtlingsbild?

Die liberalen Medien kritisierten die Radikalisierung der rechten Medien, wobei sie sich nicht selten selbst radikal äußerten. Man konnte aber auch ausgewogene und emotionslose Texte finden, die über die Lage von Flüchtlingen oder Zuwanderern aus islamischen Ländern berichteten.

Außerdem tauchten durch eine „Übernahme der Begriffe“ auch in der liberalen Presse negative Inhalte auf. Da zum Beispiel in den Massenmedien ausgesprochen häufig die Metapher von der Flüchtlingswelle zu lesen war (oder von einem Ansturm die Rede war, einer Flut oder gar von einem Tsunami), ließen sich auch in liberalen Medien Ausdrücke wie „Ansturm“ oder „Welle“ finden, oft mit einer Vorstellung von den Zuwanderern als „ungehobeltes Element“ oder „Naturkatastrophe“.

Es ist schwer zu sagen, ob dem negativen Gedankenpaket über die Moslems überhaupt ein „positives Paket“ gegenübergestellt wurde. Die rechten Politiker und Journalisten wurden von der liberalen Seite kritisiert, doch präsentierte man nicht viele positive Beispiele für die Integration von muslimischer Bevölkerung. Dadurch konnten sich die gesellschaftlichen Ängste noch verstärken.

Was weiter?

Über Flüchtlinge und Islam ist in den letzten Jahren in Polen viel Radikales gesagt und geschrieben worden. Es ist zwar schwer, direkte Kausalzusammenhänge zu belegen, doch muss man festhalten, zu welcher Veränderung es bei den Meinungsumfragen gekommen ist. Innerhalb weniger Jahre sind die Araber in Polen zu einer der unbeliebtesten ethnischen Gruppen geworden. Gegenwärtig äußern 67 Prozent der Befragten Abneigung ihnen gegenüber, was 21 Prozentpunkte mehr sind als bei einer analogen Befragung vor sechs Jahren. Sympathie gegenüber Arabern äußern gerade einmal 8 Prozent der Befragten. Auch der Prozentanteil von Menschen, die eine Aufnahme von Flüchtlingen aus arabischen Ländern ablehnen, ist hoch (57 Prozent).

Kaum weniger scharfen Äußerungen gab es zwischen den beiden grundlegenden weltanschaulichen Lagern in Polen, dem liberalen und dem konservativen, die die Zuwanderungspolitik des Staates diametral unterschiedlich sehen.

Die Polarisierung der Debatte hat dazu geführt, dass man keine längerfristigen Schlüsse ziehen kann. Personen aus dem national-konservativen Lager haben sich fast automatisch der Kritik des Islam und Westeuropas angeschlossen. Die Liberalen hingegen verteidigten diese beiden Fragen. Man machte sich keine Gedanken darüber, dass es in Polen in den letzten 30 Jahren zu einem Wandel gekommen ist, durch den das Land für Zuwanderer immer attraktiver wurde. Anders gesagt: Die Polen sollten ernsthaft darüber nachdenken, welches Einwanderungsmodell sie in ihrem Land haben wollen. Es mangelte auch an ernstgemeinten Fragen nach der Natur des Islam, nach seiner Differenzierung, nach dem Sinn der Vorschläge, den Islam an die europäischen Werte anzupassen usw. Dadurch gerieten die Liberalen in eine gedankliche Zwickmühle, da sie den Islam in Europa vollständig verteidigten, anstatt zwischen seinen liberaleren und seinen traditionalistischeren Strömungen zu unterscheiden. Aus allen diesen Gründen war die Debatte über die Flüchtlingskrise, auch wenn sie in ihrer Form radikal war, inhaltlich folgenlos. Und so kann sie bei der nächsten Gelegenheit, etwa bei den Parlamentswahlen 2019, wieder zu einem polemischen Werkzeug werden, anstatt eine Rolle in der wichtigen Diskussion über die Zukunft des Landes zu spielen.

Aus dem Polnischen übersetzt von Peter Oliver Loew.


Fußnote:


  1. Der Text stützt sich auf eine Durchsicht von Presse und Internet und basiert auf einem Bericht, den Łukasz Bertram, Adam Puchejda und Karolina Wigura sowie das Obserwatorium Debaty Publicznej Kultury Liberalnej (Observatorium für Öffentliche Debatten der Kultura Liberalna) für das Büro des Ombudsmanns für Bürgerrechtsfragen vorbereitet haben. Er trägt den Titel „Negatywny obraz muzułmanów w polskiej prasie” (Das negative Bild der Muslime in der polnischen Presse; Online: https://www.rpo.gov.pl/sites/default/files/Raport%20Negatywny%20obraz%20muzu%C5%82man%C3%B3w%20w%20polskiej%20prasie.%20Analiza%20wybranych%20przyk%C5%82ad%C3%B3w%20z%20lat%202015-2016.pdf↩︎