Muslime als Spielball der Politik in Ungarn?
Zusammenfassung
Schon zu Zeiten der Landnahme im 9. Jahrhundert kamen Muslime ins Karpatenbecken, erst recht nach der Schlacht von Mohács 1526, die mehr als 150 Jahre Türkenherrschaft in Ungarn besiegelte. Heute leben nur noch einige tausend Muslime in dem Land: gebürtige Ungarn, Konvertierte, aber auch schon zu Ostblockzeiten Zugewanderte sowie Studenten und Flüchtlinge aus islamischen Ländern. Premier Viktor Orbán verhält sich ihnen gegenüber janusköpfig: Arabische Banker und Studenten umgarnt er, Flüchtlinge aus islamischen Ländern will er nicht haben. Die muslimischen Verbände beklagen die anti-islamische Rhetorik der Regierung, die das Klima nachhaltig vergiftet.
Anfang 2017, eine schmucklose Halle der HungExpo in der ungarischen Hauptstadt. Der Ort hat den Charme einer Turnhalle, Angehörige müssen hinter Flatterband stehen, vor den 532 frischgebackenen Grenzschützern haben sich Politiker aufgebaut. Blaue Uniformen, weinrotes Schiffchen auf dem Kopf, so harren die Rekruten aus, bis Viktor Orbán ihnen einen „Guten Morgen“ zuruft, den Gruß beantworten sie brüllend mit „Kraft und Gesundheit“. Das uniformierte Orchester spielt in getragenem Tempo die Nationalhymne, in der Gott angefleht wird, sein schützendes Schwert über die Ungarn zu halten. Dann kommt der Befehl: „Kappen runter“. Die Schiffchen verschwinden von den Köpfen, die Finger erheben sich zum Schwur. Die Grenzschützer sind die ersten von 3.000 neuen Wächtern über die 175 Kilometer lange Grenze, die die Regierung im Jahr der Flüchtlingskrise 2015 errichten ließ. „Sie werden Europa verteidigen, wie wir das schon seit 500 Jahren tun“, richtet sich der Premier an die Beschützer der EU-Außengrenze. Dieses Motiv vom (christlichen) „Grenzwächter Europas“ gegen eine islamische Bedrohung wird Viktor Orbán künftig beständig wiederholen, zuletzt auch auf der CSU-Klausurtagung in Bad Seeon Anfang 2018.
Islam – die Religion des Feindes
Der ungarische Premier greift tief ins kollektive Gedächtnis der Ungarn, um einen mittelalterlichen Mythos zu beleben. In Ungarn ist ein Gedicht von Bálint Balassi populär, das Lob der Grenzhüter, die „unter Einsatz ihres Lebens die Türkenscharen abwehren“, schreibt der Schriftsteller György Dalos in seinem historischen Lesebuch Ungarn in der Nußschale. Jedes Kind liest in der Schule die „Sterne von Eger“, in dem Autor Géza Gárdonyi den heldenhaften Kampf der zahlenmäßig unterlegenen Burgbesatzung von Eger gegen eine überlegene osmanische Streitmacht beschreibt. „Heißes Wasser auf ihre Glatzköpfe“ – den Schlachtruf der auf den Zinnen gegen die Türken kämpfenden und im Roman zu Co-Helden verklärten Frauen – kennt jedes Kind in Ungarn. Im Bewusstsein der Ungarn ist der Islam „die Religion des Feindes“, sagt Zoltán Szabolcs Sulok, Präsident der Muslimischen Religionsgemeinschaft Ungarns – einem der beiden Dachverbände in Ungarn.
Eine Gedenkstätte im südungarischen Mohács erinnert an die Schlacht von 1526, die den Beginn von mehr als 150jähriger Türkenherrschaft besiegelte. „Nach Mohács und indem das Osmanische Reich an Macht gewann“, sagt Sulok, der im Nahen Osten, aber auch an der Online-Universität von Medina die Religion studiert hat, „breitete sich auch der Islam wieder in Ungarn aus“. Dabei war er schon seit dem 10. Jahrhundert präsent gewesen. Muslimische Stämme waren bei der Landnahme mit ins Karpatenbecken gekommen, davon berichtet die Chronik Gesta Hungarorum. Von ihrer Existenz zeugen heute noch Ortsnamen wie Hajdúböszörmény, hinter denen sich die „Bessermenen“ verbergen. Auch die Türkenherrschaft hat Spuren hinterlassen: Die Bäder, einige Minarette, das Grabmal des Gül Baba in Buda, Wörter wie „Oroszlán“ (Löwe) oder „Alma“ (Apfel), die auf die türkischen Wörter „Arslan“ und „Elma“ zurück gehen, selbst ein „Hungaricum“ wie Paprika ist über das Osmanische Reich einst nach Ungarn gekommen.
Bereits im 11. Jahrhundert werden aber bereits anti-muslimische Gesetze erlassen. König Koloman verfügt, dass muslimische Gemeinden für Kirchenbauten aufkommen müssen und zwingt die „Ismaeliten“ – wie die Muslime genannt werden –, Schweinefleisch zu essen und dieses auch ihren Gästen vorzusetzen. „Es gibt eine lange muslimische Geschichte“, fasst der Vorsitzende der Muslimischen Religionsgemeinschaft Ungarns zusammen, „aber kaum Muslime in Ungarn.“ Bei der Volkszählung von 2011 bezeichneten sich 5.579 Menschen als Muslime, die meisten davon Ungarn, außerdem im Land lebende Araber und Türken, aber Sulok geht von mehr aus – auch durch die Flüchtlingskrise, allerdings leben derzeit laut offizieller Statistik keine 3.000 Flüchtlinge in Ungarn. Weil die Habsburger-Monarchie Bosnien annektierte, wurde der Islam auch in Ungarn 1916 als Religion staatlich anerkannt. Die Regierung Orbán versuchte das mit einer Verfassungsänderung 2011 zu ändern, scheiterte aber am Widerstand der EU. „Rechtlich ist alles in Ordnung“, sagt Sulok, der Staat unterstütze etwa den fakultativen Religionsunterricht. „Aber ...“, fährt er fort und kommt auf die Kampagnen der Regierung seit der Flüchtlingskrise 2015 zu sprechen.
Muslime als Sündenbock
„Das Problem ist die Rhetorik führender Politiker“, beklagt Sulok in seinem Büro im ersten Stock eines ehemaligen Bürohauses in der Fehérvári út in Buda, einer schmucklosen Straße, die stadtauswärts führt. Die Eingänge sind mit Kameras gesichert, am Empfang sitzt ein junger Araber, der sich kaum verständigen kann. „Budapest Mecset“ – „Budapester Moschee“ steht in grünen Buchstaben auf weißem Grund an der Wand. Treppen führen zu einem großen Gebetsraum, der mit Teppichen ausgelegt ist. Daneben schließt Suloks Büro an, Gäste müssen die Schuhe ausziehen und auf Socken über den blau-grauen Teppichboden schlurfen, in einer Ecke liegen Schlafsäcke. Der 48jährige Sulok ist vor einem Vierteljahrhundert zum Islam gekommen, erzählt er, hat Antworten auf seine Fragen gesucht: „Wer bin ich? Wo gehe ich hin? Was soll ich hier? Ich habe im Islam darauf Antworten gefunden“, sagt der Mann mit dem Lincoln-Bart und der Ray-Ban-Brille, der eigentlich Wirtschaft studiert hat. Er sei „nur etwa zu 86 Prozent ein waschechter Ungar“, er trage französische Anteile in sich, deutsche, Siebenbürger, letztlich sei aber weder die Hautfarbe noch die Abstammung wesentlich. „Wir sind alle Adams Kinder“, betont er.
Anti-islamische Rhetorik
In den letzten drei Jahren wurde Ministerpräsident Viktor Orbán nicht müde, immer wieder zu betonen, dass die Ungarn eine „besondere Rasse“ seien, dass „der Islam nie zu Europa gehörte, sondern er kam herein“. In seiner Regierungserklärung zum Jahresbeginn 2018 türmte der Regierungschef ein bedrohliches Szenario vor seinen Zuhörern auf: „Europas schlimmste Alpträume“ würden wahr, die meisten Zuwanderer kämen „aus der islamischen Welt“. Die „islamische Zivilisation“, deren „Berufung“ immer auch die Eroberung Europas gewesen sei, werde in Zukunft „nicht nur im Süden, sondern auch im Westen an die Türen Mitteleuropas klopfen.“ Ungarn sei das „letzte westliche Land der Christenheit“, so Orbán, auch die orthodoxen Glaubensbrüder in Serbien, Rumänien und Bulgarien machten ihre Sache gut. Aber vor allem der Zaun und die verschärften Gesetze in Ungarn verhinderten, „dass die islamische Welt uns von Süden überrennt“. So schickt der ungarische Premier seine Zuhörer in eine innere Welt voll Pulverdampf und Pfeilhagel. Das Christentum sei „Europas letzte Hoffnung“, resümierte er auf einem Treffen der Christlich-Demokratischen Internationalen in Budapest im Februar 2018. Die EU, die Vereinten Nationen, Deutschland und Frankreich hätten dagegen „die Schleusen zum Untergang der christlichen Kultur und der Ausbreitung des Islam“ geöffnet. Seine eigene Rolle sieht er als „Grenzwächter“, als Bollwerk gegen den Islam. Er imaginiert eine Art neue „Reconquista“, eine christliche Rückeroberung Europas – Töne, die man sonst von Neu-Rechten wie den Identitären hört.
Wahlkampf-Schlager Islam
Seinen Ungarn macht Orbán seit Jahren Angst mit Plakaten und Anzeigen in regierungsnahen Medien, die (islamische) Flüchtlinge mit Terroristen in einen Topf werfen. Den ungarischen Muslim Sulok ärgert das. „Nicht jeder Migrant ist Muslim“, dekonstruiert er die Regierungspropaganda, „in der osmanischen Zeit rückten Armeen vor.“ Heute dagegen seien es Menschen, die eine Zukunft wollten und „nicht ihr Leben in einem türkischen Flüchtlingslager verstreichen lassen“. Und was die Terroranschläge des IS angehe, meint er, „der Ku-Klux-Klan hat ja auch nichts mit dem Christentum zu tun“, obwohl er das Kreuz als Symbol benutze. Der Muslimführer beklagt, dass durch die Kampagnen der Regierung viel „Luft aufgewirbelt worden sei“, die Geister, die Orbán & Co. gerufen haben, ließen sich aber nicht einfach wieder in die Flasche stopfen. Das Klima für Muslime sei rauer geworden. „Frauen mit Kopftuch werden auf der Straße angespuckt“, erzählt er, „man reißt ihnen das Kopftuch herunter“. Ungewöhnlich in einem Land, in dem die alten Frauen auf dem Land und junge Frauen in Trachtengruppen auch Kopftuch tragen. Zur Freiheit in Europa gehöre eben auch, meint der ungarische Muslim, „dass das Kopftuch genauso akzeptiert wird wie ein Piercing oder Tattoo, sich die Haare zu färben oder nackt herum zu laufen.“ Im Wahlkampf versuchte die Regierungspartei Fidesz die rechtsextreme Konkurrenz Jobbik auszubooten, indem sie deren Spitzenkandidaten Gábor Vona angriff. Er habe „seinen Schwur auf Allah abgelegt“, wurde er in regierungsnahen Medien verunglimpft, weil er vor türkischen Studenten den Islam als „letzte Hoffnung der Konservativen“ gepriesen hatte. Die zweite Dachorganisation der Muslime, die Ungarische Islamische Gemeinschaft, die sich am liebsten dem bosnischen Reis-al-Ulema, dem obersten Würdenträger in Sarajevo, unterstellen würde und nicht einem kroatischen Oberhaupt wie jetzt, gab angesichts des schmutzigen Wahlkampfs eine – polemische – Pressemitteilung heraus: „Das Schüren von Hass gegen Muslime geht unverändert weiter“, heißt es darin. Die ungarischen Muslime wüssten ja, dass Wahlkampf sei, aber „was hat eine Weltreligion und eine anerkannte Religionsgemeinschaft damit zu tun?“ Der Verband bitte darum, nicht die „islamische Karte“ zu spielen.
Die Saat des Hasses geht auf
Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung forderte vier Jahre vor der Flüchtlingskrise Beklemmendes zutage: Mehr als die Hälfte der Ungarn fand, dass es „zu viele Muslime“ gebe. 600.000 Muslime lebten im Land, schätzten sie – und lagen mit ihrer „gefühlten Wahrheit“ weit daneben. Passanten auf dem zentralen Deák-Platz in der Budapester Innenstadt sind geteilter Meinung. „Das ist ein christliches Land“, sagt ein Regierungsanhänger. „Ich brauche hier keine muslimische Minderheit“. Ein Zeuge Jehovas findet es „beschämend, „dass Ungarn Muslime sind“. Zwei junge Männer sind der Meinung: „Es gibt Religionsfreiheit.“ Die Christen seien ja auch in der Öffentlichkeit zu sehen. Deshalb: „Kein Problem mit denen“. Es gebe ja auch „Chinesen, Schwarze, andere“, meint ein Arbeiter auf einer Baustelle, „Hoffen wir, dass es mit denen keine Probleme gibt, von denen im Fernsehen berichtet wird“. Das staatliche Fernsehen und andere regierungstreue Medien berichten ausführlich von Problemen mit Muslimen in West-Europa: Terroranschläge, Angriffe auf Frauen, die Übergriffe während der Silvesternacht 2016 in Köln.
Orbán umschmeichelt Muslime
Der Budapester Opernsänger László Ágoston machte 2016 einen Test: Er veröffentlichte auf seiner Facebook-Seite – ohne den Urheber zu nennen – folgendes Zitat: „Besonders hoch sollte der Islam, die zivilisatorische Wurzel der Muslime und Araber geschätzt werden. Man müsste den Koran neu lesen. Würden unsere Banker die Vorschriften der Scharia kennen, wären wir schon viel weiter.“ Der junge Sänger investierte ein paar Euro, um gezielt Orbán-Fans über Facebook anzusprechen. Mit Erfolg. Schon bald setzte ein Shitstorm ein. Ob er verrückt sei, beschimpften sie den Sänger in dem sozialen Netzwerk. Doch der hatte nur dem Regierungschef eine Plattform geboten. Das Zitat stammte von Viktor Orbán selbst. Im Budapester „Hilton“-Hotel hatte er auf einer Tagung arabischer Banker gesprochen. Auch mit Pässen für Araber, Chinesen und Russen war die Regierung sehr freigebig. Für 360.000 Euro konnten die sich einen ungarisches Reisedokument – und damit Zugang zum Schengen-Raum – kaufen.
Hasspegel senken
„Im Islam ist nur eins wichtig“, sagt Moschee-Vorsteher Sulok, „die Taten des Menschen.“ Der Islam gehöre seit dem Jahr 711 zu Europa, Al-Andalus stehe auch für eine kulturelle Blütezeit. „Insofern kann man nicht nur von christlich-jüdischer Kultur sprechen“, sagt Sulok, sondern von christlich-jüdisch-muslimischer Kultur. „Diese drei Kulturen prägten Europa“, sagt er. Überall haben Muslime ihre Spuren hinterlassen, auch in Ungarn. In der Budapester Moschee liegen Flyer aus, die für eine Stadtführung unter islamischen Vorzeichen werben. Zoltán Szabolcs Sulok fordert, exponierte Vertreter des Staates müssten sich öffentlich auch positiv äußern. Das könne dazu führen, dass „in den Medien nicht nur ein Lied gespielt wird“. Nur so könne der „Hasspegel“ wieder sinken. König Stephan der Heilige hatte in seinem Testament seinen Sohn ermahnt, Fremde zu achten. „Ein Land, das nur einerlei Sprache und einerlei Sitten hat, ist schwach und gebrechlich“, so die Weisheit des ungarischen Staatsgründers, Fremde seien von Nutzen. Seine „heilige rechte“ Hand ist in der Budapester Basilika als Reliquie hinter Glas zu bestaunen.