Ein Land mit ungewöhnlicher Geschichte – Montenegro

aus OWEP 4/2018  •  von Konrad Clewing

Dr. Konrad Clewing ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg. Sein Arbeitsschwerpunkte ist die Geschichte des südslawischen und albanischen Raums, außerdem ist er am IOS Mitherausgeber mehrerer Grundlagenwerke zu Südosteuropa als Ganzem (darunter 2011 eine Gesamtdarstellung im Pustet-Verlag, 2016 ein Lexikon und das laufende Projekts eines „Handbuchs zur Geschichte Südosteuropas“).

Zusammenfassung

Der Beitrag bietet einen Überblick zu der Geschichte Montenegros vom Mittelalter bis zum Zerfall von Tito-Jugoslawien. Hervorgehoben werden die im regionalen Vergleich ungewöhnlich alte, stark ausgeprägte Tradition der montenegrinischen Staatlichkeit im Kernbereich des Landes und die in ethnoreligiöser Hinsicht ausschließlich christlich-orthodoxe Grundierung dieser Staatstradition im längsten Teil der Neuzeit. Erst mit weiteren territorialen Ausdehnungsschritten ab 1878 erlangte Montenegro schrittweise seinen heutigen multiethnischen und multireligiösen Charakter. Unter der christlich-orthodoxen Mehrheitsbevölkerung konkurrieren bis heute ein (zunehmend überwiegendes) nationales montenegrinisches und ein serbisches Selbstverständnis.

Vielfalt der Geschichtsregionen und Kontinuität des historischen Kerns

Auf einer politischen Europakarte im üblichen Maßstab ist es gar nicht so einfach, Montenegro überhaupt zu entdecken. Und auch in seiner direkten Umgebung, im kleinteilig gegliederten Südosteuropa, gibt es erst seit 2008 mit Kosovo einen Staat, der noch ein Stück kleiner ist als Montenegro. Kulturgeschichtlich allerdings vereint es dennoch eine Vielfalt an historischen Unterregionen, die in Europa nur wenige andere Länder zu bieten haben.1 Da ist zum einen der naturräumlich spektakuläre Küstenstreifen um die Bucht von Kotor, der über Jahrhunderte hinweg venezianisch und dann später noch einmal gut einhundert Jahre bis 1918 Teil des damals österreichischen Dalmatien war. Zu Montenegro gehört dieses Gebiet erst seit dem Zweiten Weltkrieg. Direkt südlich schließt sich über Bar bis nach Ulcinj als noch schmalerer Küstenstreifen eine orthodox-katholisch-muslimische und in sprachlicher Hinsicht montenegrinisch-albanische Übergangszone an, die Montenegro 1878 beziehungsweise 1880 erworben hat. Südöstlich der Hauptstadt Podgorica, die wie der Norden des Landes (rund um Nikšić) auch erst seit 1878 zu Montenegro gehört, liegt auf der Höhe von Tuzi ein Grenzstreifen, der erst im Ersten Balkankrieg von 1912/13 erworben wurde und ethnographisch vor allem zur Kulturlandschaft des nordalbanischen Berglands zählt. Weiter im Nordosten folgt mit der Region von Plav und Gusinje eine weitere klar erkennbare Teilregion, mit bosniakisch-albanisch-montenegrinischer Prägung und ebenfalls 1912/13 erworben, ehe längs der Grenze zu Serbien und bis hinauf zum Dreiländereck mit Bosnien und Herzegowina der seit dem gleichen Jahr montenegrinisch gewordene Anteil an dem ethnographisch stark bosniakisch und darüber auch bis heute stark vom osmanischen Erbe geprägten Sandschak (Bezirk) von Novi Pazar folgt.

All diese Teile machen Montenegro heute mit aus und sind für jeden im Land Reisenden noch deutlich zu erkennen. Verglichen mit ihrer territorialen Summe ist der Kern der montenegrinischen Kultur- und Staatstradition, der rund um die alte Hauptstadt Cetinje gelegen ist, nur klein. Dafür ist dieser Kern aber historisch umso auffälliger und bemerkenswerter.

Die beiden Stadien von internationaler Anerkennung der modernen Eigenstaatlichkeit Montenegros sind zwar nur kurz: Das erste ging von 1878 bis 1918/19, das heutige hat erst 2006 begonnen.2 Trotzdem verfügt Montenegro in jenem Kern über eine weit ältere und nie ganz unterbrochene Tradition von erkennbarer Eigenständigkeit, die trotz erheblicher Brüche in Sachen Kontinuität mit Ausnahme von Kroatien alle anderen Staaten der Region in den Schatten stellt und für den einst osmanischen Balkan überhaupt einzigartig ist. Denn der Vergleich zeigt, dass dort für andere einstige mittelalterliche und spätere moderne Staaten wie Serbien oder Bulgarien alle Formen von Eigenständigkeit für lange Jahrhunderte komplett gefehlt haben.

Schon der Name „Crna Gora“ (schwarzes Bergland, schwarzer Berg), der in die meisten westeuropäischen Sprachen in der aus dem Italienischen übernommenen Form als „Montenegro“ verwendet wird, hat ein erhebliches Alter (der Erstbeleg steht in einer serbischen Königsurkunde von 1276). Davor aber steht bereits eine Tradition von teilweiser oder völliger Eigenständigkeit anders benannter mittelalterlicher Gebilde rund um den historischen Kern Montenegros, in einer längeren Dauer von im byzantinisch-ostkirchlichen Bereich verankerten, aber mehrfach auch nach Westen und westkirchlichen Einflüssen hin geöffneten südslawischen Herrschaftsgebilden.

„Duklja“ (Dioclia, Diokletien) steht hier als erstes in der Reihe. Allerdings wissen wir von seinen Anfängen, in denen es bis tief in das 10. Jahrhundert hinein ein bloßes Verwaltungsgebiet von Byzanz gewesen ist, fast nichts. Immerhin ist für das 9. Jahrhundert ein Archont von Dioclia als erster überlieferter byzantinischer Amtsträger oder halbselbstständiger Teilherrscher aus den Quellen bekannt. Viel plastischer tritt Jovan Vladimir hervor (gest. 22. Mai / 4. Juni 1016), den man ab ca. 990 als Fürsten in den Quellen finden kann. An der byzantinisch-bulgarischen Konkurrenz, die ihm Aktionsraum verschaffte, ging er jedoch am Ende auch zugrunde. In der serbisch-orthodoxen Kirche erlangte er dafür den Rang als Märtyrer und erster in der Reihe der serbischen Herrscherheiligen. Die bald nach Jovan Vladimirs gewaltsamem Tod wiederhergestellte byzantinische Herrschaft wurde jedoch ihrerseits im Jahre 1040 durch einen von Jovan Vladimirs Neffen Stefan Vojislav geführte Aufstand erschüttert. Der neue Fürst begründete die nach ihm Vojislavljevići benannte Dynastie, die das ab dem 12. Jahrhundert zunehmend als Zeta bezeichnete Gebiet bis zu dessen Erwerb durch den serbischen Zaren Stefan Nemanja (1183) regierte.

Eine der längsten und erfolgreichsten individuellen Regierungszeiten war die von Michael (Mihailo), der vom Papst 1077 als König belehnt wurde und mit der Gründung des römischen Erzbistums Bar (1089) unter den Bedingungen der frühen Kirchenspaltung auch die religionspolitische Unabhängigkeit seines Landes erreichte. Nachdem der Erwerb durch die Nemanjiden eine ostkirchliche Umkehrung der Verhältnisse gebracht hatte (während die Zeta als Herrschaftsgebiet des jeweiligen serbischen Thronfolgers ansonsten eine gewisse Eigenständigkeit bewahrte), wurde sie unter erneuter Unabhängigkeit unter dem Geschlecht der Balšić (albanisch: Balsha) ab etwa 1360 noch einmal westkirchlich ausgerichtet. 1421 kam ein verbliebener Rest des Landes (die „Untere Zeta“, im Gebiet rund um den Skutari-See) 1421 in den Besitz des serbischen Teilfürsten („Despoten“) Stefan Lazarević und dann in den der serbischen Familie der Crnojevići, die diesen Besitz bis 1499 gegen die Osmanen behaupten konnten. Der von von dieser Familie trotz enger Beziehungen zu Venedig markierte erneute Wechsel der spätmittelalterlichen Zeta hin zur Orthodoxie sollte eines ihrer bleibenden Vermächtnisse für die Geschichte Montenegros werden.

Montenegro unter osmanischer Herrschaft und als teilsouveränes orthodoxes Fürstbistum (1499-1851)

In sonstiger Hinsicht bedeutete der Herrschaftsübergang an die Osmanen einen weit wesentlicheren Einschnitt, als das romantische und staatspolitisch nützliche Geschichtsbild des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Rückblick wahrhaben wollte. Montenegro, so ging die anachronistische Legende, sei nie richtig unterworfen worden. Tatsächlich aber wurde es sehr wohl in die osmanischen Strukturen von Verwaltung und Steuerwesen, ja zeitweise auch Heeresfolge integriert. Dass letztere allerdings nur auf dem „eigenem“ Gebiet abgeleistet werden musste, verweist doch auch gleich wieder auf einen wahren Kern der besagten Legende – eine gewisse Sonderstellung blieb also erhalten. Ähnlich wie im benachbarten Nordalbanien griffen die Osmanen auch nur wenig in die Regelung des Alltags ein, der nach dem Gewohnheitsrecht der Stämme erfolgte. Diese selbst waren dabei in dem Nukleus des neuen Montenegro nicht nach Abstammung verstanden und geordnet, sondern rein geographisch. Das unterschied sie von den noch länger vorhandenen und deshalb besser bekannten slawischen Nachbarstämmen auf genuin osmanischem Gebiet wie auch von denen der Nordalbaner, die sich allesamt als (z. T. fiktive) Abstammungsgemeinschaften begriffen.

Schritte, die auf eine Einrichtung einer stammesübergreifenden Autorität abzielten, unternahmen ab dem späten 17. Jahrhundert die orthodoxen Bischöfe von Cetinje. Zu nennen ist insbesondere der Begründer (aber nicht Stammvater, da Bischöfe in der Orthodoxie unverheiratet und kinderlos sein müssen; die Stammfolge ging daher vom Onkel auf den Neffen) der Bischofsdynastie Petrović Njegoš, Bischof Danilo (Bischof 1697-1735). Danilo festigte seine Stellung auch als Herrscher in weltlichen Dingen (zumal durch die Schaffung eines obersten Gerichts, das bei Stammesfehden entscheiden und Selbstjustiz beschränken sollte). Auch kamen unter ihm und durch ihn die Montenegriner außer mit dem benachbarten Überseegebiet von Venedig erstmals auch mit einer weiteren Großmacht in Kontakt, dem Russland von Zar Peter I. (dem Großen). Danilo reiste 1715 persönlich dorthin, und von der Zeit an sollte das Zarenreich als orthodoxer Großstaat zu einer Art Schutzherrn auch Montenegros werden, der dessen Verselbstständigung vom Osmanischen Reich unterstützte. Verselbstständigung und Erwerb von zuvor kernosmanischem Gebiet bedeutete von Danilos Herrschaft an bis 1878 freilich zugleich immer auch Verdrängung, wenn nicht Ermordung oder Zwangskonversion der neben den Orthodoxen ansässigen Muslime.3 Man weiß zwar nicht, ob das im Allgemeinen auf Weihnachten 1702 datierte (und von Danilos späteren Erbfolger Petar II. Petrović Njegoš 1847 in seinem „Bergkranz“ – Gorski vijenac – besungene) handstreichartige Massaker an den einheimischen Muslimen („Türken“) wirklich als solche Einzelaktion vollzogen wurde oder in einer Abfolge von Kämpfen. Gesichert ist aber der gewaltsame Verdrängungsprozess an sich; zu bedenken ist dabei, dass in der Tat durch nichts der Anspruch auf faktische Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich so deutlich untermauert werden konnte wie dadurch, die in diesem Reich privilegierte Religion und deren Anhänger auf dem montenegrinisch kontrollierten Gebiet in keiner Weise zu dulden.

Verstärkt wurden die Bestrebungen zur Stärkung der Zentralgewalt und zur Pflege internationaler Kontakte in der langen Amtszeit von Petar I. Petrović Njegoš (1784 1830). Unter ihm gab es 1796 entscheidende Siege gegen die Osmanen und es erfolgte der Anschluss der östlich an den alten Kern angrenzenden slawischen Bergstämme (Brda). 1798 wurde auch ein erstes verschriftlichtes Allgemeines Gesetzbuch für Montenegro und dieses neu angeschlossene Gebiet verfasst, ein Beratungsgremium institutionalisiert und mit all dem die Grundlagen für eine im moderneren Sinn verstandene Staatlichkeit gelegt. Petars Neffe und Nachfolger Petar II. (1830 1851) setzte diesen Kurs beharrlich fort. Auch dass die Bewohner in jenen Jahrzehnten weiterhin noch nahezu ausnahmslos des Lesens und Schreibens unkundig waren und in großer Armut lebten (dies noch etwas mehr als ihre nähere Umgebung), stand dem nicht entgegen. Ihre Wehrhaftigkeit und ihr in schlechten Jahren für Feldbau und die dominante Viehhaltung überlebenswichtiges Streben nach Raubzügen in der Nachbarschaft ließen sich vielmehr für die Festigung nach außen und die schrittweise Ausdehnung des Gemeinwesens auf immer neue Grenzzonen gegen das Osmanische Reich effektiv verwenden.

Weltliches Fürsten- und Königtum (1852 1918) und Stellung in Jugoslawien

1852 waren die Strukturen soweit gefestigt, dass der von Petar II. bestimmte neue Erbfolger Danilo zur Umwandlung des Fürstbistums in ein weltliches Fürstentum schreiten konnte. Dass dies gelang, war auch Folge von außenpolitischem Glück – und Frucht einer Situation, in der Montenegro bereits zu sehr Akteur geworden war und zu viele strategische Interessen mit ihm verbunden waren, als dass das Konzert der europäischen Mächte seinen Untergang geduldet hätte. Auf diese Weise griffen Russland und Österreich (unter seinem vor kurzem, Ende 1848, ins Amt gelangten jungen und antirevolutionären Kaiser Franz Joseph I.) ein, als das Osmanische Reich, welches Montenegro völkerrechtlich gesehen mit einigem Recht weiterhin als ein ihm zugehöriges Gebiet betrachtete, in einer Strafaktion gegen diese einseitige Umwandlung der staatlichen Verhältnisse schon militärisch gewonnen hatte. Aber auch nach der wiederum von den Großmächten erzwungenen ersten wechselseitigen Grenzfestlegung zwischen dem Osmanischen Reich und Montenegro sollten Grenzstreitigkeiten (und montenegrinisches Ausdehnungsstreben) eine Grundkonstante bis hin zum Ersten Weltkrieg bleiben.

Der letzte Fürst und (ab 1910) erste König von Montenegro, Nikola I. (auch er mit Langzeitherrschaft: 1860-1918) ging den Kurs des inneren und äußeren Ausbaus des Staates weiter. Er erreichte nach zwei offenen, auch militärisch durchaus erfolgreichen Kriegen gegen das Osmanische Reich (1876 und 1877/78), die Montenegro an der Seite Serbiens beziehungsweise im letzteren Fall auch Russlands führte, 1878 auf dem Berliner Kongress die völkerrechtliche Anerkennung der vollständigen Unabhängigkeit. Verbunden mit den Kriegsereignissen und dem Berliner Vertrag war eine große neue Erweiterung des Landes. Es erreichte erstmals einen Zugang zur Küste (bei Bar und kurz darauf auch Ulcinj) und wurde durch die allerneuesten Zugewinne erstmals zu einem wenigstens in kleineren Zahlen multikonfessionellen und teils auch multiethnischen Staatswesen. Die Orthodoxie blieb freilich ungeachtet der nun für Muslime und Katholiken erstmals eingeführten Existenzrechte weiterhin Staatsreligion.

1905 gewährte der Fürst eine Verfassung, eine erste parlamentarische Vertretung folgte. Trotz der immer noch geringen Landesgröße und mancher Geringschätzung durch Mittel- oder Westeuropäer wie den deutschen Kaiser Wilhelm II., der etwa die Selbsterhebung zum Königreich 1910 mit an Verachtung grenzender Kritik bedachte4, gelang es Nikola I. und seiner Regierung, Montenegro zu einem aktiven europäischen Akteur zu machen. Seine Befähigung zu einer mit antreibenden Rolle im Bündnis der Balkanstaaten gegen das Osmanische Reich, durch das im Ersten Balkankrieg 1912/13 dessen fast völlige Verdrängung aus Europa geschah, kam keineswegs aus dem Nichts heraus. Der Gebietszuwachs war erneut spektakulär und langdauernd; bis auf die zu Kosovo gehörende nördliche Metohija sind alle damals erworbenen Territorien noch heute Teil des Landes.

Der Höhepunkt der Ausdehnung und der Status als Königreich kamen indessen kurz vor einem tiefen Einschnitt. Dessen Hintergrund liegt weniger direkt im Ersten Weltkrieg (in dem Montenegro erst nach großer Gegenwehr von Österreich-Ungarn erobert und besetzt werden konnte). Wichtiger war die im 19. Jahrhundert zunehmend und nicht bloß dynastisch definierte Konkurrenz zwischen der montenegrinischen und der seit dem serbischen Aufstand ab 1804 schrittweise auf den Plan getretenen serbischen Führung (und am Ende der beiden Staaten) um die jeweilige Rolle in dem von beiden als „serbisch“ verstandenen gemeinsamen Raum. Die Gründung des „Staates der Serben, Kroaten und Slowenen“ 1918 erfolgte unter zentralistischen und von der serbischen Dynastie angeführten Vorzeichen.

Darüber blieb die montenegrinische Gesellschaft lange in „grün“ und „weiß“ tief gespalten. Im Endresultat jedoch war angesichts der realen Machtverhältnisse in Montenegro selbst wie auch im von Belgrad her geprägten Gesamtstaat für montenegrinische Eigenständigkeit bis zum Zweiten Weltkrieg und vor allem bis zu der in diesem Krieg aufkommenden Partisanenbewegung kein Platz mehr.

In dem aus den im Partisanenkampf erreichten Strukturen geschaffenen sozialistischen und föderativen Nachkriegsjugoslawien erhielt Montenegro den Status als eine der sechs Republiken des Landes. Ab 1946 wurden die Montenegriner innerhalb der sozialistischen Nationalitätenpolitik als eigenständiges südslawisches Staatsvolk (Nation) konstituiert und behandelt. Die neue Hauptstadt war anstelle Cetinjes nunmehr das von 1946 bis 1992 als Titograd bezeichnete Podgorica. Tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel (Alphabetisierung, gezielte Schwächung religiöser und anderer nicht auf die sozialistische Ordnung bezogener Bindungen, Ausbau der Infrastruktur und geförderte Industrialisierung) setzte gerade in dieser Periode machtvoll ein. Bei den Angehörigen der slawisch-orthodoxen Mehrheitsbevölkerung dauerte freilich auch in dieser Phase eine zwiespältige Haltung darüber fort, ob sie ein von den Serben völlig losgelöstes Volk oder nicht vielleicht doch, wie im Selbstverständnis des 19. Jahrhunderts, gerade als Montenegriner die „besten aller Serben“ seien – freilich ohne dass darüber unter den Umständen der sozialistischen Herrschaft eine offene Debatte hätte stattfinden können. Das historisch gewachsene Verhältnis beider Begriffe („monenegrinisch“ und „serbisch“) wie auch des Landes Montenegro zu Serbien changiert auch deshalb bis heute zwischen Nähe und Distanz. Beim Zerfall Jugoslawiens setzte sich zunächst die „Nähe“ durch, denn die aus den Sozialisten hervorgegangene und von Slobodan Milošević schon in der zweiten Hälfte der 1980er Jahren auf seine Vorstellungen hin umgebaute politische Elite Montenegros entschloss sich zunächst, gemeinsam mit Serbien die so genannte „Bundesrepublik Jugoslawien“ zu bilden.

Wie sehr bei all dem bis heute die lange Dauer der montenegrinischen Geschichte im gesellschaftlichen Selbstverständnis fortwirkt (und zugleich: wie wenig die „montenegrinische Nation“ eine bloß beliebige Konstruktion oder auch „Erfindung“ durch die kommunistische Herrschaft darstellt), verdeutlicht am besten der Blick auf eine ethnographische Karte auf Basis der jüngsten Volkszählung von 2011. Er zeigt: Fast überall, wo der montenegrinische Staat sich schon bis 1878 gefestigt hatte, dominiert in unserem Jahrzehnt unter der slawisch-orthodoxen Bevölkerung das nationale Selbstverständnis als Montenegriner. Fast überall in den neueren Gebieten tritt auf einer abgesehen vom historischen Faktor gleichen ethno-kulturellen Basis dagegen ein überwiegendes Selbstverständnis als serbisch hervor. In den dortigen Teilregionen sind es heute vorab die slawisch-muslimische und die albanische Minderheit, welche angesichts ihrer historischen Erfahrungen mit serbischem Nationalismus dem unabhängigen Montenegro den Vorzug vor jeder denkbaren Verbindung mit dem östlichen Nachbarn geben. Der alte Kern des Landes und die hinzugekommenen Minderheiten sind es also, auf denen der Wille zu der 2006 erreichten völligen Selbstständigkeit bislang basiert. Das tiefere Vertrauen der heute serbischen oder serbophilen Teile seiner Bevölkerung im einstigen „Neumontenegro“ muss sich der Staat dagegen erst noch durch ein gutes Funktionieren in der Dauer seiner weiteren Geschichte erwerben.


Literaturhinweise:

  • Živko Andrijašević, Šerbo Rastoder: The History of Montenegro. From Ancient Times to 2003. Podgorica 2006.

  • Kenneth Morrison: Montenegro. A Modern History. London/New York 2009.

  • Radoslav Raspopović, Konrad Clewing (Hrsg.): Crna Gora i Njemački Rajh. Dokumenti iz Političkog arhiva Službe inostranih poslova u Berlinu, 1906-1910. Montenegro und das Deutsche Reich. Dokumente aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts in Berlin, 1906-1914. Bd. 1: 1905-1910. Podgorica 2016. (Bd. 2: 1910-1914 – demnächst ebenfalls zweisprachig und auch frei online zugänglich, in Herausgabe zusätzlich auch durch Edvin Pezo).

  • Elizabeth Roberts: Realm of the Black Mountains. A History of Montenegro. London 2007.

  • Antun Sbutega: Storia del Montenegro. Dalle origini ai giorni nostri. Soveria Mannelli 2006.

  • Holm Sundhaussen, Konrad Clewing (Hrsg.): Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. 2. Auflage. Wien/ Köln 2016 (diverse Einträge).


Fußnoten:


  1. Vgl. zur naturräumlichen Gliederung auch die Ausführungen von Daniel Göler im vorherigen Beitrag (besonders S. 243f. der gedruckten Ausgabe). Zur Orientierung dient außerdem die Skizze auf S. 308 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  2. Vgl. dazu den Beitrag von Vedran Džihić in diesem Heft. ↩︎

  3. Vgl. dazu Beitrag von Šerbo Rastoder in diesem Heft, besonders S. 294 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  4. Vgl. auch den Textkasten „Pontevedro“ unten auf S. 297 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎