Verschlungene Meere

Eine Einführung
aus OWEP 1/2019  •  von Michael North

Prof. Dr. Dr. h. c. Michael North ist Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Geschichte der Neuzeit an der Universität Greifswald. Neben zahlreichen Veröffentlichungen zur deutschen und niederländischen Geschichte erschienen von ihm auch die Bücher „Geschichte der Ostsee. Handel und Kulturen“ (2011) sowie „Zwischen Hafen und Horizont: Weltgeschichte der Meere“ (2016).

Zusammenfassung

Die Bedeutung der Meere für die europäische Geschichte kommt nicht allein durch ihre großflächige Prägung der Landkarte zum Ausdruck. Sie standen auch im Mittelpunkt bei der Erschließung und Herausbildung von Reichen sowie im Zentrum wichtiger Handelswege. Daher unternimmt der Autor den wohlbegründeten Versuch, die Geschichte Europas nicht aus der Perspektive der Länder, sondern der Meere zu skizzieren.

Dreiviertel der Erdoberfläche sind von Wasser oder Meeren bedeckt. Daher liegt die Bezeichnung Wasser- oder Meerkugel näher als Erdkugel. 90 Prozent des Güterverkehrs der Welt gehen über die Meere und 80 Prozent der Weltbevölkerung leben an Küsten oder im Hinterland der Meere. Viele Disziplinen – gerade historische – haben das Meer neu entdeckt: Die Wissenschaftshistoriker beschäftigen sich beispielsweise mit der Wissenschaft der Navigation, d. h. dem langen Weg zur Bestimmung der Längen- und Breitengrade. Literaturwissenschaftler erörtern die Konzeption und Repräsentation des Meeres. Sozialhistoriker nehmen die Hafenarbeiter, die Seeleute und die Piraten in den Blick, während sich Wirtschaftshistoriker dem globalen Handel und der Schifffahrt zuwenden. Schließlich befasst sich die Umweltgeschichte mit den Meeren, den Tsunamis, den ökologischen Veränderungen wie Verschmutzung und Erwärmung. Angesichts des vermehrten Interesses an der Globalgeschichte sind die Meere und Ozeane ein Thema und es entsteht eine neue historische Meereswissenschaft (new thalassology).

Das Meer fordert den Menschen in vielfältiger Weise heraus. Die Gewalt des Wassers verlangt Anpassung und Reflexion derjenigen, die vom Meer leben, und von denen, die von seiner Natur betroffen sind. Leben am Meer, Leben vom Meer und Leben mit dem Meer generiert eine Fülle von Vorstellungen und Praktiken, deren Untersuchung zu einer veränderten Sichtweise auf die Beziehung zwischen Meer und Land führen könnte. Das führt zu dem Versuch, die Geschichte nicht mehr aus der Perspektive des Landes, sondern des Meeres zu schreiben, z. B. in der Ausstellung „Europa und das Meer“.1

Das Meer und seine Rolle in der Geschichte

Mich interessieren die globalen Beziehungen, vor allem die verschiedenen Rollen des Meeres in der Geschichte. Ich denke dabei in erster Linie an den Austausch von materiellen und immateriellen Gütern über das Meer sowie die Migration von Personengruppen. Hier verbanden die Meere zur selben Zeit wie sie trennten; und auch die Menschen, die nicht selbst die Meere überquerten, waren von den Folgen des Kontaktes betroffen. Ebenso prägte die Auseinandersetzung mit dem Meer die menschlichen Gesellschaften. Von alters her bot es dem Menschen Ressourcen für den Lebensunterhalt, unabhängig davon, ob diese auf dem Meeresgrund lagen, im Wasser schwammen oder sich in Gestalt von Schiffen auf dem Meer bewegten. Daher versuchten Staaten, sich die Meere anzueignen, indem sie die Reichtümer und Passagen für sich beanspruchten und gleichzeitig für deren Sicherheit sorgten.

Menschen und Gesellschaften schreiben dem Meer unterschiedliche Rollen zu: als Lebensgrundlage, als Transportmedium, als Kriegsschauplatz, als Sehnsuchts- und Erinnerungsort (Rezeption der Meere, Imagination und Konstruktion).

Bei der Erforschung der Meere wirkt noch immer die Vision Fernand Braudels, der in seinem Werk La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II. (1949) erstmals eine Meeresregion in ihren naturräumlichen Bedingungen über die Jahrhunderte als Einheit darstellte, in der der Mensch dem Schicksal der Natur ausgeliefert war. Inspiriert durch Braudel haben verschiedene Historiker andere Meere nach dem Modell des Mittelmeers konstruiert.

Mit der Zeit hat man festgestellt, dass es nicht möglich und nicht sinnvoll ist, entsprechende Paradigmen auf den Atlantik oder den Pazifik anzuwenden. Darüber hinaus lässt eine Sichtweise, die ein Meer als geschlossenes System versteht, die Verbindungen auf globaler wie auf regionaler Ebene außer Acht. Die Netzwerke, die sich auf einem der Meere ausbilden, haben immer auch zur Anbindung an andere Meere geführt. Damit ergeben sich neue Perspektiven der globalen Geschichte.

Schon John Parry hat 1974 in seinem Buch The Discovery of the Sea bemerkt: „Alle Meere der Welt sind ein Einziges. Denn sie sind alle miteinander verbunden. Alle Meere, abgesehen von den Eismeeren, sind schiffbar.“ Auch das hat sich inzwischen durch die Erwärmung der Erde geändert, die es ermöglicht, die Eismeere in Richtung Osten oder Westen zu durchfahren.

Wenn man sich als Historiker mit den Meeren beschäftigt, sollte man sich für Verbindungen und Vergleiche interessieren. Dabei stehen die Menschen, die diese Verbindungen herstellten, im Mittelpunkt ebenso wie die Güter und Ideen, die von einer Welt in die andere Welt verschifft wurden. Der Vorteil einer solchen anderen Perspektive liegt darin, dass wir das Meer nicht länger aus dem nationalen Blickwinkel seiner Anrainer betrachten, sondern die Konnektivität der Meere in den Blick nehmen.

Die Geschichte von Nationen aus der Perspektive der Meere

Einige Beispiele mögen diesen Ansatz erläutern. Man könnte in der Antike beginnen, wo Phönizier und Griechen vom Mittelmeer aus gleichermaßen in das Schwarze Meer wie in den Atlantik vorstießen und auch eine Verbindung zum Indischen Ozean herstellten.

Nach der Antike waren die Wikinger oder Nordmänner das Bindeglied zwischen Nordsee, Ostsee, Schwarzem Meer und Kaspischem Meer; darüber hinaus drangen sie bis in den Nordatlantik vor. Sie tauchen erstmals in den Quellen des ausgehenden 8. Jahrhunderts auf, in denen Überfälle auf Klöster auf den Britischen Inseln und an der Mündung der Loire geschildert werden. Für das plötzliche Auftreten der Wikinger gibt es verschiedene Erklärungen. Bevölkerungsdruck und Landknappheit, die die Menschen auf die See zwangen, werden ebenso erwähnt wie die Kampfeslust junger Männer und die Gier nach leichter Beute. Führungspositionen in den Stammesgruppen (Häuptlinge) mussten immer wieder neu gewonnen werden. Hierzu gehörten nicht allein Kriegsglück und Ruhm, sondern auch der Aufbau einer Gefolgschaft, die ein erfolgreicher Krieger nur durch ständige Entlohnung mit Beute an sich binden konnte.

Als lohnendes Ziel bot sich das Frankenreich an, das trotz der Bemühungen Pippins und Karls des Großen noch nicht innerlich gefestigt, geschweige denn überall zu verteidigen war. Voraussetzung waren Schiffe und nautische Kenntnisse, die die Wikinger in besonderem Maße besaßen. Mit ihren hochseetüchtigen Schiffen segelten bzw. ruderten sie über die offene Nord- und Ostsee. Sie orientierten sich bei der Navigation an Sonne und Sternen sowie an Meeresströmungen und Wasserfärbungen. Mit größeren und kleineren Schiffen drangen die Wikinger über die Flussläufe ins Landesinnere vor, wo kaum ein Hafen vor ihnen sicher war.

Nicht nur in Skandinavien, sondern auch in der Nordseeinselwelt bildeten die Invasoren Herrschaften. Insbesondere die dänischen Könige, die von Jütland aus Häuptlinge und Kleinkönige unterworfen hatten, kontrollierten zunächst die benachbarten Inseln sowie die Passage zwischen Ostsee und Nordsee. Sie dehnten ihren Einfluss im Norden bis nach Viken, der Gegend um den Oslofjord, und im Süden bis zur Kanalküste aus. Die Eroberung Englands war dann nur folgerichtig. Um die Mitte des 9. Jahrhunderts nahmen die Dänen die Osthälfte Englands in Besitz und York wurde das Zentrum der dänischen Wikingerkönige. Sie forderten die Norweger in Irland heraus, wo diese sich ebenso wie auf den Orkneys, Shetlands und Hebriden niedergelassen hatten.

Das Meer als Handelsplatz

Weitere Möglichkeiten zu expandieren und Reichtümer anzuhäufen boten der Osten und der Ostseeraum. Bereits im 8. Jahrhundert bildeten Pelze aus dieser Region ein begehrtes Gut auf den westlichen Märkten. In der Folgezeit sollten dann die Ressourcen des Ostens systematisch erschlossen werden. Dies geschah vor allem von Schweden aus durch die Svear, die in den slawischen Quellen Rus oder Waräger (varjagi) genannt werden. Waräger ließen sich in Staraja Ladoga – ca. 15 km südlich der Mündung des Wolchow in den Ladogasee gelegen –, am Ilmensee und am Oberlauf des Dnjepr nieder, wo sie zusammen mit Slawen, Finno-Ugriern und Balten siedelten. Über Don, Wolga oder das Kaspische Meer erreichten sie die arabische Welt, in der sie große Silbermengen erhandelten oder raubten. Arabische Quellen berichten über die Waräger:

„Sie unternehmen mit Schiffen Streifzüge gegen die Slawen, bis sie dort ankommen, diese gefangen nehmen und nach der Hauptstadt der Chasaren und nach Bolgar bringen, um sie dort zu verkaufen. Sie besitzen keine Saatfelder, sondern nehmen nur das als Nahrung zu sich, was sie aus dem Land der Slawen ausführen … ihre Erwerbstätigkeit besteht aus dem Handel mit Zobeln, Eichhörnchen und sonstigen Pelzen. Sie verkaufen diese Pelze ihren Kunden und erhalten dafür ein stilles Vermögen in Münzgeld, das sie in ihre Gürtel binden.“

Andere arabische Historiker schildern Überfalle auf die Anwohner des Kaspischen Meeres. Bereits im Jahre 860 war eine warägische Flotte vor Konstantinopel aufgetaucht. Byzanz antwortete mit einer Politik der Umarmung und schloss Handelsverträge mit den Warägern. In Kiew am mittleren Dnjepr, einem weiteren Stützpunkt der Skandinavier im Slawenland, gründeten die Byzantiner eine Handelsniederlassung mit Kirche, deren Gottesdienste auf die heidnische nordische und slawische Bevölkerung ausstrahlten. Die Warägerführer umgaben sich mit einer Gefolgschaft aus Skandinaviern, der auch Rurik, der Begründer der altrussischen Dynastie der Rjurikiden, entstammte. Rurik und sein Sohn Oleg errichteten Stützpunkte, die sie wiederum mit ihren Gefolgsleuten besetzten, um so das Land zu kontrollieren. Hieraus entstanden die (regionalen) Fürstentümer wie Nowgorod, Pskow, Polozk oder Rostow. Die nachfolgenden Herrscher der Kiewer Rus, Igor und Olga (Ingvar und Helga), waren ebenso wie ihr Gefolge skandinavischer Herkunft, aber ihr Sohn und Nachfolger Swjatoslaw weist bereits im Namen auf eine slawisierte Dynastie hin. Die Krieger, die von der kaiserlichen Palastgarde in Byzanz rekrutiert wurden, waren nicht mehr ausschließlich Skandinavier. Slawen, Balten und Finnen gingen mit den Warägern eine Kulturgemeinschaft ein, die in den Handelsverträgen der Kiewer Fürsten mit Byzanz aktenkundig geworden ist. Während 911 allein 15 skandinavischstämmige Gesandte einen Vertrag aushandelten, werden im Jahre 944 schon 26 Gesandte und 28 Kaufleute erwähnt. Nach den Namen zu urteilen, handelte es sich in der großen Mehrheit um Skandinavier (47), aber es waren auch fünf Ostseefinnen bzw. Finnischstämmige, ein (litauischer) Jatwinger und möglicherweise ein Slawe vertreten. Letztere waren vor allem als Bootsbauer und vielleicht als Schiffer in den Handel mit Byzanz einbezogen.

Die Waräger oder Rus beschränkten sich aber nicht allein auf den Handel mit und Raubzüge nach Byzanz, sondern suchten hierzu auch die weitere Schwarzmeerregion, das Kaspische und das Asowsche Meer heim. Zu den Waren, mit denen gehandelt wurde, gehörten Sklaven, Felle, Wachs und Honig, die gegen Silber und Seide getauscht wurden. Daneben flossen Soldgelder aus Byzanz zu den Rus. Insbesondere das Chasarenreich, das die Region von der Wolga bis zur Krim beherrschte und damit das Kaspische mit dem Schwarzen Meer verband, vermittelte im Handel zwischen Zentralasien und dem Westen. In seinen Handelsniederlassungen an Wolga und Don trafen sich die Kaufleute aus Europa und Asien. Wikinger kamen nach dem Bericht des arabischen Reisenden Ahmad Ibn Fadlan regelmäßig aus dem Ostseeraum hierher, um Handel zu treiben. Aufgrund des mosaischen Glaubens der Chasaren zogen diese jüdische Kaufleute aus Byzanz und aus den arabischen Gebieten an. Jedoch war das Chasarenreich kurzlebig, denn die Waräger und die Fürstentümer, die aus ihren Gefolgschaften entstanden, expandierten zunehmend auch nach Südosten und drängten die Chasaren weitgehend zurück.

Während die Wikinger im Osten mit Hilfe von Küsten- und Flussschiffahrt bis in das Schwarze und das Kaspische Meer gelangten, waren sie westlich der Britischen Inseln vor die Herausforderung der Fahrt über den offenen Atlantik gestellt. Sowohl die Islandsagas als auch archäologische Funde auf Island, Grönland und in Nordamerika bestätigen dies. Zeitgenössische Chronisten berichten über Schifffahrtsaktivitäten und Siedlungsbewegungen auf den Inseln im Nordatlantik. Aus der vielfältigen Überlieferung ergibt sich, dass Island nach 870 von „Wikingern“ aus Norwegen und den Britischen Inseln besiedelt wurde. Die Datierung ergibt sich aus einer Vulkaneruption im Jahre 871, finden sich doch direkt auf einer Schicht aus Vulkanasche die Reste der ältesten isländischen Niederlassungen. Die Sagas und die Chronisten berichten, dass Isländer am Ende des 10. Jahrhunderts nach Grönland aufgebrochen seien, um dort zu siedeln. Auch Erzählungen über eine Fahrt nach Nordamerika um das Jahr 1000 sind vorhanden, die durch die Entdeckung der Siedlung von L’Anse aux Meadows im nördlichen Neufundland bestätigt zu sein scheint.

Über die Meere brachten die Wikinger, aber auch friesische und slawische Kaufleute als Vermittler die verschiedenen kommerziellen Sphären zusammen. Während der Sklavenhandel von den Britischen Inseln über die Ostsee, die Rus, das Schwarze, das Kaspische und das Mittelmeer umspannte, schuf das arabische Silber, das aus Zentralasien stammte, die Basis für eine neue europäische Silbergeldwirtschaft. Die Navigationsrouten der Wikinger von der Ostsee zum Schwarzen Meer und von der Ostsee zur Iberischen Halbinsel legten die Grundlage für den künftigen maritimen Handel. Zur selben Zeit, als die Wikinger die Meere miteinander verbanden, finden wir im Mittelmeer zahlreiche jüdische und arabische Netzwerke, die diese Region mit dem Indischen Ozean verbanden. Sie wurden im Laufe des Mittelalters durch die Kaufleute der italienischen Stadtrepubliken (Genua, Pisa oder Venedig) ersetzt, die regelmäßige Handelsverbindungen und Niederlassungen am Schwarzen Meer und am Asowschen Meer, in der Levante, Ägypten, Nordafrika, aber auch an der Nordsee, in Brügge und London etablierten. Mit der europäischen Expansion des 16. und 17. Jahrhunderts wurden diese Verbindungen von Spaniern, Portugiesen, Niederländern und Engländern über den Atlantik und den Indischen Ozean weiter ausgebaut.

Die Meere verknüpften nun die meisten Weltregionen, indem sie den Verkehr von Gütern und Personen bis in die entlegensten Gebiete ermöglichten. So wurden Luxusgüter wie etwa Zucker durch den Anbau in der Neuen Welt und die Verschiffung nach Europa zu Massengütern.

Aber die Rolle der Meere geht über die eines Transportmediums hinaus. So prägte der Austausch über die Meere die beteiligten Gesellschaften und ließ neue Gesellschaften jenseits der Meere entstehen.


Fußnote:


  1. Ort der Ausstellung „Europa und das Meer“ (13.06.2018 - 06.01.2019) war das Deutsche Historische Museum in Berlin (vgl. auch https://www.dhm.de/ausstellungen/archive/2018/europe-and-the-sea.html - Link mittlerweile inaktiv!). ↩︎