Mehr als ein türkisches „mare nostrum“ – das Marmarameer in der Antike und heute

aus OWEP 1/2019  •  von Andreas Gerstacker

Dr. Andreas Gerstacker ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Alte Geschichte der Helmut-Schmidt Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg.

Zusammenfassung

Das Marmarameer, in der Antike Propontis (Προποντίς) genannt, verbindet das Mittelmeer mit dem Schwarzen Meer einerseits und die Kontinente Asien und Europa andererseits. Zwischen zwei Meerengen gelegen, den Dardanellen (Hellespontos) und dem Bosporus (Bosporos Thrakios bedeutet „thrakischer Bosporos“), war das Marmarameer wegen seiner zweifachen Brückenfunktion seit der Antike immer wieder von großer politischer und kultureller Bedeutung. Auf den folgenden Seiten sollen einzelne Etappen der Geschichte des Marmarameeres schlaglichtartig beleuchtet werden. Der inhaltliche Schwerpunkt wird dabei zeitlich auf der Antike und thematisch auf Fragen der Geopolitik liegen, aber einzelne Linien werden auch bis in die jüngere Geschichte ausgezogen.

Geographischer Rahmen

Das Marmarameer misst an seiner breitesten Stelle ca. 74 km, weist eine maximale Länge von 252 km, eine Fläche von ca. 11.500 km² und eine Küstenlinie von ca. 927 km auf. Seinen heutigen Namen hat das Meer von der Marmara-Insel (Prokonnesos) in seinem südlichen Teil, die im Altertum für ihren Marmor berühmt war. Der das Marmarameer zum Schwarzen Meer hin begrenzende Bosporus ist ca. 32 km lang und misst in der Breite zwischen ca. 550 m und ca. 3,3 km. Zum Mittelmeer hin führt der Weg durch die Dardanellen, die ca. 65 km lang und zwischen 1,2 und 7,5 km breit sind.

Unter den antiken Autoren, die über die Propontis schrieben, befinden sich so bedeutende Schriftsteller wie Aischylos (Perser 875-877), Herodot (Historien 4,85,4), Polybios (Historien 4,39-44), Strabo (Geographica 2,5,22; 13,1,1-11), Plinius der Ältere (Naturgeschichte 4,76) und Ammianus Marcellinus (Res gestae 22,8,5-7).

Karte des Marmarameeres (Propontis) in der Antike [Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f1/ Hellespont_Shepherd_1923.jpg. (Autor: William Robert Spepherd, 1923)]

Die Bedeutung der Ost-West-Verbindung zwischen Europa und Asien war in den deutschen Geschichtswissenschaften durchgehend präsent, man denke nur an die Perserkriege und die Kriege Roms mit den hellenistischen Königreichen. Auch die Kreuzzüge des Mittelalters und die Expansion des Osmanischen Reiches von Kleinasien nach Europa in der frühen Neuzeit hielten das Interesse wach. Anders sah es mit der Bedeutung der Nord-Süd-Verbindung zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer aus. Diese Route und ihre geschichtliche Bedeutung erhielten nicht zuletzt als Folge der Teilung Europas entlang des Eisernen Vorhangs nicht immer die ihr zustehende Aufmerksamkeit. Erst seit dem Ende des Kalten Krieges erwachte das Interesse daran erneut. Damit einhergehend ist wieder zunehmend in den Vordergrund gerückt, dass es in der Antike zwei „Mittelmeere“ gegeben hat, unser Mittelmeer und das Schwarze Meer. Auch letzteres war fast vollständig von griechischen Städten (Poleis) umgeben, zu deren bedeutendsten Sinope an der Südküste, Olbia an der Mündung des Bug (Hypanis) sowie Chersonesos (bei Sewastopol) und Pantikapaion (bei Kertsch) auf der Halbinsel Krim (Chersonesos) gehörten.

Die Zeit der Legenden

Die große Bedeutung des Marmarameeres als Verbindung zwischen der griechischen Welt der Ägäis und dem Schwarzen Meer spiegelt sich bereits in den Mythen über die griechische Frühzeit wieder. So reiste Jason mit seinen Argonauten durch die Propontis nach Kolchis an der Ostküste des Schwarzen Meeres. Dabei erlebten sie unter anderem in Kyzikus (heute Baliz) und Kios (römisch Prusias; heute Gemlik) an der Südküste des Marmarameeres einige Abenteuer. Anschließend durchquerten sie den Bosporus und fuhren ins Schwarze Meer. Die in diesen Geschichten angedeuteten Kontakte zwischen Ägäis und Schwarzmeergebiet finden durch vereinzelte archäologische Funde an Küsten des Schwarzen Meeres aus der späten Bronzezeit (2. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr.) eine Bestätigung.

Die große Griechische Kolonisation

Historisch fassbar ist ein griechisches Eindringen in die Propontis und das Schwarze Meer im Rahmen der „Großen griechischen Kolonisation“ (zwischen ca. 750 v. Chr. und 500 v. Chr.). Diese von griechischen Stadtstaaten (Poleis) im heutigen Griechenland ausgehende Wanderungsbewegung führte zur Ausweitung des Siedlungsgebietes nach Süditalien und Sizilien sowie in die nördliche Ägäis, das Marmarameer und das Schwarze Meer. Im Bereich der Propontis entstanden Tochterstädte (Apoikien), die selbst zu bedeutenden Städten werden sollten; so u. a. Prokonnesos, Abydos, Kyzikos, Byzantion und Chalcedon zu beiden Seiten des Bosporos sowie Perinthos. Fischreichtum, Holzreichtum und fruchtbare Böden an der Propontis sowie die günstige strategische und wirtschaftliche Lage an den beschriebenen Verbindungswegen ließen diese Städte rasch erblühen. Für die griechischen Poleis der Ägäis war insbesondere die Sicherung der Route an die Nordküste des Schwarzen Meeres von entscheidender Bedeutung. Von den dortigen Apoikien wurde in großem Umfang Getreide angebaut, das über das Marmarameer in die Ägäis exportiert wurde. Die Kolonien an den Küsten des Marmarameeres dienten nicht zuletzt auch der Sicherung dieses Seeweges.

Wegen der günstigen Lage (vgl. Polybios, Historien 4,34-44) entwickelte sich Byzantion auf der europäischen Seite des Bosporos zu einer der bedeutendsten Städte der Propontis. In der Spätantike sollte es sogar weltgeschichtliche Bedeutung erlangen, als Konstantin der Große dort 324 n. Chr. seine Residenzstadt Konstantinopel errichten ließ.

Die griechische Welt der klassischen Zeit

An der Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert v. Chr. erschien eine neue Großmacht am östlichen Ufer von Ägäis und Marmarameer, das Großreich der Perser. Für deren Expansion stellte das Marmarameer einen wichtigen Verbindungsweg von Kleinasien nach Europa dar. Mehrfach ließen persische Könige Schiffsbrücken über die Meerengen schlagen, um nach Europa überzusetzen. (Dareios der Große 513/512 v. Chr., Skythenfeldzug, Bosporos, Herodot, Historien 4,83-88; Xerxes I. 480 v. Chr., Griechenlandfeldzug, Hellespontos, Herodot, Historien 7,33-36). Im Zusammenhang mit diesen Kriegszügen wurden die griechischen Städte an beiden Ufern der Propontis, so z. B. Byzantion, Chalcedon und Perinthos, von den Persern mehr als einmal unterworfen. Damit wurde die Propontis zu einer „Brücke“ zwischen dem Perserreich und Europa und zugleich zum Schauplatz zahlreicher Konflikte.

In der Zeit der so genannten Pentekontaëtie, der knapp 50 Jahre zwischen dem gescheiterten Feldzug des Xerxes und dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges, erblühte die griechische Welt in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. Auch die die Städte der Propontis, von denen sich viele (z. B. Abydos, Byzantion, Chalcedon, Perinthos) dem attisch-delischen Seebund unter Führung Athens anschlossen, hatten an dieser Blüte Anteil. Vor allem der intensive Handel mit dem Schwarzmeerraum trug dazu bei.

In den Jahren 431-404 v. Chr. kam es dann zum Peloponnesischen Krieg, einer fast die gesamte griechische Welt umfassende Auseinandersetzung zwischen Athen und Sparta samt ihren Verbündeten. Da das athenische Landgebiet in Attika von den zu Land überlegenen spartanischen Truppen regelmäßig verwüstet und in den letzten Kriegsjahren teilweise besetzt wurde, war Athen mehr denn je auf Getreideimporte angewiesen. Sparta musste es deshalb darum gehen, dessen Versorgungsweg abzuschneiden. So lässt Xenophon den Spartaner Agis, der Dekeleia in Attika besetzt hielt, sagen: „Agis aber, der von Dekeleia aus viele Frachtschiffe mit Getreide beladen in den Peiraieus einlaufen sah, erklärte, es nütze überhaupt nichts, dass er mit seinen Leuten nun schon so lange Zeit die Athener von ihrem Land abschnitte, wenn nicht auch die Gegenden in Besitz genommen würden, aus denen ihnen ihr Getreide auf dem Seewege zukomme. Am besten sei es, Klearchos, den Sohn des Ramphias, und den Byzantier Proxenos nach Chalcedon und Byzantion zu schicken.“1 Athen hingegen musste dafür sorgen, den Seeweg durch die Propontis um jeden Preis offenzuhalten. Daher kam es vor allem in der letzten Phase des Krieges, als Sparta dank persischer Hilfe eine eigene Flotte aufbauen konnte, immer wieder zu schweren Kämpfen um die Kontrolle der Meerengen. Der Abfall strategisch wichtiger Städte wie Byzantion und Chalcedon in den Jahren 412/11 v. Chr. traf Athen hart und wurde kompromisslos bekämpft. So mussten sich die beiden genannten Poleis zusammen mit anderen bereits 409 v. Chr. wieder unterwerfen (Xenophon, Hellenika, 3,1-22). Es ist auch kein Zufall, dass die letzte und entscheidende Schlacht des Krieges, diejenige bei Agios potamos (Xenophon, Hellenika, 2,1,16-32), um die Kontrolle des Hellespontos ausgefochten wurde. Der spartanische Sieg führte zum Verlust der athenischen Flotte und damit der Möglichkeit, die Versorgung der Stadt über die Meerengen zu sichern, und zwang Athen schließlich zur Kapitulation. In diesen Auseinandersetzungen zeigt sich beispielhaft die hohe geopolitische Bedeutung der Propontis und der sie umgebenden Städte für die griechische Welt. Hier steht vor allem ihre Funktion als Brücke in Nord-Süd-Richtung im Vordergrund.

Rom als Herrin der Meerengen

Wir überspringen die Eroberungen Alexanders des Großen und die Aufrichtung der hellenistischen Großreiche des Ostens. Um 200 v. Chr. erschienen die Römer auf der Bühne des östlichen Mittelmeerraumes. Zu dieser Zeit stand das vor allem durch Handel reich und mächtig gewordene Byzantion mit anderen griechischen Mittelmächten wie Rhodos und Pergamon in einem Konflikt mit Philipp V. von Makedonien. Dieser versuchte, in der Ägäis und in Westkleinasien auf Kosten kleinerer Mächte sowie der schwächelnden Ptolemäer zu expandieren, und hatte sich bereits in Sestos, Abydos und Perinthos am Marmarameer festgesetzt (Polybios 16,29-34; 18,2.44; Livius 31,16-18). Die Kontrolle der Propontis und ihrer Meerengen sollte seinen Vormarsch in Kleinasien und die dortigen Erfolge absichern. Erneut ist es die Lage als Brücke, dieses Mal in Ost-West-Richtung, um derentwillen sich zahlreiche Augen auf die Region richteten. Als Rom in einen Krieg gegen Philipp V. eintrat (200-197 v. Chr.), schlugen sich viele Mittelmächte, darunter auch Byzantion, daher sehr schnell auf die römische Seite. Ein Ergebnis des römischen Sieges war, dass Philipp die propontischen Städte räumen und ihnen ihre Freiheit wiedergeben musste. Auch im kurz darauf folgenden Krieg Roms gegen den Seleukiden Antiochos III. (196-188 v. Chr.) standen die meisten Poleis der Propontis letztendlich auf Seiten Roms. Nach Erfolgen in Griechenland wählten die römischen Verbände die altbekannte Verbindung von Sestos nach Abydos, um über den Hellespontos nach Kleinasien überzusetzen.

Etwas weniger als ein halbes Jahrhundert später war die griechische Welt von den Römern unterworfen und völlig von ihnen abhängig geworden. Erneut wurde die Propontis zu einer wichtigen „Brücke“ zwischen der Ägäis und Kleinasien, der eine entscheidende Bedeutung bei der Kontrolle der römischen Besitzungen im Osten des Mittelmeerraumes zukam. Mit der Begründung der römischen Kaiserherrschaft (Prinzipat) unter Augustus kam es zu einer erneuten Blüte im Schutz der pax Augusta bzw. der pax Romana, des augusteischen bzw. römischen Friedens. Während der langen Zeit dieses Friedens in den ersten zweieinhalb Jahrhunderten n. Chr. kamen die Städte der Propontis zu großem Wohlstand und kultureller Blüte. Da durch die Angliederung des Bosporanischen Königreiches (Krim) als Klientelfürstentum an das Römische Reich auch das Schwarze Meer ein römisches mare nostrum geworden war, profitierten die Städte des Marmarameeres auch von dem sich weiter intensivierenden Austausch mit dem Schwarzen Meer.

Die „Propontis“ als Ort, an dem Geschichte gemacht wird

Zu Beginn des 4. Jahrhunderts sollte die Region um das Marmarameer in das Zentrum des politischen und kulturellen Lebens des Imperium Romanum rücken. Bereits Diokletian wählte Nikomedia auf der asiatischen Seite des Marmarmeeres als Residenzstadt. Im Jahr 324 n. Chr. errichtete Konstantin der Große an der Stelle des alten Byzantion Konstantinopel als Residenz- und Hauptstadt sowie als kulturelles Zentrum. Die Neugründung besaß schon bei ihrer Anlage einen teils christlichen Charakter und wies damit in die Zukunft des im 4. Jahrhundert zunehmend christianisierten Römischen Reiches voraus. Der Wahl des Platzes hatte sicherlich auch mit der strategisch bedeutsamen Lage „zwischen Kleinasien und dem Balkan, zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer“2 zu tun. Seither befand sich an der Propontis eines der Zentren des Reiches, seit dessen Aufteilung in ein West- und ein Oströmisches Reich schlug hier sogar das Herz einer der beiden Reichshälften.

Hat man diese geographisch-politische Position vor Augen, wird verständlich, dass rund um das Marmarameer einige der durch ihre langfristigen Konsequenzen wirkmächtigsten Entscheidungen der Zeit getroffen wurden. Die Rede ist von der Klärung zentraler, die Gotteslehre betreffender theologischer Streitigkeiten der alten Kirche, deren Ergebnisse das Christentum bis heute prägen. Das 4. Jahrhundert sah heftige Auseinandersetzungen um das Verständnis des Wesens des christlichen Gottes als Einer und zugleich Drei (Trinitiät). Ausgelöst durch die Lehren des Arius, durchzogen sie fast das gesamte Jahrhundert, eingerahmt von zwei großen Konzilen, die beide am Marmarameer stattfanden. 325 n. Chr. kam es auf dem Konzil von Nicäa (Nikaia), landeinwärts an der Nordostküste der Propontis gelegen, zu einem ersten Klärungsversuche, zur Verurteilung des Arius und zur Formulierung des nicänischen Glaubensbekenntnisses. Im Anschluss an dieses Konzil nahmen die Auseinandersetzungen aber erst Fahrt auf und zogen sich durch die nächsten Jahrzehnte, bis sich 381 n. Chr. erneut an der Propontis ein großes Konzil einfand, dieses Mal direkt in Konstantinopel. Dort wurde das Ergebnis von Nicäa bekräftigt und die Frage nach dem korrekten Verständnis der Dreieinigkeit Gottes für die Kirchen des Römischen Reiches geklärt. Nachdem in den folgenden Jahrzehnten dann die Frage nach dem Verhältnis von Menschheit und Gottheit in der Person Jesu Christi zu heftigen Auseinandersetzungen führte, wurde auch dieser Konflikt in einer Stadt an der Propontis entschieden. 451 n. Chr. fand in Chalcedon ein weiteres Konzil statt. Auf diesem Konzil setzten sich die Vertreter der so genannten Zweinaturenlehre durch, was letztlich zum bis heute andauernden Bruch mit den daraufhin entstehenden orientalischen Kirchen führte. Beide Entscheidungen sollten die Geistesgeschichte Europas für über ein Jahrtausend entscheidend mitprägen.3

Das Marmarameer zwischen Byzanz, dem Osmanischen Reich und Russland

Mit dem Untergang des Weströmischen Reiches 476 n. Chr. verblieb nur noch das Oströmisch/Byzantinische Reich mit seiner Hauptstadt Konstantinopel als Erbe Roms bestehen. Für dieses bildeten Konstantinopel und sein Umland das politische, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Zentrum des Reiches. Für Byzanz mit seinen Provinzen auf dem Balkan, in Kleinasien und an der Nordküste des Schwarzen Meeres, wo im 6. Jahrhundert die direkte Herrschaft über die Halbinsel Krim übernommen wurde, war die Kontrolle des Marmarameeres mit seinen Meerengen als Ost-West- und als Nord-Süd-Verbindung von entscheidender Bedeutung. Zuletzt auf Gebiete im unmittelbaren Umland um Konstantinopel beschränkt, erlag es nach einer ca. tausendjährigen Geschichte dem expandierenden Reich der türkischen Osmanen.

1453 eroberte Sultan Mehmed II. Fâtih die Metropole am Bosporus, die den Namen Istanbul erhalten sollte. Das Marmarameer samt seiner Meerengen war fortan Teil des Herzlandes des Osmanischen Reiches, dessen Herrscher Konstantinopel/Istanbul zu ihrer Residenz machten. Auch die osmanischen Herrscher bemühten sich bis zum Ende des Reiches im Gefolge des Ersten Weltkrieges immer um eine Kontrolle der Meerengen des Marmarameeres. Dabei ging es um den Schutz Konstantinopels, der Handelswege von Europa nach Kleinasien und des Schwarzen Meeres als eine Art osmanisches mare nostrum. Vor allem sollte die Einfahrt in das Marmarameer und das Schwarze Meer von Süden kontrolliert und unterbunden werden. Das Osmanische Reich behielt sich ein uneingeschränktes Schifffahrtsmonopol auf dem Schwarzen Meer vor, das als der „Harem des Großherrn“4 galt.

Seit dem Zusammentreffen des Osmanischen Reiches mit dem expandierenden russischen Zarenreich im 18. Jahrhundert an den Küsten des Schwarzen Meeres sowie auf dem Balkan änderte sich die Stoßrichtung grundlegend. Nun war es das Zarenreich, das für ca. 200 Jahre in Nord-Süd-Richtung über die Meerengen einen maritimen Zugang zum Mittelmeer zu erringen suchte. Zugleich wurde die indirekte oder direkte Kontrolle der Einfahrt ins Schwarze Meer über Dardanellen und Bosporus für Russland von immer größerer Bedeutung, um seine südliche Flanke zu sichern. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam es über die Kontrolle der Meerengen mehrfach zu Auseinandersetzungen der europäischen Großmächte, die in der zentralen geopolitischen Lage der Meerengen begründet waren. Russland „verfolgte bis zu seinem Untergang 1917 das Ziel, die türkischen Meerengen zu beherrschen … Einerseits wollte man das Schwarze Meer de facto in ein russisches Binnenmeer umwandeln, andererseits aber selbst den ungehinderten Zugang zur Ägäis sicherstellen.“5 Vor allem Großbritannien war dagegen viel daran gelegen, einen russischen Zugriff auf die Meerengen zu verhindern. Für die britische Gleichgewichtspolitik sowie für die Auseinandersetzung um die Herrschaft in Zentralasien („great game“) war die Herrschaft über das Mittelmeer und später vor allem die Sicherung der Achse Gibraltar – Suez für London lebenswichtig. Die Konkurrenz aus St. Petersburg sollte möglichst davon ferngehalten werden. Zahlreiche Abkommen über die Schifffahrtsrechte in den Meerengen, in denen sich das Zarenreich bis zum Ende nicht durchsetzen konnte, legen davon ein beredtes Zeugnis ab (Friede von Küçük Kaynarca 1774; Vertrag von Hünkâr İskelesi 1833; Londoner Meerengenkonvention 1840/41; Pariser Friede 1856; [Vor]Friede von San Stefano 1878; Berliner Kongress 1878).

Gallipoli (1915) und der Meerengenvertrag von Montreux (1936)

Im Ersten Weltkrieg kam es im September 1914 zu einer Sperrung der Meerengen durch das Osmanische Reich, das kurz darauf auf der Seite Deutschlands in den Krieg eintreten sollte. Damit waren die westlichen Alliierten von ihrem Verbündeten Russland im Süden abgeschnitten, weder Menschen noch Material konnten zur wechselseitigen Unterstützung verschoben werden. Von Februar 1915 an kam es an den Dardanellen bei Gallipoli zu blutigen Kämpfen, bei denen der Versuch der Alliierten, die Meerengen unter Kontrolle zu bekommen und Zugriff auf Konstantinopel zu erhalten, scheiterte.

Erst im Gefolge der Niederlage des Osmanischen Reiches und der Friedensregelungen von Sèvres (1920) und Lausanne (1923) wurde die Öffnung und Entmilitarisierung der Meerengen erzwungen. Zugleich musste die Türkei zulassen, dass Kriegsschiffe fremder Nationen die Meerengen und das Marmarameer durchfahren durften. Die Überwachung der Regelungen wurde einer internationalen Kommission übertragen.

Im Jahr 1936 wurde durch die bis heute gültige Konvention von Montreux die Souveränität der Türkei über das Marmarameer und seine Meerengen wiederhergestellt. Das Marmarameer wurde damit wieder zu einem türkischen Binnenmeer unter alleiniger Kontrolle des türkischen Staates. Zugleich wurde es für den nichtmilitärischen sowie mit Einschränkungen für den militärischen Schiffsverkehr freigegeben. Durch den nach 1945 ausbrechenden Kalten Krieg rückte eine teilweise angedachte Revision des Abkommens in weite Ferne. Heute ist das Marmarameer „one of the busiest water ways in terms of shipping activities between the Mediterranean and Black Sea basins; around 50,000 ships pass every year …“6

Literaturhinweise:

  • Norbert Brox: Kirchengeschichte des Altertums. 3. Ausg. der 5. Aufl. Düsseldorf 2008.
  • Hans-Joachim Gehrke: Geschichte des Hellenismus. 4., durchges. Aufl. München 2008.
  • Klaus Kreiser: Der Osmanische Staat 1300-1922. 2. aktual. Aufl. München 2010.
  • Wolfgang Münch: Die Régime internationaler Meerengen vor dem Hintergrund der Dritten UN-Seerechtskonferenz. Berlin 1982.
  • Christoph Schmid: Russische Geschichte 1547-1917. München 2003.

Das Marmarameer ist heute ein türkisches Binnenmeer am Übergang von Europa nach Asien. Gesamtfläche: ca.11.500 km², Küstenlinie ca. 927 km, breiteste Stelle ca. 74 km, maximale Länge 252 km. Der Name stammt von der Marmara-Insel, die im Altertum für ihren Marmor berühmt war. Der das Marmarameer zum Schwarzen Meer hin begrenzende Bosporus ist ca. 32 km lang und misst in der Breite zwischen ca. 550 m und ca. 3,3 km. Zum Mittelmeer hin führt der Weg durch die Dardanellen, die ca. 65 km lang und zwischen 1,2 und 7,5 km breit sind. Seit der Antike spielt das Marmarameer sowohl in Nord-Süd- als auch in Ost-West-Richtung eine bedeutende Rolle als Transitweg, an seinen Ufern hat sich Weltgeschichte abgespielt.
Die Redaktion


Fußnoten:


  1. Xenophon, Hellenika, 1,1,35 (Übersetzung: Gisela Strasburger). ↩︎

  2. Ralph Lilie: Byzanz. München 1995, S. 23. ↩︎

  3. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass das Marmarameer in gewisser Weise bis heute Schauplatz einer Auseinandersetzung im religiösen Bereich ist, jedoch ganz anders als in der Antike: Auf der Insel Chalki (so der griechische Name; der türkische lautet Heybeliada), die zur Gruppe der Prinzeninseln südlich des Bosporus gehört, liegt die seit 1971 geschlossene Theologische Hochschule des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel. Ob und wann es zu einer Wiedereröffnung kommt, ist völlig offen. (Anmerkung d. Redaktion) ↩︎

  4. Klaus Kreiser: Der Osmanische Staat 1300-1922. 2. aktual. Aufl. München 2010, S. 14. ↩︎

  5. Roland Blanken: Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923. Münster 2014, S. 112 f. ↩︎

  6. Bayram Otzturk: The Marmara Sea – A Link between the Mediterranean and the Black Sea. In: Erkki Leppäkoski (u. a., Hrsg.): Invasive Aquatic Species of Europe – Distribution, Impacts and Management. Dordrecht 2002, S. 373-383, hier S. 337. ↩︎