Schauplatz nordeuropäischer Geschichte: Die Ostsee

aus OWEP 1/2019  •  von Michael North

Prof. Dr. Dr. h.c. Michael North ist Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Geschichte der Neuzeit an der Universität Greifswald. Neben zahlreichen Veröffentlichungen zur deutschen und niederländischen Geschichte erschienen von ihm unter anderem auch die Bücher „Geschichte der Ostsee. Handel und Kulturen“ (2011) sowie „Zwischen Hafen und Horizont: Weltgeschichte der Meere“ (2016).

Zusammenfassung

Ausgehend von den Bezeichnungen der Ostsee heute und im Mittelalter bietet der nachfolgende Beitrag einen Überblick über ihre Geschichte als Handelsweg. Insbesondere ihre Bedeutung für die Hansestädte sowie das Warensortiment in unterschiedlichen Epochen stehen dabei im Zentrum der Ausführungen. Abschließend wird die Entstehung der Ostseebäder und deren Rolle für den zunehmenden Tourismus skizziert.

Obwohl die Ostsee mit 422.000 km² ein kleineres Meer ist, hat sie die Region von Dänemark bis Karelien, von Hamburg bis nach Litauen nachhaltig geprägt. Über die großen Flüsse geht der Einfluss weit ins Binnenland hinein, sodass auch die entfernt vom Meer lebenden Menschen durch den Austausch über das Meer betroffen sind. Daneben war und ist die Ostsee über die großen Flüsse mit dem Schwarzen Meer und natürlich auch über die Nordsee mit den Weltmeeren verbunden. Die Auffassung, was die Ostsee ist bzw. wie sie wahrgenommen wird, änderte sich im Laufe der Geschichte.

Auch in der Geographie gelten Räume nicht mehr als von der Natur vorgegeben, sondern als von vielen Akteuren konstruiert. Entsprechend können wir die Ostsee nicht nur als Naturraum, sondern auch als Geschichts-, Kommunikations- oder Erinnerungsraum wahrnehmen, in dem sich politische, sprachliche, ethnische, religiöse, ökonomische und soziale Grenzen überlagern. Denn hier lebten seit Urzeiten verschiedene sprachliche Gemeinschaften: Germanen, Slawen, Balten und Finnen zusammen, die sich im Mittelalter, zum Teil aber auch erst in der Neuzeit zu Völkern und Staaten entwickelt haben.

So unterscheiden sich beispielsweise die nationalen Bezeichnungen der Ostsee ebenso wie die gegenwärtige Identifikation der Bewohner der Anrainerstaaten mit der Ostsee. Während die Skandinavier wie Dänen und Schweden das Meer als Östliche See (Østersøen bzw. Östersjön) bezeichnen und auch im Finnischen das aus dem Schwedischen übersetzte Itämeri dasselbe ausdrückt, ist für die Esten die Ostsee logischerweise die Westsee (Läänemeri). Russen und Polen benutzen mit Morje baltijskoe bzw. Morze bałtyckie eine Version des lateinischen Mare balticum. Dies findet im Lettischen mit Baltijas juras und im Litauischen mit Baltijos juros ihre Entsprechung.

Die Wahrnehmung der Ostsee

Erste Aufschlüsse darüber, wie die Ostsee als Region in der Geschichte konstruiert und wahrgenommen wurde, bieten die mittelalterlichen Quellen. So erscheint die Bezeichnung „Ostsee“ in ihrer lateinischen Form im Kontext der Mission bei Adam von Bremen im 11. Jahrhundert. Adam erklärt den Namen der Ostsee damit, dass der Meerbusen (Sinus) von den Einwohnern „Balticus“ genannt würde, weil er sich wie ein Gürtel (in modum baltei) bis zu den skythischen Gebieten und nach Griechenland erstrecke. Das Meer werde aber auch als Barbarisches Meer oder Skythischer See bezeichnet, nach den barbarischen Völkern, an die es grenze.

Auch wird die Ostsee im Mittelalter bereits als Pilger- und Handelsregion öffentlich wahrgenommen, wenn Herzog Albert I. von Sachsen 1241 Kaufleuten auf dem Wege von der Ostsee zur Nordsee (de orientali mari ad occidentale mare) sicheres Geleit verspricht oder der päpstliche Gesandte Guido 1266 Kaufleute und Pilger auf derselben Reise bei einem Schiffbruch vom Strandrecht, d. h. von der Ausplünderung durch die Küstenbewohner, befreit wissen will.

In den Niederlanden war man aufgrund von Handelsinteressen ebenfalls schon früh über die Geographie orientiert, wenn die Stadt Zwolle in einem Brief an Lübeck 1294 vom mare orientale im Gegensatz zum mare occidentale spricht. Olaus Magnus kommt im 16. Jahrhundert auf den Begriff „mare Balticum“ zurück, wobei er darunter die südliche Ostseeküste versteht.

In der Frühen Neuzeit machen vor allem ökonomische und militärische Interessen die Ostsee im Lateinischen wie im Niederländischen zu einem festen Begriff. Dänemark, Schweden und Polen kämpften um die Herrschaft über die Ostseeküsten und begründeten dieses dominium maris Baltici auch publizistisch. Hingegen versuchten die Niederlande, die Interessen ihrer Kaufleute und die Schifffahrt allgemein zu schützen.

Die niederländische Sorge um den Ostseehandel führt zur Konstruktion einer Region Oostersche Zee oder Oostzee, die als essentiell für die Wirtschaft Flanderns und Hollands angesehen wurde.

Oostzee bleibt lange der Bezeichnung des konkreten Gewässers vorbehalten und sollte durch die niederländische Kartographie popularisiert werden. Andere niederländische Karten benutzen die französische Version Mer baltique oder wie Adriaan Veen das lateinische Mare Balticum mit dem Zusatz „vulgo De Oost Zee“.

Neben der politisch-diplomatischen Sicht wuchs das historisch-wissenschaftliche Interesse am Baltischen Meer und seinen Bewohnern. Hierüber gibt der Artikel „Baltisches Meer“ in Zedlers Universallexikon von 1733 Aufschluss, der auch die ältere Literatur verarbeitet. Die Schöpfung des Begriffs „baltische Sprachen“ für das Litauische, Kurische, Prußische und Lettische durch den Berliner Sprachwissenschaftler Georg Heinrich Ferdinand Nesselmann im Jahre 1845 in einer Studie zur „Sprache der alten Preußen“ spiegelt ebenfalls diese Sichtweise (Ostsee = Baltisches Meer) wider, da die Siedlungsgebiete der Stämme und Völker an der Ostsee den Namen suggerierten.

Obwohl in Publikationen und Vereinsnamen diese Tradition weiter verbreitet wurde, bewirkte die Herrschaftsintensivierung Russlands in seinen Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland einen semantischen Wandel. Während Russland seine Besitzungen zunächst noch als ostzejskij (ostseeisch) bezeichnete, setzte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert pribaltijskij (an der Ostsee gelegen) durch, was sie als Küstenprovinzen des russischen Reiches definierte. „Baltisch“ war in derselben Zeit das Etikett der deutschsprachigen Minderheit geworden, die sich und ihre Privilegien von der russischen Herrschaft ebenso wie von der einheimischen estnischen oder lettischen Bevölkerung abzugrenzen versuchte. Diese Verengung von baltisch auf die östliche Ostseeküste sollte mit der Entstehung der neuen baltischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg auch in anderen Sprachen rezipiert werden.

Die Hanse

Schon immer wurde in der Ostsee Fernhandel getrieben, wobei in der Wikingerzeit slawische, prußische und skandinavische Händler mit jüdischen und arabischen Kaufleuten handelten. Die Gründung Lübecks (1143/57) machte erstmals das deutsche Fernhändlerelement an der Ostseeküste sesshaft und ermöglichte es den landfahrenden Kaufleuten aus Niedersachsen und Westfalen erstmals, die Märkte des Ostseeraums und Russlands zu erreichen, ohne dass sie sich dazu skandinavischer oder slawischer Vermittlung bedienen mussten. Lange Zeit hatten beispielsweise die Bauernkaufleute der Insel Gotland den Russlandhandel beherrscht. Für diese stellten die deutschen Fernhändler nach der Gründung Lübecks eine echte Konkurrenz dar. Sie waren kapitalstärker, handelstechnisch besser ausgebildet und organisiert und besaßen mit der Kogge ein tragfähigeres Schiff als die Gotländer. 1252 wird erstmals eine deutsche Gotlandfahrergenossenschaft („universi mercatores Romani imperii Gotlandiam frequentantes“) in einem Privileg der Gräfin Margarete von Flandern urkundlich erwähnt, die sowohl im Westen als auch im Osten Handel betrieb. Jedoch drängte Lübeck seit dem späten 13. Jahrhundert verstärkt auf die Kontrolle des Ostseehandels und setzte diese im Bündnis mit den anderen – an der Ostseeküste gegründeten – Städten auch durch. Das sich im 14. Jahrhundert als „Städte von der Hanse“ mit einem festen Organ, dem Hansetag, organisierende Städtebündnis („De Stede van de dudeschen Hense“) bestimmte seit dieser Zeit die Handelspolitik im Ostseeraum, der systematisch in den europäischen Handel integriert wurde.

Der hansische Handel folgte von Ost nach West der Linie Nowgorod-Reval-Riga-Visby-Danzig-Stralsund-Lübeck-Hamburg - Brügge-London und beruhte auf dem Austausch zwischen Nahrungsmittel- und Rohstofflieferanten Nord- und Osteuropas und den Gewerbeproduzenten Nordwesteuropas. Die Kaufleute gingen aber über diese Ost-West-Mittlerfunktion hinaus, indem sie einerseits eigene hansische Gewerbeprodukte verhandelten und andererseits südlich in die Tiefe des Küstenhinterlandes vordrangen. So erschlossen sie nicht nur über Elbe und Oder Böhmen und Schlesien, sondern gelangten weichselaufwärts über Krakau in die Kupferabbaugebiete Oberungarns (Slowakei) und knüpften via Lemberg Verbindungen zum Schwarzmeerhandel.

Welche Regionen im Einzelnen aufgesucht wurden, bestimmte die dortige Nachfrage und Produktion. Das Warensortiment war vielfältig und umfasste sowohl Massengüter des täglichen Bedarfs für Verbraucher und Gewerbe als auch Luxusprodukte für eine kleine wohlhabende Käuferschicht. Zu den wichtigsten Artikeln gehörten Wolle, Woll- und Leinentuche, Pelze und Felle, Hering und Stockfisch, Salz, Wachs, Getreide, Flachs und Hanf, Holz und Waldwaren (Asche, Pech, Teer), Bier und Wein. Davon flossen Pelze, Wachs, Getreide, Flachs, Holz und Bier nach Westen, während aus dem Westen vor allem Tuche, Salz, Wein sowie zusätzlich Metallwaren, Gewürze und andere Luxusgüter nach Osten geliefert wurden. Fisch verkaufte man überall im Hanseraum.

Im ausgehenden 15. Jahrhundert hatte der hansische Handel an allen Fronten Rückschläge zu verzeichnen. Das alte, auf Privilegien basierende Handelssystem erwies sich angesichts der wachsenden Konkurrenz und der sich konsolidierenden europäischen Mächte als nicht länger durchsetzbar. Während die Monarchien ihre eigenen Kaufleute förderten, entstanden auch Konkurrenzsituationen in den Bereichen Schifffahrt und Warenverkehr. Hier erwiesen sich Holländer und Seeländer als den Hansestädten überlegen, da sie ihre traditionellen Nebenaktivitäten wie Fischfang und Schifffahrt stark ausgebaut hatten. Die Nachfrage nach Frachtdienstleistungen auf der Ost-Weststrecke eröffnete den Holländern und Seeländern den Zugang zum Ostseeraum, wo Schiffsraum knapp war.

Lübeck gelang es weder mit friedlichen noch mit militärischen Mitteln, den holländischen Zugang zur Ostsee zu beschränken. Im Gegenteil, die preußischen Hansestädte Danzig, Elbing, Thorn und Königsberg waren für ihren Handel weitgehend auf holländischen Frachtraum angewiesen. So wurde 1475/76 bereits ein Viertel des Danziger Schiffsverkehrs von niederländischen Schiffen bestritten. Noch transportierten hansische Schiffe den größten Teil des Ost-West-Frachtverkehrs, aber die Holländer bauten ihren Anteil kontinuierlich aus. 1580 wurde bereits die Hälfte der Danziger Importe und Exporte von niederländischen Schiffen transportiert und der Anteil niederländischer Schiffer am Ostseehandel sollte noch bis auf 70 Prozent im 17. Jahrhundert anwachsen.

Die Integration in die Weltwirtschaft

Das Warensortiment verengte sich vom 16. Jahrhundert an und konzentrierte sich auf den Export der Massengüter Getreide und Holz. Die Integration der Produktionsgebiete in den Hinterländern der Ostseehäfen in die europäische Weltwirtschaft wuchs unaufhörlich. Im Austausch flossen Hering und Salz als wichtigste Importgüter von Westeuropa in den Ostseeraum. Insbesondere auswärtige Zeitgenossen wie die englischen Botschafter, die den Erfolg der niederländischen Wirtschaft misstrauisch beäugten, nahmen auch zum Ostseehandel Stellung. So schrieb George Downing 1661 in einem Brief: „Der Heringshandel ist die Ursache des Salzhandels. Und der Heringshandel und der Salzhandel sind die Ursachen dafür, dass das Land den Ostseehandel an sich riss, da es seine Schiffe mit diesen Massengütern beladen konnte.“ Auch wenn der Hering als „goldene Nahrung“ der Niederländer verklärt wurde, war er jedoch nicht die alleinige Grundlage, auf der der Ostseehandel und die niederländische Wirtschaft beruhten. Dennoch kam dem Ostseehandel lange Zeit zentrale Bedeutung für die niederländische Wirtschaft zu, sodass ihn die Niederländer mit Recht als „moedercommercie“ ansahen. Das aus der Ostseeregion importierte Getreide ernährte einen großen Teil (ca. ein Drittel) der niederländischen Bevölkerung und machte die niederländische Landwirtschaft für profitablere Produktionszweige frei. Schließlich ermöglichte der Ostseehandel den Niederländern, auch in anderen Handelsgebieten Fuß zu fassen. So konnten die Holländer im ausgehenden 16. Jahrhundert, als Missernten West- und Südeuropa heimsuchten, ihr Getreidemonopol für Ostseegetreide ausspielen. Auf diese Weise kontrollierten die Holländer neben dem Getreide- und Holzexport bald auch den Import westlicher Fertigwaren und Luxusprodukte. Für die Hansestädte im Ostseeraum blieb aufgrund ihrer höheren Frachttarife und ihrer geringeren Transportkapazitäten nur noch ein kleiner Teil des Ost-West-Handels übrig.

Das zweite wichtige hansische Exportgut, Holz, wurde ebenso wie die Beiprodukte Pech, Teer und Asche für den Schiffbau und die gewerbliche Produktion genutzt. Denn diese preiswerte Versorgung mit Schiffbaumaterial, wozu noch Flachs und Hanf für Segel und Taue kamen, sicherte neben den Innovationen in der Bautechnik den Vorsprung der holländischen Werften und damit wiederum die niedrigen Frachtraten der holländischen Reeder. Außerdem benötigte auch die Heringsverarbeitung in großen Mengen vorfabrizierte Fassdauben, das so genannte Klappholz aus dem Ostseeraum, während andere Gewerbe wie die Seifensieder zu den Hauptabnehmern Danziger und Königsberger (Pott-)Asche gehörten.

Die auf dem Export von Getreide, Holz und Waldwaren und den dafür notwendigen Transportdienstleistungen basierende niederländische Dominanz hielt bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts an, als der englische Ostseehandel einen Aufschwung nahm. So wurde im gesamten 17. Jahrhundert ca. die Hälfte der Ostseeraumwaren auf niederländischen Schiffen nach England gebracht. Das Handelsvolumen insbesondere des Getreidehandels nahm im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert deutlich zu, ging aber in der zweiten Jahrhunderthälfte und in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zurück. Von den 1720er Jahren an nahm der Getreideexport wieder zu und explodierte von den 1760er Jahren an.

Auch im 19. Jahrhundert belieferte die Ostseeregion Westeuropa mit Nahrungsprodukten, Schiffbaumaterialien und Roheisen.

Ostseewelten

Im 19. Jahrhundert setzte eine Neuentdeckung der Ostsee ein, die wir als romantische Sehnsucht bezeichnen können.

Durch Kunst und Literatur wurde erstmals auch ein Bewusstsein für die Ostseelandschaft geweckt. So begründete Caspar David Friedrich eine neue romantische Vorstellung von der Ostseeküste, während der Inselpastor und spätere Greifswalder Professor Ludwig Gotthard Kosegarten in seinen Predigten und literarischem Werk die Reize der Insel Rügen und der Ostsee beschrieb. Diese romantische Sehnsucht traf sich mit den Empfehlungen der Ärzte, die den Aufenthalt an der See wegen ihres Anblicks und der sauberen frischen Luft als nützlich für die Gesundheit und die Erholung des Städters herausstellten.

Romantische Verklärung der Ostsee: Caspar David Friedrich, „Die Lebensstufen“ (Strandszene in Wiek, um 1835)1

Während Badereisen zu Heilbrunnen im Binnenland sich seit dem 16. Jahrhundert einiger Beliebtheit erfreuten und im 18. Jahrhundert eine Modeerscheinung wurden, entstanden Seebäder in größerer Zahl erst in den 1770er und 1780er Jahren in England. Brighton, Harwich, Margate, Southampton, Weymouth und Plymouth begründeten eine neue Bäderkultur, und so verwundert nicht, dass Georg Christoph Lichtenberg nach der Rückkehr von einer England-Reise 1793 fragte, „Warum hat Deutschland noch kein größeres öffentliches Seebad?“ Er stieß damit eine Debatte über Vor- und Nachteile der Nord- und Ostsee als Standort eines solchen Bades an. Während die Befürworter der Nordsee den höheren Salzgehalt hervorhoben, sahen die Anhänger der Ostsee das Ausbleiben der Gezeiten und eine gleichmäßige Wassertemperatur als vorteilhaft an. Die Initiative aber ergriff Samuel Gottlieb Vogel, der Leibarzt Herzog Friedrichs Franz I. von Mecklenburg-Schwerin. Er überzeugte den Fürsten zur Anlage eines Seebades. Als Friedrich Franz am 22. Juli 1793 mit seinem Gefolge ein erstes Meerbad in Heiligendamm bei Doberan nahm, war symbolisch dessen Gründung besiegelt. In den folgenden Jahren entstanden hier Wohn-, Gesellschafts- und Kulturbauten, die – wie das Salongebäude (1802), das Große Palais (1806-09) oder die Pavillons – der Langhans-Schüler Carl Theodor Severing entwarf. Daneben wurden Badeeinrichtungen und Unterkünfte für die steigende Zahl der Ostseetouristen errichtet. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besuchten durchschnittlich 1.200 Gäste jährlich Heiligendamm, wobei nicht alle auch im Meer badeten, denn der Aufenthalt der landesfürstlichen Familie und anderer Vertreter des europäischen Hochadels waren ebenfalls eine touristische Attraktion. Gleichzeitig hatte Heiligendamm inzwischen Konkurrenz bekommen, da Seebäder an Nord- und Ostseeküste wie Pilze aus dem Boden schossen: Nach Heiligendamm entstand Norderney (1797); dann folgten u. a. Travemünde (1802), Boltenhagen (1803), Wangerooge (1804), Warnemünde (1805), Spiekeroog (1809), Grömitz (1813), Cuxhaven (1816), Putbus (1816), Cranz (1816), Zoppot (1819), Graal-Müritz (1820), Heringsdorf (1824), Swinemünde (1824), Binz (1825), Helgoland (1826), Büsum (1837), Juist (1840) und Borkum (1850).

In der östlichen Ostsee nahm der Bäder-Tourismus in den 1820er und 1830er Jahren von russischer Seite einen regelrechten Aufschwung. Nachdem Auslandsreisen für die Bewohner des Zarenreiches erschwert worden waren, gingen sie in die Küstenstädte Finnlands und der Ostseeprovinzen. Die Petersburger verbrachten den Sommer in Helsinki oder weiter südlich am Meer. Es entstand eine touristische Infrastruktur mit charakteristischen aus Holz gebauten Hotels, so zum Beispiel in Pernau, Hapsal, Kuressaare (Arensburg) auf Ösel, Hanko in Uusimaa oder Öregrund in Roslagen. Mit der Zeit wurden diese teilweise durch Steinbauten ersetzt, wenn nicht wie in Saltjöbaden (bei Stockholm), Kulosaari bei Helsinki, Skodsborg im Sund, Binz auf Rügen, Heringsdorf auf Usedem oder Zoppot bei Danzig prachtvolle Luxushotels entstanden. Die Sommerfreizeit gab dem Segelsport Auftrieb. Überall gründete man Yachtclubs und veranstaltete Regatten. Die Pavillons der Yachtclubs prägten die Ostseeküste und verliehen Riga-Strand (seit 1920 Jūrmala) ein maritimes Flair.

Der aus England entlehnte Segelsport stand in engem Zusammenhang mit der Aufrüstung der Flotten und dem zunehmenden Prestige der Marine vor dem Ersten Weltkrieg. Ein gutes Beispiel ist die Hafenstadt Kiel, die zum Reichkriegshafen der insbesondere unter Kaiser Wilhelm II. schnell wachsenden Kriegsflotte und zur maritimen Waffenschmiede ausgebaut wurde. Hier fanden seit 1882 regelmäßig Regatten auf der Förde statt. 1887 gründeten Offiziere und Beamten der Marine den Marine-Regatta-Verein, dem Kaiser Wilhelm II. 1893 als Ehrenvorsitzender des Vereins den Titel „Kaiserlicher Yacht Club“ verlieh. Der Kaiser wie auch sein Bruder Heinrich besuchten seit 1894 die so genannte „Kieler Woche“ regelmäßig und förderten den Segelsport, der sich in Deutschland am Kieler Yacht Club orientierte.

In Russland verlieh die Zarenfamilie dem Sport ebenfalls Prestige, indem sie das Patronat über die Kaiserliche „Flußsegelgesellschaft von St. Petersburg“ übernahm. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde es schließlich Mode, dass sich die regierenden Häupter auf See trafen, so Nikolaus II. und Wilhelm II. 1905 auf Björkö und zwei Jahre später in Swinemünde. Auch der englische König Edward VII. reiste 1908 mit seiner Yacht nach Reval, um Nikolaus II., seinem Neffen, seine Aufwartung zu machen. Nikolaus’ Vater, Alexander III., war ebenfalls ein begeisterter Segler gewesen, der zusammen mit seiner Gemahlin Dagmar oft die Sommer in den Schären im Finnischen Meerbusen verbrachte und in der Nähe Kotkas ein Sommerhaus besaß. Es waren jedoch nicht nur die gekrönten Häupter, die auf dieses Weise Meer und Luft genossen. Auf den finnischen und Stockholmer Schären entstand eine Vielzahl von Sommerhäusern der bürgerlichen Oberschicht, während die Angehörigen der Mittelschichten den Sommer über als Pensionsgäste bei Fischern und Schiffern Unterkunft fanden. Das Schärenidyll avancierte dann zu einem wichtigen Motiv der Ostseekunst, wenn Anders Zorn das Sommerleben vor Stockholm malte und Albert Edelfelt die Stimmung der Schären von Uusimaa einfing. So inspirierten sich Natur- und Kunsterlebnis wechselseitig.

Die Ostsee, ein Binnenmeer in Nordosten Europas, umfasst 422.000 km² Fläche; an sie grenzen in der Gegenwart neun Staaten (Dänemark, Deutschland, Polen, Litauen, Lettland, Estland, Russland, Finnland und Schweden). Seit dem frühen Mittelalter spielt die Ostsee als Handelsweg sowohl für die Wirtschaft als auch für den kulturellen Austausch zwischen den Anrainerstaaten eine wichtige Rolle.
Die Redaktion


Fußnote:


  1. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Caspar_David_Friedrich _013.jpg. – Das Ölgemälde hängt im Museum der bildenden Künste in Leipzig. ↩︎