„Wir sollten uns besser verstehen lernen.“ Ein Gespräch mit Dr. Bernhard Vogel

aus OWEP 3/2019  •  von Michael Albus

Dr. Bernhard Vogel (geb. 1932) war Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz (1976-1988) und Thüringen (1992-2003).

Zusammenfassung

Im Interview mit Dr. Bernhard Vogel erinnert sich der ehemalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz (1976-1998) und von Thüringen (1992-2003) an die Ereignisse von 1989 in Deutschland und die Schritte auf dem Weg zur deutschen Einheit, die er als hochrangiger Politiker zum Teil mitgestaltet hat.

Wie haben Sie den Umbruch bzw. die Veränderungen erlebt?

Dr. Bernhard Vogel (Foto: Konrad-Adenauer-Stiftung)

Am Nachmittag des 9. November 1989, einem Donnerstag, flog Helmut Kohl zu seinem ersten schwierigen und problembeladenen Staatsbesuch nach Polen. Er lud mich ein, ihn zu begleiten. Und ich – derzeit Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung – wollte die Gelegenheit nutzen, am nächsten Tag in Warschau die erste Außenstelle der Stiftung in einem Land des Warschauer Paktes zu eröffnen. Am Abend waren wir Gäste des polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki. Während des Abendessens traf die Nachricht ein: Das Brandenburger Tor sei offen, die Menschen strömten zu Tausenden über die Grenze, in Bonn hätten sich die Abgeordneten im Bundestag erhoben und die Nationalhymne gesungen. Wir konnten es nicht fassen. Und wir in Warschau!

Die Ereignisse überstürzten sich. Aus „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Am 3. Oktober 1990 traten die wiederentstandenen fünf jungen Länder über den „Königsweg" des Artikels 23 des Grundgesetzes in seiner damals geltenden Fassung der Bundesrepublik Deutschland bei.1 So hatte es die Volkskammer ausdrücklich beschlossen.

Ich war dankbar dafür, dass ich diesen Tag erleben durfte, und ich war stolz darauf, dass meine Partei den Glauben an die Einheit unseres Vaterlandes nie aufgegeben hatte. Über Jahrzehnte hatte ich an die Wiedervereinigung geglaubt und auf sie gehofft, doch dass ich sie selbst noch erleben würde, schien mir eher unwahrscheinlich. So, wie sie sich jetzt vollzog, hatte ich sie mir nicht vorstellen können. Sie kam buchstäblich über Nacht. Niemand hatte einen vorbereiteten Plan. Es gab ein Ministerium für gesamtdeutsche Fragen – ein Ministerium für gesamtdeutsche Antworten gab es nicht. Es brannte an allen Ecken und Enden und bald sollte auf die Freude über den Fall der Mauer und die erreichte Wiedervereinigung der Schatten heraufziehender Wolken fallen. Eine lange, steinige, trockene Ebene musste durchschritten werden.

Die bei weitem schwierigste Aufgabe war der Umbau der sozialistischen Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft. Wie man aus Kapitalismus Sozialismus machte, wussten wir, darüber gab es Erfahrung und reiche Literatur. Aber wie sollte jetzt der Umbau zu einer freien, wettbewerbsfähigen Wirtschaft erfolgen? Es bleibt das Verdienst der vielgescholtenen Treuhand – die sicher auch vieles falsch gemacht hat –, zugepackt und entschlossen gehandelt zu haben. Die volkseigenen Betriebe mussten privatisiert und national wie international wettbewerbsfähig gemacht oder aufgelöst werden. Zukunftsträchtige Unternehmen mussten gefördert, aussichtsreiche Investitionen mussten ermöglicht, Ostdeutschland musste vor der Deindustrialisierung bewahrt werden. Sonst drohten den jungen Ländern italienische Verhältnisse: ein weltweit wettbewerbsfähiger Norden, ein verarmter Süden. Es ging nicht um Umbruch oder Veränderung, es galt, einen Unrechtsstaat abzulösen, es galt, ihn aufzulösen.

Wurden Ihre Hoffnungen erfüllt bzw. was ist aus Ihren damaligen Erwartungen geworden?

Heute, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, darf man mit Fug und Recht sagen: Die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes ist uns alles in allem gelungen und wir haben allen Grund, stolz auf das zu sein, was wir erreicht haben. Joachim Gauck hat Recht, wir haben Anlass zur wechselseitigen Dankbarkeit.

Wir Westdeutschen haben den Ostdeutschen dafür zu danken, dass sie ohne Gewalt, nur mit Angst im Herzen, mit Kerzen in den Händen und mit Gebeten auf den Lippen ein totalitäres Regime zum Einsturz gebracht haben. Dass ihnen eine friedliche Revolution gelungen ist, nicht nur eine Wende, wie sie Egon Krenz verniedlichend zu nennen versucht hat.

Die Ostdeutschen haben Grund zur Dankbarkeit für personelle und finanzielle Hilfe, wie sie nur selten ein Teil eines Volkes für einen anderen Teil erbracht hat. Weite Landstriche sind nicht wiederzuerkennen. Es gibt Landschaften, die blühen, oft später als erhofft und längst nicht überall. Aber Dresden und Jena, Erfurt und Potsdam brauchen den Vergleich mit westdeutschen Städten nicht mehr zu fürchten. Die Qualität von Luft und Wasser ist völlig anders geworden, die Werra gehört nicht mehr zu den am meisten verseuchten Flüssen Europas, die Lebenserwartung im Osten ist gestiegen, in Thüringen ist die Arbeitslosigkeit geringer als in Nordrhein-Westfalen. Die Abwanderung in den Westen geht – endlich – zurück. Die Zuwanderung in die jungen Länder steigt.

Und doch bleibt noch viel zu tun: Wir sollten uns besser zu verstehen lernen. 1990 trafen zwei Welten aufeinander. Der Osten wollte die Einheit, wollte Freiheit und Wohlstand; im Osten haben die Menschen den Glauben an die Wiedervereinigung nie aufgeben. Im Westen dagegen war bei vielen der Zweifel gewachsen, bei manchem sogar der Wille geschwunden, die Wiedervereinigung anzustreben: „Lasst uns um alles in der Welt aufhören, von der Einheit zu träumen oder zu schwätzen“, meinte Egon Bahr Anfang November 1989. Und Günter Grass meinte, wenn die Wiedervereinigung komme, werde sie scheitern. Es war richtig, den kurzen Weg zur Wiedervereinigung nach Artikel 23 und nicht den langen unsicheren Weg nach Artikel 146 zu gehen.2 Es war keine Zeit zu verlieren, denn die historische Chance durfte nicht verpasst werden. Das Grundgesetz ist den Ostdeutschen nicht übergestülpt und die DDR ist der Bundesrepublik nicht zugeschlagen worden. Aber bis heute empfinden sich manche Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse, als bevormundet, als fremd im eigenen Haus. Im Westen dagegen meinen viele, die Wiedervereinigung habe die Bundesrepublik nicht verändert, nur vergrößert. Der Osten muss vom Westen lernen, und er hat oft unter Schmerzen viel gelernt. Aber manche im Westen haben bis heute nicht begriffen, dass auch sie vom Osten zu lernen haben.

Im Osten musste sich vieles ändern, aber im Westen konnte nicht alles so bleiben, wie es war. Das Provisorium Bonn musste aufgegeben werden – und Berlin ist nicht Bonn!

Auch nach 30 Jahren bestehen deutliche Unterschiede. Mit der Wiedervereinigung kamen zwei Teile unseres Vaterlandes zusammen, deren Bevölkerung über viele Jahrzehnte sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen gemacht haben – politisch, gesellschaftlich, ökonomisch. Die Bedeutung dieser nachwirkenden Erfahrungen darf auch heute noch nicht unterschätzt werden. Noch immer sind die Renten nicht voll angeglichen. Das Privatvermögen im Osten lässt sich nicht mit den in Jahrzehnten angesammelten und vererbten Vermögenswerten im Westen vergleichen. Nach wie vor fehlt es im Osten an Bundesbehörden, die Spitzenpositionen der Verwaltung, der Gerichte, der öffentlich-rechtlichen Medien sind fast ausschließlich von Westdeutschen besetzt. Kein Rektor oder Präsident einer deutschen Universität kommt aus Ostdeutschland. Nur ein Dax-Unternehmen hat seinen Sitz in den jungen Ländern.

Auch die Unterschiede in der Akzeptanz der politischen Parteien dürfen nicht übersehen werden. Bis heute findet die CDU im Westen mehr Zustimmung als im Osten. Der SPD im Osten ist es bis heute nicht gelungen, die Folgen ihrer Zwangsvereinigung mit der KPD zu überwinden – nur ca. 12 Prozent der Wähler neigen zu ihr. Grüne und FDP finden im Osten weit weniger Vertrauen als im Westen. Die Linken und die AfD finden weit stärkeren Rückhalt im Osten. Beide gelten nicht als „Westparteien“. Die Linke ist an Regierungen beteiligt, stellt in Thüringen sogar den Ministerpräsidenten. Wer Protest anmelden will, wer Denkzettel verteilen will, wendet sich der AfD zu.

Wir wollen vergleichbare Lebensverhältnisse, aber wir wollen kein Einheitsdeutschland. Den Westen oder den Osten gibt es nicht. Bayern ist anders als Schleswig-Holstein und inzwischen unterscheidet sich auch Thüringen wieder von Mecklenburg-Vorpommern. In Ostfriesland liegt der Lebensstandard weit unter dem von Stuttgart, Erfurt ist nicht Görlitz und Dresden nicht Frankfurt an der Oder. Es ist an der Zeit, die Rede von den „Mauern in den Köpfen" hinter uns zu lassen inzwischen sind mehr Bayern in Thüringen zu Gast gewesen als Baden-Württemberger in Schleswig-Holstein.

Wir neigen dazu, die Vergangenheit in freundlicherem Licht zu sehen und manchem nachzutrauern, was wir früher hatten, die Herausforderungen der Gegenwart aber zu überschätzen. Dafür gibt es keinen Grund. Auf die Zeit vor der Wiedervereinigung, auf die letzten oft mühsamen 30 Jahre zurückzublicken, heißt Mut zu schöpfen. Warum sollte die heute verantwortliche Generation nicht genauso mit den heutigen Problemen fertig werden, wie wir das zu unserer Zeit versucht haben? Wir sollten ins Gelingen verliebt sein und nicht ins Scheitern!

Wie sehen Sie angesichts der gegenwärtigen Probleme Europas die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses?

Wenn der europäische Integrationsprozess soll, müssen die aktuellen Probleme, die gegenwärtig die EU von allen Seiten bedrängen, gelöst werden.

Der bevorstehende Austritt Großbritanniens aus der EU schadet nicht nur dem Königreich, sondern schwächt auch die Europäische Gemeinschaft und stellt insbesondere Deutschland vor große Probleme. Wir verlieren einen erfolgreichen, demokratisch gefestigten, wirtschaftlich starken Partner.

Mehrere ost- und mitteleuropäische EU-Mitglieder – Polen, Ungarn, Rumänien z. B. – nehmen zwar die Hilfe der Europäischen Gemeinschaft dankbar in Anspruch, stellen aber insbesondere durch ihre Justiz- und Medienpolitik ihre eingegangenen Verpflichtungen ernsthaft infrage. Italien verstößt brachial gegen die Stabilität des Euro. Auf den großen Bruder, dem Europa den Sieg über Hitler-Deutschland verdankt und der seit Jahrzehnten das Rückgrat der NATO bildet, ist nicht mehr uneingeschränkt Verlass. Der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten stellt seine besondere Verantwortung für die Weltfriedensordnung zunehmend infrage.

Diesen Herausforderungen muss Europa, muss Deutschland sich stellen. Wir müssen uns auf unsere wachsende Verantwortung besinnen. Nur gemeinsam können wir den Frieden sichern und unseren Wohlstand erhalten. Anfang des 20. Jahrhunderts stellte Europa 25 Prozent der Weltbevölkerung. Heute sind es noch knapp 7 Prozent. Kein europäisches Land kann allein unseren Wohlstand sichern. Die EU darf nicht zum Staatenbund werden. Ein Staatenbund verzichtet nicht auf Grenzen und hat keine gemeinsame Währung. Aber die EU wird in den nächsten Jahrzehnten auch nicht zu einem Bundesstaat werden. Die meisten Mitgliedsstaaten werden auf ihre eigene Souveränität nicht verzichten. Zu Recht hat Helmut Kohl immer darauf hingewiesen, dass gerade Deutschland auf ihre Eigenständigkeit achten muss. Etwas Neues, etwas Drittes muss unser Ziel sein: ein Staatenverbund, der in den Fragen der Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitik gemeinsam handelt, aber das Subsidiaritätsprinzip achtet und das heißt, in Berlin, Madrid oder Den Haag entscheidet, was dort bürgernäher entschieden werden kann.

Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft seit 1957 war begleitet von Rückschlägen und Krisen und sie ist trotzdem eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Auch für die Zukunft muss gelten: An Schwierigkeiten darf Europa nicht scheitern. Es muss sie lösen. Europa wird gebraucht, notwendiger denn je!


Fußnoten:


  1. Artikel 23 des Grundgesetzes in der Fassung von 1992 schuf dann die rechtliche Grundlage zur Ratifikation des Vertrags von Maastricht durch die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Gesamtheit (alte und neue Bundesländer). Der Text findet sich z. B. unter https://dejure.org/gesetze/GG/23.html. (Anm. d. Redaktion) ↩︎

  2. Der Text des Artikels 146 lautete ursprünglich: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Am 29. September 1990 wurde er wie folgt verändert: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ ↩︎