Den Vorhang des Misstrauens zerreißen

Interview mit dem Alterzbischof von Wien, Franz Kardinal König
aus OWEP 1/2000  •  von Thomas Schumann

Eindrucksvoll hat der frühere Erzbischof von Wien, Franz Kardinal König, beim 3. Internationalen Kongress Renovabis vor 340 Teilnehmern aus 22 europäischen Ländern zu einem „interreligiösen Dialog für ein neues Europa-Bewusstsein“ aufgerufen. Für OST-WEST. EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN sprach Thomas Schumann mit dem Kardinal. Fazit des 94-jährigen Konzilvaters: „Es geht um die gemeinsame Aufgabe aller gesellschaftlichen und kulturellen Lebensformen, neue Wege menschlicher Wertschätzung, gegenseitigen Vertrauens und der Verständigung zu finden, die zusammen letztlich dem Frieden dienen.“

OWEP: Eminenz, wenn sich in dieser Zeit um die Jahrtausendwende Menschen darüber Gedanken machen, ob und wie Christen Europa verändern können, was sagen Sie diesen Menschen? Teilen Sie die Meinung vieler Religionssoziologen und auch von Bischöfen, die eine Entchristlichung unseres Kontinents wahrnehmen?

Kardinal König: Sicher, ich kenne die Studien und Dutzenden von Analysen mit immer denselben Zahlen. Der Glaubensvollzug sinkt, von einem „Europe without priests“ ist die Rede. 73 Prozent der Ostdeutschen nennen sich selber religionslos, ähnlich ist es in der Tschechei. Huntington glaubt, Europa sei im Begriff säkular zu werden. Die Statistiken belegen also allem Anschein nach tatsächlich ein religiöses Vakuum. Aber mich macht stutzig, dass niemand fragt: Was tun wir jetzt? Genauso gut lassen sich doch auch Fakten für eine Rennaissance der Religiosität anführen. Denken Sie an Taizé oder die Weltjugendtreffen, oder auch daran, dass der Papst trotz seines angeblich schlechten Images bei den Europäern bei solchen Gelegenheiten wie in Paris oder Wien Millionen junger Leute fasziniert. Weltweit gesehen imponiert dieser Papst sowieso, wie Artikel in Herald Tribune und Time Magazine beweisen. Die Medien erwählten Johannes Paul II. sogar zum „Mann des Jahres“. Wenn sich das Christentum tendenziell von Europa wegverlagert, so sind dennoch europäische Kunst, Geschichte und auch Gegenwart so sehr vom Christentum geprägt, dass es ein atheistisches Europa einfach nicht gibt. Weil aber die Religion zum Wesen des Menschen dazugehört, gilt es, diese christlichen Spuren in Europa wieder deutlicher zu machen. In diesem Widerspruch christlicher Wurzeln versus areligiöser Entwicklungen bzw. des religiösen Vakuums bedarf es der Demonstration.

OWEP: Dann kommt es also darauf an, wie man auf die Thesen Huntingtons oder – aus anderer Blickrichtung - der Religionssoziologen wie z. B. Jan Kerkhofs reagiert? Können Christen Europa also doch verändern?

Kardinal König: Die wissenschaftlichen Thesen sind interessant, aber die Glaubwürdigkeit etwa einer Mutter Theresa aus Albanien verfehlen ihre Wirkung ebenso wenig. Deswegen: Ich habe keine Sorgen, ich glaube ich vertraue. Aber: Der Prozess der Säkularisierung zwingt uns Christen dazu, mit vereinten Kräften vorzugehen. Wenn wir an der geistigen Neuorientierung eines sich wandelnden Europas mitarbeiten wollen, können wir Christen auf Dauer untereinander nicht uneins sein. Deswegen muss der ökumenische Dialog mit Blick auf unseren Kontinent fortgeführt und ausgebaut werden. Zusätzlich gehört dazu auch, dass Christen mit großem Respekt anerkennen, was außerhalb des Christentums gewachsen ist. Durch den Fall des Eisernen Vorhangs vor zehn Jahren wurde eine ungeheure Euphorie ausgelöst. Die östlichen Mitteleuropäer waren uns plötzlich ganz nah. Sie dachten, jetzt kommen wir nach Europa zurück. Ein halbes Jahr nach den Grenzöffnungen ist ein Vorhang des Misstrauens hochgegangen und der zerreißt nicht so schnell. Christen sollten dazu beitragen, das Misstrauen weiter abzubauen und ich glaube, es ist schon im Schwinden ich selbst helfe ein bisschen mit.

OWEP: Sind sie zuversichtlich für die Ökumene mit der Russischen Orthodoxen Kirche?

Kardinal König: Ja, ich bin optimistisch-realistisch. Es braucht Fingerspitzengefühl und Zeit. - Lassen Sie mich aber noch etwas ergänzen zu unserer Aufgabe, als Christen zu leben in einer Welt, die uns nicht will. Wenn uns auch kalter Wind entgegen fegt, ätzende Kritik vieles Gute wegschiebt, so bleibt doch die Frage: Was tun wir denn eigentlich? - Bis jetzt hat’s geheißen: Die Pfarrer sollen ..., die Laien sollen in die Kirche gehen. Ich sage: Jetzt muss das Zweite Vatikanum endlich verwirklicht werden. Ja, es braucht wirklich eine Neuevangelisierung. Wir müssen den Menschen auf Pfarrebene nachgehen. Ich selbst habe diese den Menschen nachgehende Seelsorge stets vorangetrieben. Dabei sind Priester und Laien gemeinsam verantwortlich für das Leben und Wirken der Kirche. Das gilt im Kleinen und für Europa.

OWEP: Sie, Herr Kardinal, gehören zu den Vätern des Zweiten Vatikanischen Konzils. Hält der Konzilsteilnehmer Franz König die Ideen des Vatikanums für verwirklicht, für beim Kirchenvolk angekommen?

Kardinal König: Es gab manche Schwierigkeiten. Ich bin nicht enttäuscht; ich bin - trotz allem - vom Konzil überzeugt. Man hat auf Seiten der Konzilsväter Fehler gemacht, wenn man vergaß, die Erklärungen zu den Veränderungen zu geben. Wir haben zu vieles vorausgesetzt. Wir hätten deutlicher sagen müssen, warum der Altar gewendet worden ist usw. - Für mich war das Konzil deswegen ein Erlebnis, weil ich es genoss zu spüren: „Macht die Tore auf!“ Es wurde eine Wende vollzogen aus der großen Defensive hinaus in die ganze Welt, aus der Verteidigung heraus auf die Menschen zu. Fünf große Konzilsimpulse scheinen mir für die Kirche an der Schwelle des Milleniums nach wie vor wichtig: Ich nenne erstens den ökumenischen Dialog, das Zugehen auf die anderen. Zweitens: Die Kirche braucht die Laien. Drittens: Das erneuerte Kirchenverständnis - die Kirche ist das „Volk Gottes unterwegs“, sie ist eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst. Sie ist nicht nur eine hierarchische-rechtliche Struktur. Viertens - für mich das Wichtigste: der interreligiöse Dialog; nichts ablehnen, was in der anderen Religion wichtig ist. Fünftens: die Anerkennung der Religionsfreiheit.

OWEP: Wir danken Ihnen, Eminenz, sehr für dieses Gespräch.