1939: Abschluss des Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrags

aus OWEP 4/2017  •  von Gerhard Simon

Prof. em. Dr. Gerhard Simon: 1991 - 2000 Leitender Wissenschaftlicher Direktor im Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien in Köln.

Die sensationelle deutsch-sowjetische Verständigung im Sommer 1939 schien eine vollständig neue geopolitische Lage zu schaffen. Der Nichtangriffspakt vom 23. August und der „Deutsch-Sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag“ vom 28. September, insbesondere aber deren geheime Zusatzprotokolle, vereinbarten in nur wenig verklausulierter Form die Wiederherstellung der geopolitischen Verhältnisse im Osten Europas, wie sie vor 1914 bestanden hatten: Die selbstständigen Staaten Polen, Finnland, Estland, Lettland und Litauen sollten von der Landkarte verschwinden, Bessarabien der Sowjetunion zugeschlagen werden. Polen sollte zwischen Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt, die baltischen Staaten und Finnland der UdSSR eingegliedert werden. Bis zum August 1940 wurden alle diese Absprachen zwischen den beiden totalitären Diktaturen realisiert – bis auf Finnland, das im Winter 1939/40 der Sowjetunion massiven militärischen Widerstand leistete und mit der Abtretung von Wyborg und einem Teil von Karelien davonkam.

Der Hitler-Stalin Pakt (bzw. der Molotow-Ribbentrop Pakt, wie er meist genannt wird) vom 23. August 1939 traf die Öffentlichkeit vollständig unvorbereitet und löste insbesondere unter Kommunisten und in der Komintern Panik aus. Die bisher gegeneinander gerichtete Propaganda in Deutschland und der Sowjetunion vollzog eine Wendung um 180 Grad, wie das nur in totalitären Regimen machbar ist. Nach eineinhalb Jahren und mit dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion endete die „Freundschaft“.

Die deutsch-sowjetischen Verträge wurden von keiner Seite bona fide abgeschlossen. Beide Seiten waren vielmehr davon überzeugt, die andere Seite in die Falle gelockt zu haben. Stalin glaubte, zumindest auf Jahre hinaus einen deutschen Angriff abgewendet zu haben, während Hitler ungestört eben diesen Angriff auf die Sowjetunion vorbereitete. Aufrichtigkeit zwischen den Vertragsparteien herrschte dagegen in der zynischen Einigkeit über die Auslöschung der Staaten, die zwischen Deutschland und der Sowjetunion lagen. Die Existenz der geheimen Zusatzprotokolle, die diese Politik anleiteten, wurde in Russland bis 1989 geleugnet, in Deutschland wurden die Texte nach Kriegsende 1945 publiziert.