Europas unbekannte Urwälder in Transkarpatien

aus OWEP 3/2010  •  von Bohdan Prots

Dr. Bohdan Prots ist Mitarbeiter des Staatlichen Museums für Naturgeschichte in Lviv und der Akademie der Wissenschaften der Ukraine.

Einführung

Die Flusswälder Transkarpatiens (Zakarpatska Oblast/Westukraine) stellen eines der größten noch erhaltenen Rückzugsgebiete der historischen zentraleuropäischen Flusswälder dar, die im CORINE-Handbuch der Lebensräume als „das in Bezug auf Strukturen, Pflanzen- und Tierwelt vielfältigste aller europäischen Ökosysteme“ bezeichnet werden, wobei „die von Flüssen durchzogenen Wälder Europas sich auf einige wenige, höchst gefährdete Beispiele verringert“ haben.1

In fast allen großen zentraleuropäischen Tälern wurden die Flüsse seit Beginn des 18. Jahrhunderts begradigt (z. B. der Rhein). Dies zog folgende Konsequenzen nach sich:

  • die Fluss-Morphologie hat sich vollständig verändert,
  • die hydrologische Verbindung zwischen dem Fluss und den Feuchtgebieten der Schwemmlandebene hat sich auf wenige Bereiche verringert,
  • die Vielfalt der Vegetation wurde erheblich reduziert.

Die zunehmende Entkopplung von Altwässern und ehemaligen Seitenarmen führte zu einem fortschreitenden Zustand der Verlandung (z. B. beim Rhein, bei der Donau östlich von Wien oder am Oberlauf der Drau in Kärnten). Auch am Unterlauf der Flüsse zeigen sich ähnliche Veränderungen, die der Unterbrechung von Mäandern und der Abdämmung zuzuschreiben sind (beispielsweise an March/Morava in Österreich und Tschechien).

Diese seit mehr als hundert Jahren anhaltende Entwicklung führte zu (a) fortschreitendem Einschneiden von Kanälen, (b) zu sinkenden Grundwasserspiegeln und (c) zu einem Mangel grober Sedimente in den Schwemmlandebenen nach Überschwemmungen. Diese mehr oder weniger stabilen Standortbedingungen entlang ursprünglich miteinander verbundener Flusslandschaften haben die Vegetation wesentlich verändert: An die Stelle urtümlicher Auenwälder sind bewirtschaftete Wälder getreten, oft mit einer eintönigen Monokultur aus Pappeln.

Das Untersuchungsgebiet

Alter Baumbestand in den Auenwäldern (Foto: Bohdan Prots)

Das im folgenden Bericht untersuchte Gebiet befindet sich in der Westukraine (historisch auch „Karpato-Ukraine“ genannt), unweit der Grenzen zur Slowakei, zu Ungarn und Rumänien. Die Flüsse Theiß, Borzhava, Latorytsya, Uzh und andere, die an den transkarpatischen Hängen entspringen, formen den nordöstlichen Teil der Pannonischen Tiefebene. Die Überschwemmungsebenen dieser Flüsse schaffen die Lebenswelt für Eichen-, Eschen-, Pappel-, Weiden- und Erlenwälder. Der urtümliche Baumbestand, der ca. 150-250 Jahre alt ist und ca. 2.500 Hektar umfasst, bildet den wertvollsten Teil dieser Auenwaldregion.

Transkarpatien stellt ein gutes Beispiel für eine Region mit ineinander verflochtenen Flussläufen dar. Alte Entwässerungskanäle, die bereits unter der Österreich-Ungarischen Monarchie angelegt wurden, haben zur Erhaltung einer gut entwickelten Wasser- und Sumpfvegetation beigetragen. Sie dienen als Schutzort für seltene und gefährdete Pflanzenarten der Altwasserseen wie beispielsweise Trapa natans (Wasernuss), Nymphoides peltata (Europäische Seekanne)und Stratiotes aloides (Krebsschere). Die Böden haben einen hohen Grundwasserstand und werden regelmäßig aufgrund der Schneeschmelze im Frühling oder infolge ganzjähriger Regenperioden überflutet.

Das Jahrhundert der Zerstörung

Abholzung von Wäldern (Foto: Bohdan Prots)

Die geographische Lage des transkarpatischen Überschwemmungswaldes, der nahe der westlichen Grenze zur ehemaligen Sowjetunion liegt, beschränkte in der Vergangenheit jede Art von groß angelegter Nachforschung bezüglich seiner biologischen Vielfalt und seiner nachhaltigen Nutzung. Allerdings veränderte die intensive Land- und Forstwirtschaft während der letzten zwei Jahrhunderte, insbesondere in den letzten Jahrzehnten, den gesamten Waldbestand erheblich. Allein innerhalb der Ebenen wurden im letzten Jahrhundert Überschwemmungswälder auf einer Fläche von ca. 13.000 Hektar zerstört. Ähnliches wurde für die benachbarte Slowakei festgestellt. Der Rückgang der Fläche von Flusswäldern im nordöstlichen Teil der ungarischen Tiefebene während des letzten Jahrhunderts wird auf 41 Prozent (Slowakei) bzw. 44 Prozent (Transkarpatien) geschätzt.

Das zunehmende Auftreten verheerender Überschwemmungen innerhalb der Region und flussabwärts an der Theiß und im Donaubecken wird mit der Abholzung der Auenwälder und der Entwässerung von Torfmooren, Sümpfen und Altwasserseen in Verbindung gebracht. Im Laufe des letzten Jahrzehnts litten ca. 90 Prozent der Region unter den Auswirkungen dieser Überschwemmungen. Dreimal wurde die Region sogar von der ukrainischen Regierung zum nationalen Katastrophengebiet erklärt2. Die Folgen der Überschwemmungen werden durch die wachsende Umweltverschmutzung der Gesamtregion verstärkt, die weite Flächen betreffen kann.

All diese Faktoren führen dazu, dass die ökologische Bedeutung der Flusswälder erst seit Kurzem von der breiten Öffentlichkeit gewürdigt wird. Zudem gibt es keinen wirkungsvollen Naturschutz. Weiterhin verstärkt die derzeitige wirtschaftliche Stagnation den Druck, der auf diesen Wäldern lastet. Illegales Abholzen, Misswirtschaft, Armut und sogar rechtliche Unsicherheiten stellen auch weiterhin ernstzunehmende Wirtschafts- und Umweltprobleme für die Region dar.

Brennpunkte der biologischen Vielfalt

In der Vergangenheit wurde das Untersuchungsgebiet mit Ausnahme des oberen Teils des Theißbeckens nur unzureichend erforscht. Eine Vorstudie, die von Anton Drescher und Bohdan Prots 1997/1998 durchgeführt wurde, mündete in die Wiederentdeckung der einzigartigen urzeitlichen Flusswälder in Transkarpatien ein – eine bedrohte europäische Vegetationsform. Entdeckt wurden u. a. mehrere neue Pflanzengemeinschaften und eine bisher in der Ukraine unbekannte Orchideenart, Epipactis albensis (Elbe-Stendelwurz).

Weiterführende Studien kamen zu dem Schluss, dass diese Feuchtgebiete eine große Zahl national und international gefährdeter Pflanzenarten, Lebensgemeinschaften und eine einzigartige Vielfalt von Lebensräumen umfassen. In diesem Zusammenhang ist der Altbaumbestand (Alter: 150-250 Jahre alt, umfasst 3-15 Prozent der Fläche) von besonderem Interesse. Die Besonderheiten dieses Baumbestandes ähneln jenen von urwüchsigen Pflanzenbeständen wie z. B. Witterungsunempfindlichkeit, natürliche Regeneration und hochgradige Widerstandsfähigkeit. Heutzutage beschränken sich diese Flusswälder auf einige wenige hochgefährdete Beispiele, die hauptsächlich innerhalb des ukrainischen Teils des Theißbeckens anzutreffen sind.

Die Ausbreitung seltener Pflanzen- und Tierarten in feuchten Lebensräumen in Transkarpatien zeigt eine starke Beziehung zwischen Brennpunkten der biologischen Vielfalt und der Ausbreitung von Flusswäldern, insbesondere alten Pflanzenbeständen. So sind beispielsweise 60-90 Prozent des Territoriums in Anhang I der EU-Lebensraumrichtlinie aufgelistet. Es finden sich darin achtzehn Arten von Gefäßpflanzen, die auch in der ukrainischen „Roten Liste für Pflanzenarten“ von 1996 aufgelistet sind. Ein weiteres Beispiel aus der Tierwelt bildet die Fledermausfauna: In der Ukraine leben 27 Arten – die Lebensbedingungen von 23 Fledermausarten sind mit den alten transkarpatischen Flusswäldern verbunden.

Trotz dieser ausgewählten Fakten genießen die Wälder zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen wirkungsvollen Naturschutz. Dabei gilt es festzuhalten:

  • In ihnen spielen sich zahlreiche natürliche Prozesse ab.
  • Die Bedeutung für den natürlichen Wasserhaushalt ist enorm.
  • Sie beinhalten genetische Ressourcen von hohem Wert.
  • Ihre kulturelle Bedeutung darf nicht unterschätzt werden.
  • Sie sind von gesamteuropäischer Bedeutung.

Überschwemmungswälder und Überschwemmungen

Das zunehmende Auftreten von verheerenden Überschwemmungen in der transkarpatischen Region und flussabwärts im Gebiet der Theiß und des Donaubeckens wird mit der Abholzung der Auenwälder und der Entwässerung von Torfmooren, Sümpfen und Marschgebieten in Verbindung gebracht. Die Bedeutung dieser Auen für den natürlichen Wasserkreislauf wurde bisher weitgehend unterschätzt und bis zu den jüngsten katastrophalen Überschwemmungen 1998 und 2001 weder für die Karpatenregion noch für das gesamte Theißbecken erkannt. Die Zerstörung dieses Lebensraumes führt außerdem zu einem Rückgang von Pflanzen- und Tierarten. Schließlich darf auch die Umweltverschmutzung mit ihren verheerenden Folgen nicht unterschätzt werden.

Plastikmüll in den Auenwäldern als Beispiel für Umweltzerstörung (Foto: Bohdan Prots)

Andererseits besteht das Aktivpotenzial dieser Täler aus sehr dynamischen und komplexen biophysikalischen Lebensräumen, deren Evolutions- und Anpassungsgeschichte weit in die Vergangenheit zurück reicht. Pflanzengesellschaften in den Überschwemmungsebenen setzen sich aus Gattungen zusammen, die entsprechend spezialisiert und an Beeinträchtigungen angepasst sind. Fast jedes Jahr sind die meisten Pflanzen in den Talauen und an Flussufern Überschwemmungen, Erosionen, Eisschäden und Dürren ausgesetzt. Saisonbedingte Schwankungen im Hinblick auf Verunreinigungen schaffen Umweltbedingungen, die sogar für die duldsamste Gattung eine Herausforderung darstellen3. Diese Prozesse sondern natürliche Vegetationsarten aus, die unter solchen Bedingungen überleben können und widerstandsfähig sind. Sie verlangsamen den Wasserfluss während Überschwemmungen, füllen die Grundwasserreservoire auf, übernehmen die Rolle ökologischer Korridore, bilden Nährstofffilter und wirken schließlich als physische und biologische Zwischenspeicher. Diese Eigenschaften gelten auch für Hochgebirgsmoore, Torfmoore und Sümpfe, die entscheidend für die Speicherung von Wasser sind und dazu beitragen, das Risiko von Überschwemmungen zu verringern.

Wichtig ist es, dass den Verwaltungsorganen vor Ort klare Richtlinien wie beispielsweise der Rückbau von Dämmen in ausgewählten Bereichen eines Flusslaufs und die Erneuerung des Vegetationsbestandes im Rahmen eines „grenzüberschreitenden Managements“ an die Hand gegeben werden. Viele einzelne Maßnahmen tragen dazu bei, die natürlichen Prozesse des Wasserkreislaufs zu verbessern, sodass die Zahl katastrophaler Überschwemmungen im Einzugsgebiet der Theiß verringert wird.

Unter den derzeitigen sozio-ökonomischen Bedingungen ist die Einrichtung einer Schutzzone in Ländern im wirtschaftlichen Umbruch wie beispielsweise der Ukraine der einzige kostengünstige Weg, das langfristige Überleben gefährdeter Gattungen und Lebensräume zu gewährleisten. Jede Einrichtung einer Schutzzone fördert neue Investitionen in die Tourismusentwicklung der Region „Obere Theiß“. Zudem dürfte dies auch dazu beitragen, das Risiko schwerer Überschwemmungen in den Siedlungsgebieten zu verringern und folglich die Armut in der Region zu lindern. Ebenso eröffnet es neue Möglichkeiten grenzüberschreitender Umweltzusammenarbeit.

Alte Wassermühle am Fluss Tereblya – mögliches Objekt im Ökotourismus? (Foto: Bohdan Prots)

Implikationen für den Naturschutz

Nach langfristigen Vorbehörden mit Behörden und örtlichen Gemeinden wurde der regionale Landschaftspark „Prytysianskyi“ (ca. 10.000 Hektar Fläche) nach der Genehmigung des Regionalparlaments eröffnet. Dennoch reicht diese Errungenschaft als alleinige Maßnahme nicht aus, den tatsächlichen Schutz dieser Lebensräume zu gewährleisten, vielmehr bedarf es einer Menge weiterer Arbeit im Bereich des Naturschutzes.

Der neu eingerichtete Landschaftspark wird Investoren ermutigen, sich in der Transkarpatenregion zu engagieren. Dies wird auch zum Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen, etwa durch Förderung einheimischer Wirtschaftszweige wie der Holzverarbeitung (z. B. Anfertigung von Möbeln und Weinfässern). Natürlich wird durch den Rückbau von Dämmen auch die Überflutungsgefahr sinken, womit die Bedrohung für die menschlichen Siedlungen insgesamt abnimmt. All das trägt insgesamt dazu bei, dass sich zwischen der Europäischen Union und der Ukraine wirtschaftliche und kulturelle Brücken bilden, die Anstoß für weitere Programme zur Verbesserung des menschlichen Lebens auf der Basis „grüner Wirtschaft“ sein könnten.

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Hartl


Fußnoten:


  1. D. Moss (u. a.): CORINE Biotopes Manual. Methodology. Data Specifications. 2 Bände. Office for Official Publications of the European Communities. Luxemburg 1991. – Die Region liegt ganz im Westen der Ukraine (Schraffur auf der Skizze). ↩︎

  2. Anton Drescher/Bohdan Prots/Owen Mountford: Project Transcarpathian Riverine Forests, Ukraine, at the Start Point. In: Jozsef Benedek/E. Schulz (Hrsg.): Südosteuropa. Geographische Entwicklungen im Karpatenraum (Würzburger Geographische Manuskripte, Nr. 63). Würzburg 2003, S. 139-144. ↩︎

  3. J. P. Grime: Plant Strategies and Vegetation Processes. New York 1979; R. J. Naiman/R. E. Bilby (Hrsg.): River Ecology and Management. Lessons from the Pacific Coastal Ecoregion. New York 1997. ↩︎