Katyn und Chatyn – Fragen an die gesellschaftliche Bedeutung von Erinnerung

aus OWEP 1/2002  •  von Jörg Lüer

Jörg Lüer ist Referent bei der Deutschen Kommission Iustitia et Pax in Berlin.

Im Juli 2000 wurden in Katyn unter Beteiligung von hochrangigen Vertretern Polens und Russlands der Friedhof und die Gedenkstätte für die durch den NKWD 1940 ermordeten polnischen Offiziere feierlich eröffnet. Die Beteiligung von hochrangigen Vertretern Polens und Russlands verweist auf die große Bedeutung des Ortes für das polnisch-russische Verhältnis. Aber was hat es mit der Causa Katyn auf sich?

Katyn – ein stalinistisches Verbrechen

Am 17. September 1939 marschierte die Rote Armee in Polen ein. Ca. 240.000 polnische Soldaten und Offiziere gerieten in sowjetische Gefangenschaft. 15.000 polnische Offiziere wurden in den Lagern Koselsk, Starobelsk und Ostaschkow inhaftiert. Ende März 1940 erging der von Stalin unterzeichnete Befehl des Politbüros, unverzüglich mit der Operation „Löschen“ zu beginnen, d.h. die inhaftierten Offiziere dieser Lager zu töten. In Ausführung des Befehls wurden zwischen dem 23. März und 13. Mai 1940 4.404 Offiziere des Lagers Koselsk in den Wald von Katyn bei Smolensk gebracht und mit Genickschuss ermordet. Insgesamt wurden im Rahmen der Operation „Löschen“ 14.587 Personen an verschiedenen Orten ermordet. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurden die polnische Exilregierung und die UdSSR zu Alliierten. Die polnischen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion wurden amnestiert; man begann, aus ihnen eine polnische Armee aufzustellen, die im Verbund der Roten Armee in den Krieg eingreifen sollte. Somit trat die Frage nach dem Verbleib der kriegsgefangenen polnischen Offiziere auf die politische Tagesordnung.

Die ersten noch unbeachteten Informationen über den Massenmord an den polnischen Offizieren erhielt die deutsche Wehrmacht, als sie Kriegsgefangene aus der Umgebung von Smolensk vernahm. Diese Hinweise verdichteten sich, als im Frühjahr 1942 polnische Zwangsarbeiter mit der Organisation Todt in die Nähe von Katyn kamen und von der russischen Bevölkerung auf den Ort der Erschießung hingewiesen wurden. Die Nachricht über den Massenmord bei Katyn verbreitete sich nun als Gerücht zügig weiter. Im Februar 1943 wurde, nachdem die nationalsozialistische Führung den propagandistischen Wert von Katyn erkannt hatte, mit Exhumierungen begonnen. Diese brachten zu Tage, dass an die 15.000 Menschen bei Katyn vom NKWD erschossen worden waren.

Entdeckung von Katyn – Wendepunkt in den polnisch-sowjetischen Beziehungen

Während die Aufdeckung der Verbrechen von Katyn keinen nennenswerten Einfluss auf die deutsch-polnischen Beziehungen hatte, veränderte „Katyn“ die polnisch-sowjetischen Beziehungen schlagartig. Zwei Tage nach der offiziellen deutschen Veröffentlichung der Informationen über Katyn erhob die Sowjetunion am 15. April 1943 in ihrer Gegendarstellung den Vorwurf, dass es sich um von den Deutschen bei ihrem Einmarsch 1941 ermordete Menschen handele. Das Ganze sei nichts als ein groß angelegtes Täuschungsmanöver, um einen Keil zwischen die Alliierten zu treiben. Als die polnische Exilregierung auf eine Untersuchung der Massengräber bei Katyn durch das Internationale Rote Kreuz drängte, antwortete die Sowjetunion mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Die Causa Katyn, über die die polnische Exilregierung nicht hinweggehen konnte, führte zur politischen Isolierung der Exilregierung, zumal die westlichen Alliierten in dieser Frage keine Auseinandersetzung mit der Sowjetunion wünschten. Die sowjetische Führung ihrerseits betrieb nunmehr den Aufbau einer sowjetfreundlichen polnischen Führung. Die Exilregierung und die mit ihr verbundene Untergrundarmee galten der Sowjetunion fürderhin als politischer Feind. Die abwartende Zustimmung zur Vernichtung wesentlicher Kader der polnischen Untergrundarmee durch die Deutschen während des Warschauer Aufstands 1944 machte unmissverständlich deutlich, dass die Sowjetunion nicht gewillt war, ein anderes als ein von ihr eingesetztes Regime in Polen zu dulden. Zur eigenen propagandistischen Entlastung beauftragte die sowjetische Führung im Januar 1944, einige Monate nachdem sie die Gegend um Smolensk befreit hatte, nun ihrerseits eine sowjetische Kommission, sich an Ort und Stelle in Katyn ein Bild zu machen. Zuvor hatte man die Zeit für die Errichtung eines makabren Potemkinschen Dorfes genutzt. Die 1943 angelegten Gemeinschaftsgräber hatte man beseitigt und eine umfangreiche Leichenumbettung vorgenommen, wobei die Leichen so präpariert wurden, dass der Verdacht auf deutsche Kräfte gelenkt wurde. Nicht ganz überraschend kam die Kommission dann zu dem gewünschten Ergebnis, dass es sich um Exekutionen im Zuge des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion handele.

Die staatstragende Lüge

In den folgenden Jahrzehnten hielt die Sowjetunion an dieser Sicht der Vorfälle fest. Kritik an dieser Lesart, die immer zugleich eine Kritik an der sowjetischen Besetzung Polens und damit der politischen Verhältnisse insgesamt sein musste, wurde entschieden verfolgt. Besonders betroffen waren in den ersten Nachkriegsjahren Soldaten und Offiziere der polnischen Untergrundarmee. Viele von ihnen wurden in die Sowjetunion verschleppt und ermordet. Nichtsdestoweniger bzw. gerade auch deshalb wurde Katyn in Polen zu einem Symbol der sowjetischen Unterdrückung. Im westlichen Ausland, das während des Krieges aus Rücksichtnahme auf die Sowjetunion die Katynproblematik nicht thematisierte, wurde „Katyn“ während des Kalten Krieges von manchen Kräften als nützliches Argument in der ideologisch-propagandistischen Auseinandersetzung genutzt. Der instrumentelle Charakter dieses antikommunistischen Zugangs blieb aber offensichtlich. „Katyn“ blieb – von raren Ausnahmen abgesehen – gleich welche politische Position eingenommen wurde, letztlich eine Funktion des jeweiligen Verhältnisses bzw. angestrebten Verhältnisses zur Sowjetunion.

Für unsere und eure Freiheit

Interessanter, weil für die polnisch-russischen Beziehungen von hoffnungsvoller Bedeutung, ist hingegen die Beobachtung, dass sich seit den siebziger Jahren auch in den russischen Dissidentenmilieus die Frage nach Katyn regte. 1987, als sich die politischen Verhältnisse im Zuge von Glasnost und Perestroika zu wandeln begannen, warf die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ die Frage erneut auf. Im Rahmen von gemeinsamen polnisch-russischen Historikerkonferenzen wurde halb im Untergrund an der Aufklärung des Falls Katyn gearbeitet. Die politische Perspektive war klar: Nur wenn die gesellschaftlichen Innen- wie Außenbeziehungen auf eine wahrhaftige Grundlage gestellt würden, wäre das gemeinsame Ziel der Demokratisierung sowohl Russlands respektive der Sowjetunion als auch Polens zu erreichen. Zugleich war evident, dass angesichts der massiven Dominanz der Sowjetunion im ost- und mitteleuropäischen Raum die polnische Problematik nur mittels eines Wandels in der Sowjetunion vorangebracht werden konnte. Die inoffiziellen Historiker griffen in ihrer Kooperation den Beziehungsstrang auf, der schon 1942 gelegt worden war, als die örtliche russische Bevölkerung den polnischen Zwangsarbeitern die Erschießungsstelle von Katyn zeigte. Zugleich machte sich auch in Teilen der sowjetischen Führung der Gedanke breit, dass es an der Zeit sei, Katyn einer Neubewertung zu unterziehen. Im Dezember 1987 plädierten Jakowlew, Medwedjew, Schewardnadse und Sokolow für eine Anerkennung der sowjetischen Verantwortung für die Verbrechen von Katyn. Es blieb vorläufig eine Minderheitenposition. Doch der Druck nicht zuletzt vonseiten des polnischen Politbüros, das nunmehr unter dem wachsenden Druck der Entwicklungen in Polen ebenfalls eine Aufklärung der Verbrechen von Katyn forderte, wuchs. Ende März 1989 erging vom Politbüro der KPdSU schließlich die Anweisung an alle befassten Organe, Vorschläge zum weiteren Verhalten in der Katynfrage machen. Sogleich setzte ein signifikanter Machtkampf zwischen den verschiedenen Fraktionen in der sowjetischen Führung um das Deutungsmonopol zu Katyn ein. Er endete damit, dass die sowjetische Führung am 13. April 1990 endlich die Verantwortung des Politbüros und des NKWD für die Verbrechen von Katyn anerkannte. 10 Jahre später wurde schließlich eine angemessene, die Tatsachen reflektierende Gedenkstätte in Katyn eingeweiht. Die Untersuchungen hatten ergeben, dass neben den 4.400 ermordeten polnischen Offizieren weitere 10.000 Personen – zumeist Bürger der Sowjetunion – vom NKWD in Katyn ermordet worden sind. Diese Tatsache macht symbolisch die Verschränkung der Aufklärung der Verbrechen des Stalinismus insgesamt mit der Verbesserung der polnisch-russischen Beziehungen deutlich. Katyn, ein Ort von internationaler Signifikanz, steht heute für die kleinen und zarten Hoffnungen auf eine Abkehr Russlands von seinem imperialen Selbstverständnis. Es steht ebenso für das polnische Leiden unter der Sowjetunion. Es steht aber auch für das problematisch ungebrochene Selbstbild vieler Polen als einer „Opfernation“. Die Stilisierung des eigenen Martyriums stärkte die Widerstandsfähigkeit der polnischen Gesellschaft, zugleich förderte sie in erheblichen Umfang Tendenzen, die schwarzen Flecken der eigenen Geschichte, die z.B. in den Ereignissen von Jedwabne und Kielce verkörpert sind, zu verdrängen. Es ist bezeichnend, dass in dem Maße, in dem die Leiden der polnischen Bevölkerung unter deutscher und sowjetischer Besetzung international Anerkennung gefunden haben und somit die Notwendigkeit der Stilisierung wegfiel, in der polnischen Gesellschaft die Kräfte gestärkt wurden, die einen selbstkritischeren Blick auf die eigene Geschichte einfordern.

Chatyn – ein nationalsozialistisches Verbrechen

Einen ganz anders gelagerten Fall findet man vor, wenn man sich der Gedenkstätte Chatyn zuwendet. Chatyn liegt 50 Kilometer von Minsk entfernt und bezeichnet ein ehedem typisches weißrussisches Dorf. Am 22. März 1943 wurde Chatyn im Rahmen der „Bandenbekämpfung“ von einem SS-Bataillon dem Erdboden gleich gemacht, indem man die Bevölkerung in eine Scheune trieb und diese, wie das gesamte Dorf, anzündete. Chatyn ist nur eines von mehreren hundert Dörfern in Weißrussland, dem ein solches Schicksal widerfuhr. (Während des Zweiten Weltkriegs verlor Weißrussland ein Viertel seiner Bevölkerung.) 1969 wurde zur Erinnerung an die Leiden der weißrussischen Bevölkerung unter deutscher Besatzung sowie zum Gedenken an die Opfer in Chatyn eine zentrale Gedenkstätte eingerichtet. Die historische Interpretation, die in Chatyn im Gegensatz zum sonstigen sowjetischen Monumentalismus auf vergleichsweise dezente Art vermittelt wird, fügt sich mit ihrem nachvollziehbar klaren Feindbild durchaus in die sowjetische Lesart des Zweiten Weltkriegs ein. Die Berechtigung dieses Feindbildes wird man angesichts des deutschen Vernichtungskriegs in Osten auch schwerlich bestreiten. Mit Blick auf die innerweißrussische Versöhnung wäre jedoch zu wünschen, dass die dort zu beobachtenden bürgerkriegsähnlichen Tendenzen während des Zweiten Weltkriegs – eine Folge des stalinistischen Terrors –, in angemessenerer Weise zur Sprache gebracht werden könnten.

Im Unterschied zu Katyn hat Chatyn kaum internationale Aufmerksamkeit erlangt. Die meisten Zeitgenossen in Deutschland wären wohl kaum in der Lage zu beschreiben, wo Chatyn liegt, geschweige denn wofür Chatyn steht. Dieser Unterschied in der deutschen Wahrnehmung von Katyn und Chatyn ist von bemerkenswerter Signifikanz für einige Tendenzen im deutschen Umgang mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Es ist zum einen sicherlich leichter, die Verbrechen der „anderen“ als die „eigenen“ in Erinnerung zu rufen. Es ist wohl auch nicht zu bestreiten, dass Weißrussland traditionell keine besondere Aufmerksamkeit in Deutschland erregt. Zugleich steht die Unkenntnis über Chatyn, die sich abhebt von ähnlichen – in der breiten Öffentlichkeit durchaus bekannten – Fällen in Oradour und Lidice, aber auch für die Schwierigkeiten der deutschen Gesellschaft, sich in einem umfassenderen Sinne mit dem Vernichtungskrieg im Osten auseinanderzusetzen. Wie heikel diese Auseinandersetzung für viele heute noch ist, trat in den Kontroversen um die Wehrmachtsausstellung offen zutage. Überträgt man die Frage nach den blinden Flecken zurück auf den polnischen Fall, so lässt sich auch hier feststellen, dass im Gegensatz zur Prominenz von Katyn und der Orte des Holocaust die Hinrichtungen von polnischen Intellektuellen in Palmiry bei Warschau nur kleinen Kreisen ein Begriff sind. Da Erinnerung immer auf einer Auswahl des für erinnernswert Gehaltenen und im Gegensatz dazu dem Vergessen respektive Verdrängen von weniger erinnerungswürdigen Zusammenhängen beruht, ist jede Form der Erinnerung, so auch die Komplexe Katyn und Chatyn, auf die Kriterien der Auswahl sowie die gesellschaftliche Funktion dieser Erinnerung zu befragen. Solcherart kritische Gegenfrage soll dabei keineswegs dazu dienen, Erinnerungsformen generell zu desavouieren. Vielmehr geht es darum, der Versuchung entgegenzutreten, das Unabgegoltene, das oftmals Widersprüchliche und Ambivalente von Geschichte in allzu geschlossenen Erinnerungsdiskursen nicht zur Sprache kommen zu lassen. Es bedarf ohne Zweifel würdiger Orte der Trauer, ein rein sachlicher, wohlmöglich sogar relativierender Diskurs über den angemessenen politischen Umgang mit den Opfern von Massenmord verfehlt die humane Dimension des Problems. Dabei gilt es, Tendenzen zu einer vordergründigen Verzweckung der Erinnerung entgegenzutreten. Eines der untrüglichen Zeichen dafür ist die Selektion der Opfer in „politisch genehme“ und „politisch unerwünschte“. Bundesrepublik wie auch DDR haben in dieser Hinsicht reichhaltige Erfahrungen aufzuweisen. Der Respekt vor den Opfern gebietet höchste Zurückhaltung bei der politischen Instrumentalisierung. Es gilt, die schwierige Balance zu finden zwischen dem würdigen Umgang mit den Toten und den notwendigen gesellschaftlichen Lehren, die aus ihrem Schicksal zu ziehen sind. Den Orten des Geschehens wird für die Entwicklung einer entsprechenden politischen Kultur auch in Zukunft eine wesentliche Bedeutung zukommen. An der Art, wie dort geredet, gedacht und gefragt wird, lässt sich vieles lernen über die zu verhandelnde Problematik.