30 Jahre zwischen Gewinn und Verlust

aus OWEP 3/2019  •  von Maciej Polanowski

Maciej Polanowski (geb. 1972) stammt aus Danzig und arbeitet als Journalist in Warschau.

Maciej Polanowski (Foto: privat)

Ich bin 47 Jahre alt und lebe in Warschau, der Hauptstadt Polens. Hier arbeite ich als Journalist in einem großen Pressekonzern. Ich liebe meine Arbeit, bin verheiratet, habe zwei Katzen und bin mit meinem Leben voll und ganz zufrieden. Oder, präziser gesagt, war es noch bis vor Kurzem. Denn das, was heutzutage passiert, erinnert mich immer mehr daran, was wir, Leute über 40, aus der Vergangenheit sehr gut kennen: die peinliche Reglementierung der Freiheit.

Vor genau 30 Jahren ist Polen unabhängig geworden. Der Kommunismus war aus und vorbei. Das Neue kam und wir jungen Leute waren voller Hoffnung und Erwartungen. Am 4. Juni 1989, dem Tag der ersten freien Parlamentswahlen, der heute als das Ende der Diktatur gefeiert wird, war ich 17 Jahre alt. Was mir gefiel, war die Tatsache, dass ich – der kleine Bücherwurm – plötzlich alle Bücher lesen konnte, die früher verboten waren. Zum Glück waren die meisten längst übersetzt, jetzt konnte man sie dazu noch legal kaufen! Auch im Theater waren einst verbotene Dramen endlich zu sehen, etwa die neuen Brutalisten um Sarah Kane aus England – sie brachten dem jungen Abiturienten, der im grauen Sozialismus aufgewachsen war, Spaß und Freude. So lernte ich die Welt des zerrütteten Westens kennen. Ja, die Kommunisten mochten diese Bezeichnung ... Der Westen war aber, wie ich feststellte, weder zerrüttet noch böse. Er offenbarte sich mir als humanitär und menschenfreundlich! Und ohne Vorurteile ...

In Warschau öffnete man bunte Kneipen, viele davon waren für die so genannten LGBTQ-Leute (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer) bestimmt oder ethnisch ausgerichtet und daher sehr attraktiv. Auch das jüdische Leben im alten jüdischen Bezirk Warschaus erblühte. Und die einst monotone Presselandschaft war reich an vielen neuen Zeitungen und Magazinen.

Für mich war noch etwas von Bedeutung. Nach dem Abitur im Jahr 1992 eröffneten sich vor mir einst unvorstellbare Perspektiven – ich konnte studieren, wo ich nur wollte, und hatte plötzlich die Qual der Wahl! Zuerst studierte ich Jura in Frankfurt an der Oder, dann aber doch lieber Neuphilologie an der Warschauer Universität. Mein Traum war es, als Journalist arbeiten zu können – und er hat sich erfüllt! Und was für eine Freude war es, wählen zu dürfen! Die vielen Parteien, die vielen Programme, die vielen Zukunftsvisionen – das alles hat mich euphorisch gestimmt. Und dann noch diese abenteuerlichen Reisen ins Ausland. Das Ganze damals so exotische Europa war jetzt mein Zuhause.

So optimistisch ich damals war, und so schön die ersten Jahre des Lebens im demokratischen Polen waren, eine Tatsache habe ich schon damals nicht vergessen dürfen. Ich war doch als Kind eines überzeugten Kommunisten geboren worden, und zwar in Danzig. Meine Eltern – mein Vater Journalist, Schriftsteller, Theaterspezialist, meine Mutter Schauspielerin – waren keine Katholiken. Sie haben mich nicht taufen lassen. Sie glaubten nicht an Gott, gaben mir deshalb bereits im frühen Alter die Freiheit, eines Tages selbst zu entscheiden, an was und ob ich überhaupt glauben möchte. Der Vater arbeitete nie mit dem UB (Geheimdienst) zusammen, war nie in etwas Unmenschliches verwickelt; als kleiner Junge war er Opfer des Zweiten Weltkrieges und sah kurz danach im Kommunismus den einzigen Weg für eine sichere Zukunft. Er hat mich Toleranz und Offenheit gelehrt, zeigte mir, dass kein Mensch besser oder schlimmer ist, dass jede Person gleiche Rechte hat und dass wir sie respektieren müssen, egal, ob die konkrete Person, die vor uns steht, so wie wir ist oder ganz anders. Nach der Wende blieb mein Vater seinen Überzeugungen treu und flüsterte mir an seinem Sterbebett ins Ohr: „Ich habe dich verloren.“ Ich antwortete ihm darauf: „Oh nein, Papa, du bist einfach deinem Kindheitstraum treu geblieben“, der auch ein Teil meines Fatums wurde.

Heute, 30 Jahre nach der Wende, bin ich mir sicher, dass die neue Realität hierzulande nur deshalb für mich nicht so perfekt ist, weil ich – nach der Ansicht vieler Patrioten – kein echter Pole bin. Wissen Sie, was ich meine? Der „echte Pole“ hat keine Kommunisten in der Familie. Der „echte Pole“ glaubt an die katholische Kirche. Nein, nicht an Gott den Allmächtigen, denn an diesen glaube ich auch: an die Institution, an die Instanz da oben, die da predigt und allen sagt, was gut und was böse ist. Der „echte Pole“ glaubt an den Priester und an die Kirche. Und – der „echte Pole“ ist heteronormativ, für ihn ist nur Heterosexualität als soziale Norm denkbar. Schon im ersten Monat meiner Einstellung in einer der größten polnischen Tageszeitungen (1993) gab es Leute, die mit mir während meiner Arbeit in der Stadt nicht reden wollten. „Och, Sie sind doch der Sohn dieses gewissen Herrn XY, der, wie wir wissen, Kommunist war? Vielen Dank, dann habe ich Ihnen nichts zu sagen.“ Solche Situationen gab es viele und auf sehr unterschiedlichen Lebensgebieten: Arbeit, Universität, Arzt. Am Rande muss ich noch erwähnen, was ich sonst nicht oft und fast keinem erzähle: Ich bin Transgender, habe die Geschlechtskorrektur bereits im Sozialismus angefangen und 1994 finalisiert. In den ersten Jahren der Demokratie waren Ärzte und Krankenschwestern mir gegenüber sehr positiv eingestellt. Freundlich und hilfsbereit. Hatten immer Fragen gestellt, nie aber meine Privatzone betreten. Ich konnte kaum glauben, wie sehr uns die Freiheit verändert hatte! Wie nett und ohne Vorurteile jeder auf mich reagierte. Erst in den letzten Jahren ist es komisch geworden. So komisch, dass ich manchmal wirklich laut lachen muss. Der Arzt, der sich auf seine Glaubensklausel berief, hat Notizen über mich als Frau gemacht. Obwohl ich männliche Dokumente seit 1994 habe, einen männlichen Körper habe und keinesfalls wie eine Frau aussehe.

Heute frage ich mich: Waren unsere Köpfe und Herzen nur so lange offen, bis die neue Diktatur der Konservativen kam? Ist Polen 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur immer noch dieses Land, das ich aus dem Jahre 1991, 1992, 1993 ..., 2004 ... kenne? Ich möchte keine Partei beim Namen nennen, denn es sind nicht Parteien schuld daran, was passiert, sondern Menschen. Und ihre Emotionen. Nicht Institutionen (ich habe auch viele gute Priester kennengelernt), sondern Leute, die davon profitieren. Nicht Polen, sondern der Prozess, der in der ganzen Welt zu sehen ist. Wir schreiten zurück. Aus Angst. Und dieses Polen so voller Angst und Vorurteile, das zum Glück immer noch kleiner ist als das Polen der klugen und offenen Menschen, ist der Grund, warum ich sage: Das Leben 30 Jahre nach der Wende könnte doch etwas besser sein.

Ja, ich habe eine wunderbare Arbeit im Pressekonzern. Ich treffe fantastische Leute. Ich sehe einen Zusammenhang zwischen Pflicht und Spaß. Ich treffe jeden Tag beruflich und privat bewundernswerte Menschen. Ich bereue nichts. Mein Leben in den letzten 30 Jahren war so gut, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Doch einiges könnte anders und besser werden. Dies und das hätte nie passieren dürfen. Und die Zukunft ist wieder unsicher.