Zigeunerpastoral

(Bericht)
aus OWEP 2/2003  •  von Lothar Weiß

Pfarrer Lothar Weiß ist Beauftragter für Zigeunerseelsorge in der Erzdiözese Paderborn. Er begleitet seit vielen Jahren die Zigeunerseelsorge in Ungarn (vgl. Beitrag von Pfarrer József Lankó).

Zigeunerpastoral heißt: Die Würde der Menschen achten und schützen

Sie begegnet uns in großen und feierlichen Erklärungen – die Würde des Menschen. So beginnt das deutsche Grundgesetz im ersten Artikel feierlich: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dieses Gesetz heißt Grundgesetz, weil es der Grund jedes weiteren Gesetzes ist – kein Gesetz darf diesem widersprechen. So beginnt auch die Verfassung der Republik Ungarn in Kap. XII, Art. 54 mit den Grundrechten: „In der Republik Ungarn hat jeder Mensch ein angeborenes Recht auf Leben und Menschenwürde, um das niemand willkürlich gebracht werden darf.“ In beiden Verfassungen folgen dann die Menschenrechte, rechtliche Konsequenzen aus der Würde des Menschen, Inkarnation der Menschenwürde.

Was ist also die Würde des Menschen? Es ist nicht die Sammlung seiner Rechte, es ist die Größe des Menschen, die juristisch eben nicht umschreibbar ist. Ein Kommentar zum deutschen Grundgesetz kann keine Antwort geben auf die Frage, was die Würde des Menschen ist und worin sie begründet ist, kann nur feststellen, dass die Würde des Menschen eine philosophisch-religiöse Größe ist, die juristisch nicht begreifbar, allem Recht aber als Fundament vorgegeben ist.

Alle Religionen, Philosophien und Ideologien der Erde kennen so einen Grund ihres Glaubens. Als Angehörige einer der abrahamitischen Religionen beziehen wir uns auf die Anfänge der Bibel, wenn wir von der Würde des Menschen sprechen. Sie wird dort nicht genannt, aber begründet in Gen 1: „Dann sprach Gott: Lasst uns den Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Gott also schuf den Menschen als sein Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott sah alles, was er gemacht hatte: es war sehr gut.“ Das letzte Werk in der priesterlichen Schöpfungsgeschichte wird feierlich eingeleitet durch einen ausdrücklichen Beschluss. Es geht um das höchste Werk, die Krone der Schöpfung: den Menschen. Der Mensch ist nicht wie in anderen alten Religionen eine Zeugung der Götter, er ist Geschöpf – aber hoch erhaben über alle anderen Geschöpfe, weil Gott ihn bei seiner Schöpfung so hoch erwählt hat. Adam, der Abkömmling der Erde, ist nicht in erster Linie ein Eigenname des Menschen, sondern die Bezeichnung für die Menschheit, wobei der einzelne Mensch die individuelle Ausprägung der Menschheit ist.

Dieser Mensch ist Bild Gottes, wie ein Standbild, eine Plastik, nicht aber Gott gleich. Nicht Gottes Sohn, von Gott gezeugt, sondern „nur“ ein Bild von ihm, aber mehr als in unserem Denken, er ist nicht Abdruck eines Siegels in dieser Welt, er ist Vergegenwärtigung seines Urbildes. Nicht die äußere Erscheinung, die Gestalt ist Gottes Abbild, er ist in seinem gesamten Wesen, zu dem auch sein Körper, seine Gestalt gehört, Abbild Gottes in dieser Welt. Der Mensch hat nicht die Größe Gottes, nicht einmal die der Engel, nimmt aber an diesem Teil: So hören wir in Psalm 8 von der Herrlichkeit des Schöpfers und von der Würde des Menschen: „Herr, unser Herrscher, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde; über den Himmel breitest du deine Hoheit aus ... Seh ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigst: Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, du hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, du hast ihm alles zu Füßen gelegt ...“

Gott schützt auch den Menschen vor seinesgleichen: „Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder. Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut wird durch Menschen vergossen. Denn als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht“ (Gen 9,5 f.).

In dem Glauben an die Gottebenbildlichkeit ist Jesus groß geworden. Er kam nicht im Tempel, nicht in den Palästen der Großen zur Welt, sondern in der Welt der Armen und heiligt sie so, nimmt sie an als diejenigen, die die Züge seines Vaters tragen, die Kinder Gottes sind, seine Schwestern und Brüder. Er lobt die Menschen ihrer Menschlichkeit und Gottebenbildlichkeit wegen in der Samariterin am Brunnen, im „barmherzigen“ Samariter, der barmherzig ist wie sein Vater, in denen, die den Kleinen Gutes tun, das sie in Wirklichkeit ihm getan haben (Mt 25).

Gerade in der Nachfolge Jesu müssen wir all jenen entgegen treten, die mit Verleumdung und übler Nachrede die Würde der Zigeuner mit Füßen treten, die auch bei tatsächlichen Verfehlungen nicht Barmherzigkeit walten lassen. So sind wir in der Heiligen Schrift und in der Theologie dem Begriff der Würde nahe gekommen, und so wage ich zu sagen: „Pastoral“ heißt „die Würde der Menschen achten und beschützen.“

Die politische Situation in Ungarn – wie es war

Der Status der Menschen, zu einer ethnischen Minderheit zu gehören, rechtfertigt keine Abstriche bei der Würde dieser Menschen, denn sie sind mit unveräußerlichen Rechten versehen, die weder verletzt noch unbeachtet gelassen werden dürfen. Menschenwürde steht nicht nur der Mehrheitsgesellschaft oder gar einer Herkunft oder ethnischen Zugehörigkeit zu. In einem Zeitalter ethnisch-nationalistischer Konflikte, ethnischer Säuberungen und Vertreibungen ist die Achtung vor der Würde gerade der Zigeuner eine der schwersten Aufgaben der Menschen guten Willens. Trotz jahrzehntelangen Zusammenlebens stehen die Zigeuner auch heute noch am Rand der ungarischen Gesellschaft. Das staatliche Bemühen und der gesellschaftliche Wille zur Achtung dieser Menschen ist nicht vorhanden. Seit Jahrhunderten haben die Mehrheitsgesellschaften in Europa die (letzten) Nomaden abgelehnt. Sie waren verhasst, weil sie Fremde waren, weil sie kein Recht auf Nichts hatten, aber von Irgendetwas leben mussten, weil sie einer eigenen Rasse zugehörten und ihre Freiheit, die sie sich bewahrten, den Neid der Menschen begründete. In den Staaten Europas, die bislang zum Osten zählten, wurde durch die Ideologie des Sozialismus der Rassismus auf einem niedrigen Niveau gehalten; mit der Öffnung des Ostens aber entbrannte in all diesen Staaten mit großem Bevölkerungsanteil an Zigeunern offener Hass.

Die politische Situation in Ungarn – wie es immer noch ist

Seit Jahren gibt es Langzeitprogramme der ungarischen Regierung und ausländischer Experten. Das nötige Geld wurde für Hochglanzbroschüren und Tagungen ausgegeben, so wurde der Eindruck erweckt, in diesem Land gehe es aufwärts mit der Situation der Zigeuner. Ganz im Gegenteil: Ungarn ist von der EU aufgefordert, endlich das Problem der Zigeuner zu „lösen“.

Die Zigeuner sind als Fremde schon immer an den Rand gedrängt, sie leben unter teils unmenschlichen Bedingungen, ihr Recht auf Bildung und Ausbildung bleibt fahrlässig unbeachtet. Ihr Recht, mit Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihr Leben und ihre Zukunft zu gestalten, verliert sich in politischen Willenserklärungen, wird aber nicht zum Programm. Sie fallen auf durch Überlebensdelikte in Form von Diebstählen oder Schwarzfahren, auf sie werden Detektive losgelassen. Gehe ich in Siklós mit ein paar Zigeunern einkaufen, dann habe ich immer den Begleitschutz des Hausdetektivs. Sie werden ohne Tatverdacht beobachtet und überprüft, weil sie eine dunkle Hautfarbe haben.

Arbeit und Brot

Ein großer Teil von ihnen gehört zu den Armen, die heute nichts haben und morgen nichts haben werden. Sie haben keine Arbeit, die ihnen Anerkennung bringt und ihnen den Lebensunterhalt sichert. Die Wende des Ostens und Südostens Europas hin zum westlichen Kapitalismus hat auch die Welt der Zigeuner in diesen Ländern verändert. Bis dahin lebten sie in einem sozialistischen Staat, in dem die Grundversorgung der Menschen gesichert war. Dies können die Länder heute nicht mehr, die Grundversorgung, die Sorge um den Lebensunterhalt und die Gesundheit stehen im Vordergrund der Sorgen der Menschen.

Armut ist aber auch relativ. Die Mehrheitsgesellschaft gibt einen Lebensstandard vor, bei dem die Zigeuner nicht mithalten können, weil sie kein Geld haben. Mädchen und Jungen in der Schule und auch in der Freizeit unterliegen dem gesellschaftlichen Zwang, bestimmte Kleidung zu tragen und bestimmte technische Geräte zu besitzen oder wenigstens zu nutzen – ohne sie werden sie nicht akzeptiert. Das Haben wird zum Maßstab der Würde des Menschen, nicht das Menschsein.

Schule und Ausbildung

In der Schule sind und bleiben sie erst einmal die letzten. Allein ihrer Armut wegen – sie haben nichts Ordentliches zum Anziehen – schämen sie sich, und die anderen in der Schule, auch die Lehrerinnen und Lehrer, schauen auf sie herab. Sie haben keine Heizung und im Winter kein warmes Wasser, um sich zu waschen. Es breiten sich in der Enge schnell ansteckende Krankheiten aus – Gründe, nicht in die Schule gelassen zu werden. Niemand hilft ihnen bei den Schularbeiten, sie sind auf sich selbst angewiesen und bleiben auf der untersten Stufe des Schulsystems, von der aus sie weder eine weiterführende Schule besuchen noch einen Beruf erlernen können. Ich erlebte es in Ungarn mehrere Jahre, dass die Jugendlichen in Berufen ausgebildet wurden, die es gar nicht mehr gab. Sie fanden damit keine Arbeitsstelle und blieben arbeitslos. So blieben ihnen nur Hilfsarbeit, Schwarzarbeit, Saisonarbeit oder das schnelle Geld durch illegale Geschäfte, Kriminalität – oder die Langeweile. Sie lernen nicht für sich oder ihre Familie zu sorgen. Inzwischen gibt es zwar auch Jugendliche, die das Gymnasium besuchen, Abitur gemacht haben und auch studieren. Gemessen an den Schulstatistiken der Mehrheitsgesellschaft ist bei den Zigeunern aber noch nicht einmal ein Hoffnungsschimmer zu sehen. Die Zigeuner sind immer die letzten im Beschäftigungssystem. Einerseits können die meisten mangels qualifizierter Ausbildung keinen Beruf ausüben, andererseits steht für sie das Interesse an der Familie im Vordergrund, und dies ist ein Faktor der Unzuverlässigkeit.

Familie

Im Mittelpunkt des zigeunerischen Lebens steht die Familie, für sie leben alle in der Familie, sie hat bei allem Vorrang. Ihre Wurzeln sind in der Familie, nicht im Boden, und so sind sie im tiefsten Herzen Nomaden, die ihr Land verlassen können, um in ein Land zu ziehen, wo sie leben und überleben können. Die hochindustrialisierten Länder Westeuropas haben Angst vor ihnen. Westeuropa erwartet über eine Million Zigeuner mehr in der EU, wenn Länder wie Ungarn, die Slowakei, Tschechien beitreten. Westeuropa will die Erweiterung, aber nicht die Zigeuner, die in der hochindustrialisierten Welt nicht (zu)recht kommen.

Das Zusammenleben in der Familie, die Liebe zu ihren Kindern ist ihre Kultur, Wert und Würde dieses Volkes. Die Familien zu erhalten, ihnen Zukunftsperspektiven zu geben wäre wichtig. Die Liebe zwischen Mann und Frau erlebte aber in den Jahren nach der Wende einen Wertverlust. Sexualität und Ehe haben nicht mehr den bindenden Charakter, Liebe zwischen Mann und Frau ist auch Konsumgut geworden. Ich weiß nicht, wie viele Ehen in Ungarn halten. Die sehr frühen Ehen bei den Zigeunern hielten bislang. Seitdem die Zigeuner aber erfahren, dass Liebe Konsumartikel ist, dass sie Verantwortung für Partner und Kinder nicht mehr lernen müssen, wankt auch dieses Identitätsmerkmal. Die Kirche hat ihre Ehen nie anerkannt und ihre Familien nicht ernst genommen. Ihre Ehen sind dennoch keine Konkubinate, sondern von Gott gewollte sakramentale Bindungen und Lebensgemeinschaften. Ihre Familien sind bislang noch Grundbausteine ihres Volkes. Diese Familien und ihre Würde sind zu achten und zu stützen.

Kirche und Zigeuner

Damit öffne ich ein teilweise dunkles Kapitel. Seit über dreißig Jahren sind die Zigeuner auch im Blickpunkt der Kirche. Mit großem Engagement und Achtung haben Päpste diesem Volk in der Kirche eine besondere Sorge und Liebe zugesagt – die Kirche am Ort weiß aber davon oft wenig oder gar nichts. Die Diözesen und Kirchengemeinden sind meist ein Bildausschnitt des älteren Teils der Mehrheitsgesellschaft. Da leben Ungarn, Deutsche, Kroaten in einem Dorf und in einer Kirchengemeinde friedlich zusammen. Dass zu ihnen auch eine oft große Gruppe von Zigeunern gehört, wird zwar wahrgenommen, aber nicht akzeptiert. Auch in den sozialen Brennpunkten der Städte finden wir viele Zigeuner; allenfalls stadtübergreifende Projekte zeugen von dem Willen kirchlich engagierter Personen, ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft und zur Kirche zu realisieren. Dies gilt aber nur selten für die Kirchengemeinden.

Ablehnung

Selten sind sie in Gruppen oder Gremien der Gemeinden vertreten. Am Religionsunterricht können ihre Kinder teilnehmen, sofern sie sauber und ordentlich gekleidet und nicht zu laut und störend sind. Als die Armen in der Gemeinde sollte ihnen aber eigentlich die Sorge der ganzen Gemeinde gelten, damit sie erfahren, dass sie geliebte Mitglieder der Kirche sind. Statt dessen werden an sie Forderungen gestellt, die sie zu erfüllen haben, wenn sie am Leben der Kirche teilnehmen wollen. Es hat sich eingebürgert, dass der zur Kirche gehört, der Kirchensteuer bezahlt – ob er kann oder nicht, obwohl doch jeder zur Kirche gehört, der getauft ist. Und so wird auch in weiten Bereichen den Zigeunern die Taufe verweigert, weil die Eltern nicht regelmäßig zur Kirche kommen – da werden andere Maßstäbe angelegt als an die Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft. Den Kindern wird selbst gegen geltendes Kirchenrecht die Taufe verweigert, weil die Eltern kirchenrechtlich nicht gültig verheiratet sind, aber nach dem Willen Gottes füreinander und für ihre Kinder verantwortlich vor Gott und den Menschen leben.

Kinder werden de facto von der Erstkommunion ausgeschlossen, weil sie nicht das Geld für Kleidung haben und so das Bild in der Kirche stören. Dass sie trotzdem an der Eucharistie teilhaben dürfen, wissen viele Pfarrer nicht, denn das Sakrament ist nicht die Erstkommunion, sondern die Kommunion. Ich habe erlebt, dass Zigeunerkinder in einer fremden Kirche bei der hl. Kommunion übergangen wurden. Dazu hat der Pfarrer kein Recht, aber er entwürdigt damit die Zigeuner.

Für die meisten Zigeuner ist die Beerdigung wie ein Sakrament. Ihre Hochachtung vor den Toten und ihr lebendiger Glaube an die Auferstehung fordern von ihnen ein feierliches Begräbnis mit ihren oft uralten Riten. Ihnen dieses zu verweigern oder zu verkürzen, weil sie z. B. keine Kirchensteuer bezahlt haben, verstößt gegen das Gebot der Liebe und reduziert die Kirchenzugehörigkeit auf Gelder, die gezahlt werden – wer hat, ist wer.

Achtung vor ihnen

Die Zigeuner haben einen in ihrem Volk tradierten Glauben, der auch uns viel zu denken geben kann. Der christliche Glaube hat im Laufe der Geschichte ihre Kultur durchdrungen und dabei auch Formen und Eigenarten entwickelt, die wir nicht ausrotten dürfen. Als Beauftragte der Kirche haben wir diesen Glauben zu achten und von diesem Glauben zu hören. Wir sind nicht gesandt, sie uns und unseren Glaubensvorstellungen gleich zu machen, sondern ihnen den lebendigen Christus in Wort und Tat zu verkünden. Sie sind unsere Schwestern und Brüder und nicht religiöse Hilfsempfänger.

Seit einigen Jahren gibt es von Organisationen und staatlichen Stellen – Inland wie Ausland – Gelder für Projekte für Zigeuner. Kommunale wie kirchliche Stellen in Ungarn nehmen solche Mittel an, ohne dass Projekte tatsächlich auch nur begonnen werden. Das deckt sich mit einem deutlichen Hinweis aus Brüssel: Ein Problem Ungarns, das die Aufnahme in die EU behindert, sei die Korruption.

Als Kirche haben wir den Auftrag, alles zu tun, damit das Wort Gottes zu diesen Menschen gelangt und seine Wirksamkeit in der Liebe zu den Menschen deutlich wird. Es bleibt ihre Freiheit, an den Gott zu glauben, der uns antreibt, ihm in den Zigeunern zu dienen.

Herausforderungen an die Kirche in Ungarn

Einen besonderen Akzent hat die Kirche durch die „Option für die Armen“ erfahren. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Kirche zu einer Umkehr zu den Armen eingeladen: „Wie aber Christus das Werk der Erlösung in Armut und Verfolgung vollbrachte, so ist auch die Kirche berufen, den gleichen Weg einzuschlagen, um die Heilsfrucht den Menschen mitzuteilen ... So ist die Kirche, auch wenn sie zur Erfüllung ihrer Sendung menschlicher Mittel bedarf, nicht gegründet, um irdische Herrlichkeit zu suchen, sondern um Demut und Selbstverleugnung auch durch ihr Beispiel auszubreiten. Christus wird vom Vater gesandt, ‚den Armen die frohe Botschaft zu bringen, zu heilen, die bedrückten Herzens sind‘ (Lk 4,18)“ („Lumen gentium“, 8).

In Ungarn können die Bischöfe nach der politischen Wende vor gut einem Jahrzehnt wieder offen sprechen und die Menschlichkeit in der Politik des Landes einfordern. Gerade heute braucht der ungarische Staat die prophetische Stimme der Kirche, um nicht Hals über Kopf einem Materialismus (oder Kapitalismus) des Westens zu verfallen, der für den kleinen und in Not geratenen Bürger des Landes keinen Platz mehr lässt. Sie haben die Würde gerade der Minderheiten zu schützen und ihre Menschenrechte einzuklagen. Dies ist die Konsequenz aus der „Option für die Armen“. Es ist ihre Aufgabe, den Zigeunern im Land Gehör zu verschaffen. Kirchliche Medien von Zeitungen und Zeitschriften bis hin zu Fernsehsendungen der Kirche können die Sorge der Bischöfe um dieses Volk aufgreifen und so als Meinungsführer in der Kirche dem Rassismus Einhalt gebieten.

Gemessen an der Größenordnung dieser Minderheit in den Diözesen sollten sich auch die Bischöfe besinnen und Priester und Laien für die Pastoral der Zigeuner ernennen, sollten es aber nicht bei der Beauftragung belassen, sondern sie wegen der Wichtigkeit dieses Aufgabengebietes mit dem notwendigen Material und dem notwendigen Geld ausstatten. Die Bischöfe sind aufgefordert, in ihren Finanzplanungen Gerechtigkeit gegenüber den Armen walten zu lassen.

In den Gemeinden haben wir viele Priester und noch mehr Menschen guten Willens. Sie sollen das Wort Gottes vom guten Vater hören, um in der Nachfolge Jesu den Glauben zu verkündigen und zu leben. Die Gemeinden sind Orte der Begegnung und der Solidarität im Glauben und in der Liebe. Dies gilt es wirksam werden zu lassen:

  • Schaffen wir Begegnungsmöglichkeiten in der Kirche, im Pfarrsaal, im Pfarrhaus, bei den Festen nicht nur für die Kleriker aus der Umgebung oder die Mitglieder der Gemeinderäte, sondern auch für die Kleinen, die Zigeuner und ihre Kinder!
  • Sorgen wir für Caritas-Hilfsprojekte, die wirklich in die Familien gehen, die Not der Menschen hinausschreien und Hilfe organisieren!
  • Schaffen wir Hilfen für die Kleinen, damit sie in die Kindergärten gehen können, damit sie z. B. für die Schule die ungarische Sprache lernen.
  • Planen wir Mütterkurse für die Schwangeren oder Schwanger-werden-wollenden! Bei den Zigeunern heiraten sie sehr früh, dies gilt es nicht zu beklagen. Es ist eine Herausforderung, mit ihnen in Kontakt zu kommen, sie in der Zeit der Schwangerschaft und als junge Mütter zu begleiten, sie können dabei viel lernen im Umgang mit ihren Kindern und auch mit der Hygiene, die bei ihren Lebensverhältnissen oft so schwierig ist.
  • Rufen wir Gruppen von Kindern zusammen, wo die „Schwarzen“ wahrscheinlich aus Angst erst einmal besucht werden müssen, damit sie Vertrauen finden. Organisieren wir Freizeiten, wo sie voneinander lernen können!
  • Geben wir Jugendlichen bei uns Raum, ohne sie schon bei der ersten Begegnung nach ihren Sünden zu fragen – statt dessen: nach ihren Fähigkeiten.
  • Warum organisieren wir z. B. nicht Kurse für die Jugendlichen als Schweißer oder Lackierer, damit sie mit ihren Fähigkeiten Geld verdienen können, warum gibt es keine Gruppen für Mechaniker, damit sie ihre Fahrzeuge selbst reparieren oder verschönern können? Wie wäre es mit einer Zusammenarbeit von Berufsschulen und Firmen? Warum sollen die jungen Leute nicht da qualifiziert werden, wo sie eh schon Geld verdienen – und alte Autos gibt es in Hülle und Fülle.
  • Erkennen wir ihre Mühe in den Schulen an, organisieren Hausaufgabenhilfe, Beschaffung von Bekleidung und Schulmaterial!

Am Ende – eine Vision

Stellen Sie sich vor, eine Kirchengemeinde in der Baranya feiert Kirchweihfest. Die Donauschwaben liefern den Wein, die Zigeuner ihr gebackenes Brot zur Eucharistiefeier und zum Fest ...