Prizren – ein Beispiel für christlich-islamische Koexistenz

aus OWEP 1/2004  •  von Olga Zirojević

Dr. Olga Zirojević ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste.

Die Stadt Prizren hat in den letzten Jahren während des Kosovo-Krieges traurige Berühmtheit erlangt. Heute ist dort das deutsche Kontingent der internationalen Truppen stationiert, die sich darum bemühen, die serbische Minderheit vor Übergriffen der albanischen Bevölkerungsmehrheit zu schützen. Doch nicht immer gab es Spannungen zwischen der christlichen und der muslimischen Bevölkerung der Stadt. Vielmehr gibt es in Prizren eine alte Tradition des friedlichen Zusammenlebens.

Person und Werk von Suzi Čelebija

Suzi Čelebija, der bekannteste Dichter aus Prizren, beschreibt in seinem Werk „Gazavatname“ (oder „Buch der Eroberungen“) die Liebesleiden von Ali-beg Mihaloglu und der schönen Marija, wobei er sich ungewöhnliche dichterische Freiheit herausnimmt. Marija, wohl die Tochter des walachischen Herzogs Radul, kommt mit ihrer besten Freundin zum Gottesdienst in ein altes Kloster. In diesem Kloster, so schreibt Suzi, war es Brauch, dass die Mönche dann, wenn bei den Türken ein neuer großer Held aufkam, sein Antlitz auf die Kirchenwand malten. So befanden sich auf der Kirchenwand die Bilder von Isa-beg, Hasan-begoglu, Bali-beg Malkočoglu, Ahmed-beg Evrenosoglu und schließlich Ali-beg Mihaloglu, dem berühmten Feldherr aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Marija erblickte das Bild von Ali-beg und verliebte sich unsterblich in den Helden.

Aleksij Olesnickij, ein bekannter jugoslawischer Turkologe russischer Herkunft, sieht in dieser ungewöhnlichen Vorstellung des Dichters ein zuverlässiges Zeichen für seine christliche bzw. serbische Herkunft. „Hat er denn nicht“, fragt sich Olesnickij, „vielleicht selbst in Prizren in den Klöstern von Dečami, Peć, Mileševo oder an anderen Orten an den Kirchenwänden die alten Bilder der serbischen Herrscher gesehen, die Gründer der dortigen Klöster, welche auch heute auf den Betrachter einen starken Eindruck durch ihre Größe und Schönheit hinterlassen?“ Es gibt, so fährt Olesnickij fort, noch weitere Belege für das jugoslawische Kolorit dieses Werks. Im Übrigen ist der Einfluss der serbischen Volksdichtung auf das literarische Schaffen einheimischer Dichter in orientalischen Sprachen schon Safet-beg Bašagić aufgefallen. Und einen ganz überzeugenden Beweis für die christliche Herkunft von Suzi finden wir im Namen seines Großvaters, denn Muhamed, der Sohn von Mahmud, wie unser Dichter sich nannte, war der Enkel von Abdullah, was der gewöhnliche (wenn auch nicht unbedingt verpflichtende) euphemistische Name des Vaters bei Söhnen von Konvertiten ist.

Während man bis zum Jahr 1829 glaubte, das Epos „Gazavatname“ sei verloren, lebte sein Schöpfer auch weiterhin in seiner Geburtsstadt – in Legenden. Das lässt sich gut verstehen, hat er doch der Stadt Prizren, wie sein Testament von 1513 belegt, eine Moschee mit einer Grundschule, einen Brunnen in der Nähe der Moschee und eine Brücke über den Fluss Bistrica (die als einzige nicht erhalten ist) geschenkt. Er selbst hat das Amt eines Imam ausgeübt, eines geistlichen Lehrers, und eines Muezzin. Für die Unterhaltung dieser Stiftung hat der Wohltäter in Graždanik drei Mühlen hinterlassen, und der Schule hat er seine Bücher geschenkt.

Nach der Schulausbildung in Konstantinopel hat Suzi der Legende nach auf der Rückkehr in seine Heimat in Tetovo einen Kadi getroffen, der sehr korrupt war. Er schrieb gegen ihn eine Beschwerde in Versen und schickte sie dem Sultan. Der Sultan rief ihn daraufhin nach Konstantinopel und schenkte ihm den zehnten Teil der Einkünfte des Dorfes Graždanik. Seither heißt dieser Ort Suzi. Während diese Legende über den Besitz von Graždanik ihre Bestätigung in den Stiftungsbriefen und Katasterregistern findet, ist eine andere, wonach Suzi von dem Fluss Bistrica einen Kanal zu seinem Besitz gebaut hat, nur teilweise richtig. Dieser Kanal existierte nämlich bereits zur Zeit von Zar Stefan Dušan (1331-1355), vielleicht sogar noch früher; Suzi hat ihn wohl nur erneuern lassen. Nach einer volkstümlichen Überlieferung hat Suzi einen Kanal für die Bewässerung der Felder bei Prizren angelegt. Die Muslime glauben, sein weiß gekleideter Geist schreite diesen Kanal entlang und kümmere sich um die Fruchtbarkeit der Felder.

Suzi Čelebija und Pantelemon

Wenn wir nach den bis heute überlieferten Legenden in der Stadt und ihrer Umgebung urteilen, war Suzi Čelebija ein Wohltäter, Wundertäter und Heiliger. Hier zeigt sich offenbar das bereits seit langem in der Wissenschaft bestätigte Phänomen der Übernahme früherer christlicher Heiligtümer durch die Muslime. In magischen Handlungen im Ort Graždanik ist eine Dualität mit dem heiligen Pantelemon offensichtlich. In diesem Ort nicht weit von Prizren befindet sich bei einer Quelle, die Krvava braća (blutige Brüder) genannt wird, ein großer Stein mit einer Öffnung, von dem die Bewohner von Prizren glauben, dass er wundertätige Macht besitzt. Die orthodoxe Bevölkerung behauptet, der Stein sei der Rest einer abgerissenen christlichen Kirche, und nennt ihn den heiligen Pantelemon oder heiligen Nikola (beide sind als Heiler bekannt), obwohl es auch die Bezeichnung „Suzija Karpa“ gibt. Petar Kostić führt an, dass Suzi das mittelalterliche Kloster des Pantelemon abreißen ließ und dort seinen Hof errichtete, was allerdings nach Untersuchungen des Geländes nicht stimmen kann. Die Muslime hingegen sind der Meinung, der Stein sei das Werk von Suzi, und nennen ihn „Stein mit dem Loch“ (delikli taš) oder „Suzis Stein“. Man kann jeden Tag zum Stein gehen und an seine heilsame Kraft glauben, sowohl die Muslime als auch die Orthodoxen. Das Durchkriechen des Lochs bewahrt die Gesundheit, heilt, verhilft zur Schwangerschaft und wird von bestimmten rituellen Handlungen begleitet, wie etwa dem Abbrennen von Kerzen auf dem Stein. Man kann darin durchaus die Fortsetzung einer früheren Wallfahrt von Kranken zur Kirche des heiligen Pantelemon erkennen.

Mit diesem Heiligen ist entsprechend auch das Grab von Suzi verbunden. Nach der von Olesnickij aufgezeichneten Version ist Suzi Čelebija als Märtyrer im Kampf in der Nähe einer Höhle unweit von Prizren gefallen; dort haben die Muslime früher auch Kerzen zu seinem Andenken entzündet. Nach muslimischer Überlieferung wurde Suzi in einem Konflikt mit Christen auf dem Paštrik getötet. Die orthodoxe Bevölkerung jedoch glaubt, dass sich auf dem Paštrik das Grab des heiligen Wundertäters Pantelemon befindet; viele Kranke kommen am 27. Juli, am Tag vor dem Feiertag, auf den Gipfel des Paštrik und übernachten dort. Dass es sich hier tatsächlich um die mehrfache Übernahme des Kults eines früheren Heiligen – des heiligen Pantelemon – ¬handelt, bezeugt auch die immer noch lebendige Überlieferung, wonach Suzi die Bevölkerung geheilt und Amulette geschrieben hat und derzufolge auch sein Grab nicht auf dem Paštrik ist, sondern dass er gemeinsam mit seinem unter dem Pseudonym Nehari bekannten Bruder neben seiner Moschee begraben ist.

Um diese Dualität mit dem heiligen Pantelemon besser zu verstehen, muss man wissen, dass Suzi der Derwisch des Nakšibenda-Ordens war, und genau diese heterodoxen Derwische gaben dem kleinen Mann im Unglück all das, was er in seinem orthodoxen Islam nicht gefunden hat, nämlich geistlichen Beistand, woraus sich ihre Popularität beim Volk erklärt, die, abgesehen von kleineren Schwankungen, bis heute nicht aufgehört hat.

Der bereits erwähnte Bruder von Suzi war ebenfalls Dichter. Prizren hat der türkischen Literatur ein Dutzend Dichter geschenkt, weswegen die Türken die Stadt angeblich auch „Dichterliga“ genannt haben, und Priština hielten sie für eine „Übernachtungsstätte der Schreiber“. In der Türkei war nach einer im 16. Jahrhundert aufgezeichneten Erzählung die Anekdote bekannt, wonach jeder Vater in Prizren, wenn ihm ein Sohn geboren wurde, dem Kinde gemeinsam mit dem Namen auch schon sein zukünftiges Pseudonym gegeben hat.

Anmerkungen zur Geschichte von Prizren

Aber nicht nur im Gebiet des Geistes gibt es eine Kontinuität. Die größte und bedeutendste serbische mittelalterliche Stadt blieb das auch unter den neuen Herrschern, und ein Volkslied nennt die Stadt sogar „kleines Konstantinopel“. Dank der bewahrten türkischen offiziellen Zeugnisse erfahren wir mehr über das serbische Mittelalter und darüber, was es den neuen Herrschern hinterlassen hat. Kurz, die fast ununterbrochene Entwicklung von Prizren im Verlauf von viereinhalb Jahrhunderten Fremdherrschaft wird dadurch verständlicher.

Hinzuweisen ist zunächst auf das Handwerk in Prizren. Während in den serbischen mittelalterlichen Quellen die Nachrichten darüber sehr dürftig sind (nur Schmiede, Goldschmiede sowie Wachszieher werden genannt), führt ein türkisches Dokument aus dem Jahre 1571 in dieser Stadt mehr als 200 Handwerker bzw. 50 Handwerke auf. Die übernommenen Handwerke sind nach ihrer nichttürkischen Bezeichnung zu erkennen, wie etwa die Schuster („šušter“), von denen es 17 zumeist muslimische gibt, und die beiden Pantoffelmacher, die auch Muslime sind. Ungeachtet der neuen Bezeichnung und der neuen orientalischen Kunstfertigkeiten lässt sich auch eine Kontinuität bei den Goldschmieden feststellen. Das gilt umso mehr, als sich mit diesem Handwerk nur ein Muslim und vier Christen beschäftigten. Ähnlich verhält es sich mit dem Schneiderhandwerk. Die muslimischen Schneider werden mit dem arabischen Namen „hayyat“ bezeichnet, die Christen hingegen mit dem persischen Wort „derzi“ oder „terzija“, was darauf schließen lässt, dass es zwischen ihnen bestimmte Unterschiede gegeben hat. Unter den Handwerkern von Prizren sind außerdem neun Seidenweber (türkisch „ipekči“) aufgeführt, von denen nur einer Christ ist. Vermutlich wurde in Prizren sowohl Seide hergestellt als auch Rohseide verarbeitet; Quellen aus dem Jahre 1518 deuten die Herstellung von Zierschnüren und anderen Schmuckgegenständen als Verzierung für die Kleidung an. Die Einkünfte aus dem Seidenverkauf gingen in die Kasse des Sultans. Weiterhin spielten Wachszieher und Kerzenmacher im türkischen Prizren eine große Rolle. Auch lässt sich der Verkauf von Honig und Öl belegen.

Die zentrale Lage des Kosovo auf der Balkanhalbinsel und seine Verbindung mit den benachbarten Meeren machten dieses Gebiet seit jeher zu einem bedeutenden Verkehrsknoten. Die Region hat nach der türkischen Besetzung nichts von ihrer früheren Bedeutung verloren. Im Gegenteil: jetzt bildete sie eine der wichtigsten Zonen des Osmanischen Reiches, denn von dort wurden die Eroberungsfeldzüge nach Norden und Westen unternommen. Prizren stellte innerhalb des Kosovo einen wichtigen Knotenpunkt dar.

Kontinuität wird auch im Blick auf die Bevölkerung von Prizren deutlich. In den frühesten verfügbaren Aufzeichnungen aus den Jahren 1530/31 sind neun christliche und vier muslimische Stadtteile verzeichnet, in Unterlagen vom Ende des 16. Jahrhunderts neun christliche und acht muslimische. In der ersten Volkszählung beträgt die Zahl der christlichen Häuser 534 (oder 44 %). Bei den Muslimen gibt es zuerst 273 Häuser (34 %), später 320 (56 %). Dabei ist zu beachten, dass volljährige unverheiratete Christen in dieser Zählung nicht berücksichtigt werden; bei der ersten Volkszählung waren es davon 46, bei der zweiten sogar 113. Von den christlichen Stadtteilen haben vier ihre Namen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts bewahrt: Stari pazar, Petar Nikola, Vasil und Radomir.

Die Bevölkerung war in der Zeit der türkischen Herrschaft wie auch in früheren Zeiten ethnisch gemischt. Nach den Personennamen sowie nach den Patronymen, die die nichtexistenten Nachnamen ersetzten, zu urteilen, waren es vor allem christliche Kalendernamen (Jovan, Nikola, Mihajlo, Djura, Petar, Dimitrije); es gibt auch einige biblische Namen (David, Jakov, Mojsa) und weniger volkstümliche (Cvetko, Novak, Stojko, Mladen). Die Namen Smir, Prend, Džon, Džin, Kol, Pepa, Pal sind charakteristische albanische Namen, nicht selten ist auch nur einer der Namen albanisch (Smir Radko, Smir Cvetko). Außerdem gibt es einige Griechen. Genauere Angaben über die Zahl der einzelnen ethnischen Gruppen lassen sich allerdings nicht machen. Jedoch kann man ohne weiteres behaupten, dass die in den Aufzeichnungen von 1571 genannten Personen, die Kalender- bzw. slawische Namen haben, Christen sind. Sie stellten im 16. Jahrhundert ungefähr die Hälfte der Stadtbevölkerung, was sich auch an der Zahl der christlichen Gotteshäuser ablesen lässt. In der bereits erwähnten türkischen Aufzeichnung werden sechs Kirchen genannt. Auch die Zahl der Geistlichen ist hoch. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts lassen sich 19 Priester, ein Diakon und zwei Mönche nachweisen, wenig später 15 Priester und ein Mönch.

Trotz der teilweisen lückenhaften Überlieferung kann man sagen, dass Prizren auch unter türkischer Herrschaft die bedeutendste serbische Stadt geblieben ist. Prizren blieb das tragische Schicksal von Novo Brdo erspart und wurde offensichtlich ohne große Erschütterungen in das osmanische Feudalsystem eingeordnet. Der Reichtum an Bodenschätzen, die fruchtbare Umgebung sowie die entwickelten Verkehrswege haben es möglich gemacht, dass sich die Stadt über lange Zeit entwickeln und aufsteigen konnte – eine Entwicklung, die sich vom 13. Jahrhundert, als Prizren definitiv zum serbischen mittelalterlichen Staat gelangte, bis in das 20. Jahrhundert beobachten lässt. In diesem Lichte muss man auch das Phänomen der großen Zahl von Dichtern in Prizren sehen, vor allem die Person des Suzi Čelebija – erster ihrer Reihe –, dessen Wirken man vielleicht als so etwas wie einen weit entfernten Abglanz der mittelalterlichen serbischen Kultur verstehen könnte.

Deutsch von Thomas Bremer.