Macht die Säkularisierung um Polen einen Bogen?

aus OWEP 1/2007  •  von Janusz Mariański

Prof. Dr. Janusz Mariański ist Inhaber des Lehrstuhls für Moralsoziologie an der Katholischen Universität Lublin.

Nach Meinung mancher Soziologen ist die Religiosität der Polen den gleichen Veränderungsprozessen unterworfen, die mit der gesellschaftlichen Modernisierung zusammenhängen – und in gewissen Fragen sei sie schon recht weit säkularisiert. Symptom der Säkularisierungsprozesse ist die Reduktion der kirchlichen Aufgaben auf die Lösung geistiger Probleme des einzelnen und die Beschränkung kirchlichen Einflusses, wenn es um die umfassenderen öffentlichen Angelegenheiten geht. In Bezug auf die sich wandelnde Religiosität unter den Bedingungen einer sich herausbildenden pluralistischen Gesellschaft und einer sich langsam formierenden Gesellschaft der Postmoderne kann man ganz allgemein drei Veränderungsrichtungen annehmen und sie – vom Blickpunkt der kirchlichen Interessen – als pessimistische, optimistische und realistische Variante bezeichnen.

Die pessimistische Variante bedeutet weitgehende Veränderungen in der Religiosität, die vom Gesichtspunkt der kirchlichen Lehre als negativ definiert werden können. In den sich reformierenden Ländern Ostmitteleuropas, darunter auch in Polen, vollziehe sich eine Veränderung des Systems von Werten und Normen, die als Verwestlichung (Hypothese der Angleichung oder Konvergenz) bezeichnet wird. Die Religiosität der polnischen Gesellschaft werde sich langsam dem von den Gesellschaften unserer westlichen Nachbarn erreichten Stand annähern („Europäisierung“ der polnischen Religiosität). Die Veränderungen würden gemäß dem Modernisierungsschema und der Konvergenztheorie verlaufen. Im Ergebnis der Modernisierungsprozesse würden mit der Zeit in den verschiedenen Gesellschaften die gleichen Entwicklungstendenzen zu beobachten sein, die gleichen gesellschaftlichen Probleme und die gleichen institutionellen Lösungen. Die Hypothese der Angleichung hängt eng mit der Säkularisierungsthese zusammen, der zufolge die Religion unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Modernisierung einem Prozess der Marginalisierung unterworfen ist, bis hin zu ihrem völligen Verschwinden. Die Abkehr von der Religiosität wird als eine bis zu einem gewissen Grad unvermeidliche und unumkehrbare Erscheinung gesehen. In diesem Kontext wird eine Evolution der Religiosität nicht ausgeschlossen, die sich in zwei entgegengesetzten Richtungen vollzöge: hin zu einem starken religiösen Engagement oder zu einer völligen Entchristlichung.

Die optimistische Variante geht davon aus, dass die Religiosität in ihren bisherigen Formen erhalten bleibt, sie schließt nicht einmal ihre Revitalisierung aus, die sich unter den Bedingungen der De-Säkularisierung und der Evangelisierungsaktion der Kirchen vollziehe. Wenn man von einer veränderlichen Gesellschaft und einer unveränderlichen Religiosität spricht, so ist das bis zu einem gewissen Grade in sich widersprüchlich. Es handelt sich hier eher um die Akzentuierung einer relativen Stabilität der Religion in einer sich schnell verändernden Gesellschaft. Im Szenario der Revitalisierung geht man von einer Art „Abkühlung“ der Säkularisationsprozesse aus, ja sogar von ihrer Abbremsung und vom Wiederaufbau einer christlichen Moralordnung. Die Revitalisierung der Religiosität und Moral vollziehe sich nicht nur durch das Wirken der römisch-katholischen Kirche, sondern auch anderer Kirchen und religiöser Gemeinschaften, schließlich auch der Laienvereinigungen, die es sich unter Berücksichtigung christlicher Inspirationen zum Ziel setzen, ihre Mitglieder moralisch zu vervollkommnen. Die Prozesse zur Revitalisierung der Religiosität kämen langsam voran, sicher ließen sie sich nicht von oben dekretieren.

Die realistische Variante stützt sich auf die Hypothese der Veränderungen der Religiosität in mehreren Richtungen (Hypothese der Transformation). In Polens Gesellschaft seien sowohl jene Säkularisierungstendenzen stark, die mit der religiösen und moralischen Individualisierung zusammenhängen, als auch die ihnen entgegenstehenden Antisäkularisierungs- und Evangelisierungstendenzen. Viel weise darauf hin, dass sich in den Veränderungen der Werte, Normen und Muster religiösen Lebens positive und negative Aspekte mischen, bisweilen seien auch widersprüchliche Tendenzen zu beobachten. Eine Folge dieser Einflüsse sei die Tatsache, dass im kollektiven Bewusstsein der jungen und erwachsenen Polen nicht selten „alte“ und „neue“ Werte koexistieren. Uns drohe – zumindest in nächster Zukunft – keine Katastrophe in der Welt der bisherigen religiösen Werte und Verhaltensweisen. Man könne eher von einer besonderen Ambivalenz der Veränderungen sprechen, von Chance und Risiko, von Verlust und Gewinn, von einer breiter werdenden Sphäre der gesellschaftlichen Akzeptanz für Haltungen und Verhaltensweisen, wie sie im Modell der traditionellen Religiosität keine Billigung finden.

Im Kontext des zusammenwachsenden Europas mit seinen weit greifenden Säkularisierungsprozessen stellen sich Fragen nach der Form der gegenwärtigen und zukünftigen Religiosität in der polnischen Gesellschaft. Bestehen deutliche Unterschiede zwischen der Religiosität in Polen und in Ländern West- und Osteuropas? Wird die katholische Kirche unter den neuen Bedingungen zu einer schwächer werdenden Kraft, die sich an den niedrigeren Standard europäischer Religiosität anpasst, oder wird sie zum aktiven Faktor für Veränderungen in einem säkularisierten Europa? Wie wird das Ergebnis der Konfrontation europäischer Laizität mit der traditionellen polnischen Religiosität aussehen? Hat der Papst nicht einst den Polen die apostolische Mission zur Renaissance des Christentums im sich einigenden Europa verordnet?

Der polnische Katholizismus zwischen Tradition und Postmoderne

Die Frage nach der Religiosität der polnischen Gesellschaft ist weiterhin offen. Es schien, als erfolgte ab 1989 nach der Periode der erzwungenen Säkularisierung und zwangsweisen Atheisierung in der polnischen Gesellschaft eine Belebung der Religiosität und eine neue Verbundenheit mit der Kirche. In der Tat gibt es gewisse Anzeichen für eine solche Veränderung (z. B. Entwicklung katholischer Bewegungen, Gemeinschaften und Vereine, die Funktion der Kirche als einer öffentlichen Religion, die Entwicklung katholischer Medien). Gleichzeitig betont man, dass zusammen mit der kulturellen Invasion aus Westeuropa unabweislich eine religiöse Krise in Form einer spontanen Säkularisierung heranzieht – eine Krise, die bei der jungen Generation besonders sichtbar werde. Nach Ansicht des amerikanischen Soziologen Peter L. Berger zieht die weltliche Kultur Westeuropas die neuen Regionen in ihren Einflussbereich hinein. Die Säkularisierung der einzelnen Staaten spiegele den Grad ihrer Integration in Europa. Integration bedeute die Übernahme des Euro-Säkularismus zusammen mit dem ganzen Rest des „europäischen Pakets“. Mit der Zeit werde das „neue“ Europa dem „alten“ immer ähnlicher.

Nach 15 Jahren sozio-politischer und kultureller Transformation bleibt die Religiosität in der polnischen Gesellschaft auf einem relativ stabilen Niveau. Die Veränderungen in den sozialen Strukturen kommen bedeutend schneller als im Bereich der Wertvorstellungen. So hat sich in der Tat nicht viel verändert, eine deutliche Destabilisierung der kirchlichen Religiosität trat nicht ein. Wenn wir von den neuen Differenzierungen der Religiosität in der polnischen Gesellschaft sprechen, so sind sie nicht so sehr etwas radikal Neues und bisher Unbekanntes als vielmehr eine Verstärkung gewisser Prozesse, die ihren früheren Ursprung sowohl in Prozessen der gesellschaftlichen Modernisierung wie auch im Kontext der sich globalisierenden Welt haben. Alle diese Erscheinungen muss man nicht so sehr als gewisse „Zustände“ untersuchen, sondern eher als sich schnell verändernde „Prozesse“ in einem in seiner Masse recht schläfrigen polnischen Katholizismus. Die Religiosität ist gleichsam eine Art Enklave, in der die Veränderungen nicht so nachdrücklich sind wie in anderen Lebensgebieten.

Meinungsumfragen liefern sehr divergierende Informationen zur religiösen Struktur in Polen. Zur katholischen Kirche bekannten sich an der Jahrhundertwende 89 Prozent bis 97 Prozent der befragten erwachsenen Polen. Bei soziologischen Umfragen, die ausgewählte Kategorien der erwachsenen Bevölkerung umfassten, waren die Abweichungen noch höher: von 85 Prozent bis 98 Prozent. Die Oberschuljugend deklarierte ihre Zugehörigkeit zur Kirche zu 89 Prozent bis 98 Prozent, ziemlich häufig etwas unterhalb von 90 Prozent. In manchen Jugendkreisen (z. B. in verschiedenartigen Subkulturen) geht die Religionszugehörigkeit nicht über 50 Prozent. Langsam vollziehen sich wichtige Veränderungen in Polens religiös-kirchlicher Landschaft. Die Grundlagen der individuellen und gemeinschaftlichen religiösen Identität lassen sich nicht auf die institutionell und kulturell dominierenden Werte und Normen der katholischen Kirche beschränken – es entwickeln sich allmählich unterschiedliche religiöse Gemeinschaften: christliche und außerchristliche. In den neunziger Jahren erwärmte sich in unserem Land langsam das Klima zugunsten einer „kulturellen Akzeptanz für eine Pluralisierung der religiös-kirchlichen Szene“, dennoch ist die Behauptung von einer Dekomposition der religiösen Szene verfrüht.

In Polen halten sich die obligatorischen Praktiken auf einem hohen Niveau, selbst wenn sie in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine leicht fallende Tendenz zeigten, insbesondere im Jugendbereich. Die Abkehr von den Osterpraktiken (paschantes) ist deutlicher als die Nichtbeachtung der Sonntagspflicht (dominicantes). Der Rückgang des Besuchs der Sonntags-Messe und der Oster-Praxis ist kein steter Prozess, in den einen gesellschaftlichen Kreisen verzeichnet man hier fallende, in anderen steigende Werte. Dies hat zur Folge, dass die letztliche Bilanz religiöser Praktiken keine bedeutsamen negativen Veränderungen aufweist. Unmittelbare Berechnungen des Sonntagsbesuchs in allen Kirchen Polens zeigen eine etwas fallende Tendenz des Besuchs der Sonntagsmesse. Die Zahl für die dominicantes betrug 1990 50,3 Prozent, 2004 43,2 Prozent. Zur gleichen Zeit stieg die Zahl der communicantes von 10,7 auf 15,6 Prozent. Das Niveau der religiösen Praxis ist nicht nur im Hinblick auf demographische und gesellschaftliche Merkmale differenziert, sondern auch nach gewissen Regionen. Sowohl aus dem Umfrageprojekt „Diagnoza Społeczna“ (Gesellschaftliche Diagnose) als auch aus den Untersuchungen der Meinungsforschungsinstitute CBOS und OPINIA geht hervor, dass das südöstliche Polen, ja in gewissem Grade die ganze östliche „Wand“, sich durch ein entschieden höheres Niveau religiöser Praktiken als die West-„Wand“ auszeichnet. Das niedrigste Niveau religiöser Praxis zeigen die Diözesen Łódź und Sosnowiec, das höchste die Diözese Tarnów. Die beschriebenen Unterschiede der Religiosität auf der Grundlage von religiösen Praktiken in den einzelnen Regionen halten sich wahrscheinlich schon seit längerer Zeit und zeigen keine intensiven Veränderungen.

In Polen hält sich (noch) ein relativ hohes Niveau der Religiosität, das zeigen viele Kennziffern an. Und der Trend zur Areligiosität ist weiterhin schwach – mit Ausnahme mancher Fragen, wie Haltung zur Ehe- und Familienmoral und zur Kirche als Institution. Der Rückgang der Religiosität bei Jugendlichen ist nicht so dramatisch, wie manche Publizisten und Deuter der Meinungsumfragen auf der Suche nach immer neuen Sensationen suggerieren. Bei jungen Menschen sind veränderte Haltungen zu Religion und Kirche etwas Natürliches und Unvermeidbares unter den Bedingungen einer sich herausbildenden pluralistischen Gesellschaft. Angesichts der bisherigen soziologischen Untersuchungen kann man weder von einem Massenexodus der Jugend aus der Kirche noch von einer Revolution in den Haltungen der polnischen Jugend sprechen. Dagegen gibt es Veränderungen, die sich in verschiedenen Richtungen – sowohl auf Säkularisierung als auch auf Individualisierung hin (die Jugend ist religiös, hat aber eine eigene Moral) – bewegen, aber auch zu einer Vertiefung der Religiosität, u.a. über religiöse Bewegungen und katholische Vereinigungen.

In Polen ist Atheismus – ähnlich wie vor 1989 – nicht in Mode. In Mode sind dagegen kritische Haltungen gegenüber der Kirche. Man könnte diese Erscheinung als ekklesialen Atheismus bezeichnen. Wenngleich in der Soziologie weiterhin an der These von der stabilen Religiosität in der polnischen Gesellschaft festgehalten wird, so beginnen sich dennoch gleichzeitig neue Gruppierungen von Atheisten, Agnostikern und Kirchengegnern herauszubilden und zu konsolidieren. Die Atheisten in Polen negieren nicht so sehr ostentativ die Religion, als sie vielmehr ohne sie leben, während sie häufig anhängliche Gefühle für die katholische nationale Tradition (Atheist, aber kulturell ein Christ) bewahren. Die religiösen Selbsteinschätzungen der Polen (ich bin Katholik, ich bin gläubig) werden sich sicher auf andere Dimensionen der Religiosität auswirken. Gegenwärtig sind wir noch weit von der „europäischen“ Norm entfernt. Zugehörigkeit zur katholischen Kirche, auch ein gewisses Minimum gelebter religiöser Praktiken ist immer noch in der polnischen Gesellschaft eine kulturelle Norm. Es gibt keine empirischen Grundlagen für die Hypothese, dass die Konsequenz des EU-Beitritts in einem massierten Zufluss von Werten und Stilen des säkularisierten Lebens bestehen wird, was wiederum zur Zerschlagung der traditionellen polnischen Religiosität beitrüge, worauf es dann eine Reaktion gäbe: Suche nach Rettung in fundamentalistischen religiösen Bewegungen oder in unterschiedlichen Formen außerkirchlicher Religiosität.

Die sozio-kulturellen Veränderungen, insbesondere der sich ausbreitende weltanschauliche Pluralismus, fördern die Herausbildung kritischer Haltungen zur religiösen Lehre und den Geländeverlust der religiösen Rechtgläubigkeit. Es zeigen sich selektive Haltungen, in denen institutionell gefestigte Glaubenswahrheiten in vollauf bewusster Weise (kritisch-selektive Haltungen) oder in nur teilweise bewusster oder ganz unbewusster Weise (pragmatisch-selektive Haltungen) in Frage gestellt werden. Soziologische Untersuchungen der Religiosität beweisen, dass nur eine knappe Mehrheit der Kirchenmitglieder in Polen ohne Vorbehalt oder mit geringen Zweifeln die Glaubenslehre ihrer Kirche billigt (nach verschiedenen Schätzungen zwischen 40 Prozent und 70 Prozent). Bei einer Minderheit stimmt der Inhalt der deklarierten Haltungen gegenüber den Glaubensdogmen in vieler Hinsicht nicht mit den theoretischen Grundsätzen des Katholizismus überein. Die relativ größte Abwertung erfahren Dogmen, die sich auf eschatologische Fragen beziehen, also auf den Glauben an das Leben im Jenseits, an die Auferstehung des Leibes, an die Existenz von Himmel und Hölle. Manchmal glaubt man an die Existenz Gottes ohne Akzeptanz eines jenseitigen Lebens, was auf ein schwaches Verständnis des Begriffes „ewiges Leben“ hinweisen könnte.

Selbst wenn der Spruch „Die Polen sind religiös, aber wenig moralisch“ nicht restlos zutrifft, so zeigt er doch die Richtung der Veränderungen in der Mentalität der Polen, d. h. eine bedeutsame „Kluft“ zwischen den proreligiösen Erklärungen und den moralischen Haltungen. In einer deutlichen Krise befinden sich jene Normen, die mit der Unauflöslichkeit der Ehe, mit der vorehelichen Keuschheit und der Geburtenregelung zusammenhängen. Die Abweichungen von der traditionellen Sexualmoral sind so bedeutsam, dass man von einer Revolution der Sitten, ja sogar der Moral sprechen kann. Die Soziologen gebrauchen den Ausdruck „stille Revolution“. Das moralische Bewusstsein der Katholiken im Hinblick auf Ehe und Familie ist den Prozessen der Pluralisierung und Relativierung unterworfen. Der Rigorimus in Fragen der Sexualität wird deutlich schwächer. In der moralischen Bewertung von Verhütung, Abtreibung und anderen Fragen der Sexualmoral gibt es eine Verschiebung hin zur Entscheidung aus dem individuellen Gewissen. Die Weisungen der Amtskirche spielen eine sekundäre Rolle, der Vorrang wird dem Individuum eingeräumt. Ein Teil der Katholiken fühlt sich nicht als Adressat moralischer Normen, sondern als ihr Schöpfer.

Noch immer hält sich auf einem bedeutenden Niveau oder vergrößert sich sogar die Gruppe jener, die sich für Katholiken halten, doch sich durch eine schwache Verbindung mit der Kirche oder dadurch charakterisieren, dass sie gar keine Verbindung zu ihr haben. In Polen erkennen viele Katholiken, selbst wenn sie mit der Kirche verbunden sind, in zahlreichen wichtigen gesellschaftlichen und ethischen Fragen nicht die moralischen Normen an, wie sie von der Kirche verkündet werden. Sie formen ihre eigene individuelle Religiosität, bisweilen in Opposition zu den institutionalisierten Dimensionen des Katholizismus. Nach Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CBOS vom März 2000 bezeichneten sich 57 Prozent der erwachsenen Polen als gläubig und den Weisungen der Kirche folgend, 40 Prozent als auf eigene Weise gläubig und 3 Prozent als unentschieden, gleichgültig oder nichtglaubend (für Mai 2005 lauten die entsprechenden Zahlen: 66 Prozent, 32 Prozent, 2 Prozent). Vielleicht haben die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Tod des Papstes das Band der Katholiken mit der Kirche etwas gefestigt.

Unter Berücksichtigung der Unterschiedlichkeit der in den Umfragen und soziologischen Untersuchungen formulierten Fragen lässt sich sagen, dass zwischen 55 Prozent und 75 Prozent der untersuchten Polen dazu neigen, die Kirche in allgemeinen Kategorien positiv zu bewerten. Dabei handelt es sich jedoch um ein Vertrauen besonderer Art, auf dem Niveau allgemein anerkannter Werte. Wenn wir andere Kennziffern in den Blick nehmen, wie die Überzeugung von der Dominanz der Kirche in der Gesellschaft, den Grad der Zufriedenheit mit Aussagen der Kirche über verschiedene Themen gesellschaftlichen Charakters (z. B. vor Wahlen), Ansichten über das geschlossene Konkordat, den kirchlichen Einfluss auf die Gesetzgebung in Polen u. ä., dann erscheint das Vertrauen in einem etwas anderen Licht und die Einstellung zur Kirche wird skeptischer und problematischer („distanzierte Toleranz“ oder „emotionale Neutralität“). Nach Jacek Kurczewski „fürchtet der emanzipierte Bürger die potentielle ideologische Kontrolle der Kirche, von daher erklärt sich die Mehrheit, die den Einfluss der Kirche im öffentlichen Leben für zu stark hält“. Das Interesse der öffentlichen Meinung für das, was die katholische Kirche in gesellschaftlichen Fragen zu sagen hat, ist eher mäßig, selbst wenn man es als Zeichen für die begründete Sorge der Kirche um den Zustand der polnischen Gesellschaft wertet. Kritisch beurteilt wird der Klerus, vor allem in Bezug auf seine übermäßige Sorge um materielle Dinge.

Unter den polnischen Soziologen gibt es keine größeren Divergenzen, wenn es darum geht, die Dimensionen der Säkularisierung der Gesellschaft einzuschätzen, dagegen sehen wir Unterschiede in der Beurteilung der gesellschaftlichen Rolle der Kirche. Die Diskussionen über Position und Rolle der katholischen Kirche in der Gesellschaft dauern an; wir sind weit von eindeutigen Diagnosen entfernt, mehr noch davon, ein Verständnis für das Modell zu entwickeln, wie Kirche in der demokratischen Gesellschaft funktionieren soll. Die Rolle der Kirche ist wahrscheinlich bedeutend stärker im Bereich des öffentlichen Lebens der Polen als in Angelegenheiten der persönlichen Moral. Die katholische Kirche hört jedoch langsam auf, eine monopolistische Institution, eine die ganze Gesellschaft umfassende und allgemein verbindliche Glaubensgemeinschaft zu sein. Wenn nicht aus Prinzip, dann de facto hört der Katholizismus auf, ein Glaube der ganzen Nation zu sein. Glaubensbekenntnis, nationale Identität und politisches Bürgerverständnis trennen sich allmählich voneinander. In den letzten Jahren findet man in den Erklärungen der Bischöfe Sätze über das „katholische Polen“ oder „die katholische Gesellschaft“ immer seltener.

Das religiöse Polen, darunter die religiöse Jugend in der polnischen Gesellschaft, ist ein heikles Problem für die Verfechter der Säkularisierung in Europa und in der modernen Welt. Besonders die Debatten über die Religiosität der Jugend gehören in allen Ländern zu den kontroversen Themen. An der Schwelle des 21. Jahrhunderts verliert die katholische Kirche in Polen nicht ausdrücklich die Kontrolle über das religiöse Leben der Individuen und der gesellschaftlichen Gruppen, wenngleich ihr Einfluss auf die Gläubigen etwas schwächer wird. Dennoch gibt es keine Gründe, alarmistische Warnungen zu verkünden, unabweislich komme es zu einer Situation, wo die Kirche die Jugend verliert („Kirche ohne junge Menschen“). Religiosität ist, vom soziologischen Gesichtspunkt aus, keine statische Größe, sondern eine, die sich je nach dem sozio-kulturellen Kontext verändert. Die hier versuchte Beschreibung des religiösen Zustandes in der polnischen Gesellschaft ist keineswegs vollständig. Und auf die Frage, wie ihr wahres Antlitz ist, gibt es keine eindeutige Antwort. Selbst wenn wir den polnischen Katholizismus als „Bastion mit vielen Schrammen“ bezeichneten, so gibt es gleichzeitig in ihm ein großes „schlafendes Potential“, das zu einer Revitalisierung der polnischen Religiosität und zu einem Zeugnis der religiösen Polen angesichts eines säkularisierten Europas führen könnte. Auf jeden Fall ist die These, hier handle es sich um „den Abschied von einem katholischen Land“, erheblich verfrüht.

Der polnische Katholizismus – ein Modell für Westeuropa?

Wir stehen mitten in großen Prozessen der Transformation. Deshalb fällt es schwer, eine endgültige Prognose zu formulieren. Es scheint, dass die Variante „Angleichung“ wahrscheinlicher ist als die Variante „Mission“, wenngleich 74 Prozent der Polen im Alter über 15 Jahre 2006 die Meinung äußerten, der religiöse Glaube der Polen könne Modell und Hilfe für andere Nationen sein (davon 27 Prozent: entschieden ja). Das bedeutet nicht, dass Polen einer intensivierten Säkularisierung unterworfen sein wird, die es dem europäischen „Durchschnitt“ ähnlich macht. Die geringen Veränderungen in der Religiosität in Polen in den Jahren 1989-2003 erlauben es, deren Langsamkeit auch für die folgenden Dekaden des 21. Jahrhunderts zu prognostizieren. Einerseits beobachtet man eine Abkehr von traditionellen religiösen Werten, aber es zeigen sich auch Tendenzen zur Vertiefung der Religiosität (etwa 1,5 Millionen Menschen gehören zu religiösen Bewegungen und Gemeinschaften sowie zu katholischen Verbänden). Eine Definition der gegenwärtigen religiösen und kirchlichen Lage als „zwischen Säkularisierung und Evangelisierung“ wäre vollauf gerechtfertigt.

Die Unterschiede in der polnischen und europäischen Religiosität sind recht deutlich, was die meisten analysierten empirischen Kennziffern angeht. Es ist keineswegs so gewiss, dass die Welt von heute – darunter auch Polen – sich nach den gleichen Regeln verändern wird und alle in näherer oder weiterer Zukunft den gleichen Stand anerkannter Werte und Methoden, die Welt zu sehen, erreichen werden, die die am stärksten säkularisierten Länder Westeuropas erlangt haben. Was sich in Westeuropa ereignet hat, muss nicht in anderen gesellschaftlichen Milieus geschehen. Wir können uns jedoch nicht vollends vorstellen, wie ein gutes, christliches Europa funktionieren muss noch wie ein solcher Zustand zu erreichen sei. Der Beitrag Polens, wenn es darum geht, Europas christlichen Geist zu erhalten, wird davon abhängen, wie sich die polnische Religiosität in Zukunft gestalten wird – davon, welches von den am Anfang genannten Szenarien in der Praxis verwirklicht wird: das Szenario der Angleichung, der Revitalisierung oder der differenzierten Veränderungen. Nicht ohne Bedeutung werden auch die Veränderungen in westeuropäischen Ländern sein, die sich entweder in Richtung auf eine weitere Vertiefung der Säkularisierungsprozesse oder auf ihre Abschwächung bewegen werden.

Das Modell der westeuropäischen Säkularisierung muss sich in Polen nicht um so mehr realisieren, je weiter sich die pluralistische und demokratische Gesellschaft herausbildet. Die mit einer breit verstandenen gesellschaftlichen Modernisierung verbundenen Veränderungen ziehen nicht unabweislich einen Niedergang der Religiosität nach sich, sie können jedoch eine verlangsamte oder kriechende Säkularisierung sowie eine Veränderung der Formen religiösen und kirchlichen Lebens fördern. In Zukunft wird – vielleicht – die Zahl der Individuen wachsen, die gegenüber der Religion Haltungen einnehmen, welche sich in den von einer individualistischen oder sogar postmodernen Denkweise abgesteckten Grenzen bewegen – jener Individuen, die ihren Glauben auf ihre eigene Weise verstehen werden, die sich nicht restlos im Rahmen der katholischen Rechtgläubigkeit unterbringen lässt (Bastelreligion). Diese Erscheinung wird sich unabhängig davon verstärken, ob es in Polen zu einem heftigen Prozess der Laizisierung (wenig wahrscheinlich) kommt oder aber ob wir eher Prozesse einer spezifischen Säkularisierung beobachten werden (wahrscheinlichstes Szenario für die Entwicklung der Religiosität). Man kann annehmen, dass Polen im säkularisierten Europa ein „Sonderfall“ bleibt – mit einer bedeutsamen Rolle der Religion im gesellschaftlichen Leben. Man darf Zweifel daran äußern, ob der polnische Katholizismus als nachahmenswertes Modell für die Kirchen Westeuropas angesehen werden kann. Der Prozess der „Europäisierung“ der polnischen Religiosität wird sicher von starken Evangelisierungseinflüssen der katholischen Kirche und anderer religiöser Gemeinschaften konterkariert werden. Wenn sich aber das Szenario der „Angleichung“ erfüllen wird, dann wird die Entwicklungsrichtung der Veränderungen eher der gleichen, die in Italien oder Irland zu beobachten ist, als der in Spanien, Frankreich oder Deutschland.

Die objektiven und subjektiven Faktoren der Säkularisierung haben nicht aufgehört, in Polen zu wirken, sie wurden nur zeitweilig neutralisiert. Selbst wenn die mächtigen Strömungen der „Anti-Evangelisierung“ in ihrer radikalsten Form erlahmt sind, so hörten sie dennoch nicht auf, in grundsätzlichem Sinne und auf systematische Weise zu wirken. Man muss erwarten, dass in nächster Zukunft die weit gefasste Tätigkeit der Kirche von einer besser organisierten Konkurrenztätigkeit laizistischer Gruppen begleitet wird und dass die so genannte „spontane Säkularisierung“ an Raum gewinnen kann. Das Zusammentreffen der Evangelisierungskräfte und der Kräfte der Erneuerung im polnischen Katholizismus kann zu Folgen führen, die im Augenblick nicht zu definieren sind. Das gilt auch für die Faktoren, die in Richtung auf eine Umgestaltung der traditionellen und kundgebungsartigen Religiosität in eine gefestigtere, persönlichere und konsequentere Religiosität wirken. Auch in der polnischen Gesellschaft werden die religiösen Identitäten langsam zu einer Sache der individuellen Wahl.

Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.