Lothringen – vom umstrittenen Gebiet zur europäischen Region

aus OWEP 1/2009  •  von Jean David

Der Autor (geb. 1932) war Professor für deutsche Sprache und Linguistik an der Universität Metz (1968-1996) und Gründungspräsident der Deutsch-Französischen Hochschule in Saarbrücken (1998-2001).

Lothringen (französisch Lorraine) bezeichnet heute eine Region in Nordostfrankreich, die verwaltungsmäßig den vier Departements Moselle, Meuse, Meurthe-et-Moselle und Vosges entspricht (Fläche: ca. 23.000 km²; Einwohnerzahl: ca. 2,3 Millionen). Verwaltungs- und Umgangssprache ist Französisch, in den an Deutschland angrenzenden Gebieten wird noch vereinzelt ein deutscher Dialekt (Moselfränkisch) gesprochen, Die größten Städte sind Metz und Nancy (jeweils als Ballungsraum ca. 250.000 Einwohner). Wirtschaftlich war die Region bis in die siebziger Jahre von der Montanindustrie geprägt; die Konversion in Richtung kleinerer verarbeitender Betriebe und Dienstleistungssektor ist noch nicht abgeschlossen. Große Chancen eröffnen sich durch den grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt Großregion(„Saar-Lor-Lux-Trier/Westpfalz-Wallonien“). – Historisch bezeichnete Lothringen zunächst das wesentlich größere Mittelreich des Enkels Karls des Großen („Lotharingien“, 9. Jahrhundert), später das Herzogtum Lothringen (Ober- und Niederlothringen, seit dem 10. Jahrhundert). Seit dem 18. Jahrhundert sind die Teile des heutigen Lothringen („Lorraine“) Bestandteil Frankreichs, unterbrochen von der Zugehörigkeit zum Deutschen Reich (1871-1918 und 1940-1944; aus dieser Zeit stammen einige lokale Sonderrechte).

Eine wechselvolle Geschichte

Ursprung und Ende des Herzogtums Lothringen

Bekanntlich haben der deutsche Name „Lothringen“ und die französische Benennung „Lorraine“ einen gemeinsamen Ursprung. Beide stammen von „Lotharii Regnum“, d. h. dem Reich Lothars. Dieser Ausdruck bezeichnete den mittleren Teil des unter den drei Enkeln Karls des Großen aufgeteilten Reiches, über das ihr Großvater regiert hatte. Dieses Mittelreich, in der Frankensprache „Lotharingien“ genannt, erstreckte sich ursprünglich von den Niederlanden bis nach Rom. Infolge weiterer Aufteilungen und territorialer Abtretungen schrumpfte es zu einem viel kleineren Gebiet, dem Herzogtum Lothringen im Herrschaftsbereich des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, zusammen. Eine Besonderheit des Herzogtums war, dass die Sprachgrenze zwischen romanischen und germanischen Dialekten quer durch seinen nordöstlichen Teil verlief und die so genannte „Deutsche Ballei Lothringens“ im Herzogtum abgrenzte. Nach wechselvoller Geschichte war das Herzogtum ab Mitte des 18. Jahrhunderts ein Teil des Königreichs Frankreich.

Die lothringischen Departements

Die Französische Revolution löste die bisherigen Provinzen auf und gliederte Frankreich in „Departements“. Das frühere Herzogtum Lothringen wurde sozusagen gevierteilt. Von den vier aus dieser Neuordnung entstandenen Departements waren drei fast ausschließlich Teile des aufgelösten Herzogtums. Das vierte aber, das Departement Moselle, war von Anfang an ein komplexes Gebilde. Es setzte sich aus zwei annähernd gleich großen Hälften zusammen, die durch die Sprachgrenze geteilt waren. Im Nordosten befand sich ein Teil der deutschsprachigen „Deutschen Ballei Lothringens“ nebst einigen kleineren deutschsprachigen Landschaften (ein kleiner Rest dieses Gebietes liegt heute in Rheinland-Pfalz und im Saarland).

Reichsland Elsass-Lothringen

Außer seinem westlichen Ende um die Stadt Briey wurde das Departement Moselle zusammen mit den zwei elsässischen Departements 1871 nach dem Sieg Preußens über Frankreich an das eben gegründete Deutsche Reich angeschlossen. Das Prinzip „eine Sprache, eine Nation“ rechtfertigte die Annexion der deutschsprachigen Gebiete. Metz und seine Umgebung waren jedoch französischsprachig, weshalb strategische Gründe für den Anschluss dieses Teils an das Deutsche Reich angeführt wurden. Die annektierten Gebiete bildeten zusammen das „Reichland Elsass-Lothringen“. Die Benennung war übrigens irreführend, denn sie vertuschte die Tatsache, dass es weiterhin eine französische „Lorraine“ gab, die viel größer war als der annektierte Teil.

Die „annektierten Departements“

Die 48 Jahre unter der Verwaltung des Deutschen Reichs verliehen diesen Gebieten besondere Merkmale, auf die unten noch eingegangen wird. So war es erforderlich, dass nach der Rückgliederung nach Frankreich (1919) die so genannten „annektierten Departments“ in mancher Hinsicht, insbesondere in Bezug auf öffentlich-rechtliche Fragen, als Einheit betrachtet wurden. Von 1940 bis 1944 wurden die „annektierten Departements“ von der Besatzungsmacht de facto wieder als Teil des Deutschen Reichs angesehen und entsprechend behandelt.

„Région Lorraine“

Als in den siebziger Jahren Frankreich die Departements in „régions“ gruppierte, wurde die „Region Lorraine“ aus den vier Departements zusammengesetzt, die aus der Teilung des Herzogtums Lothringen hervorgegangen waren. Wie oben erläutert, unterschied sich das Departement Moselle von den drei anderen in mehrfacher Hinsicht, was sich auf die Bildung einer regionalen Identität erschwerend auswirkte. In den letzten Jahren zeichnen sich aber auch verbindende Faktoren ab, die zu einer Bewusstseinsbildung in europäischem Rahmen beitragen.

Differenzierende Faktoren

Die Zweisprachigkeit des Departements Moselle

Als das Departement Moselle 1871 annektiert wurde, war Deutsch die Mehrheitssprache. Nach der Annexion wurde die deutsche Sprache natürlich Schul- und Amtssprache in den deutschsprachigen Gebieten. Hinsichtlich des frankophonen Gebiets um Metz setzten die deutschen Behörden auf Zeit und tolerierten die französische Sprache, denn man rechnete mit einem ständigen Zuwachs des „altdeutschen“ Anteils der Bevölkerung. In der Tat sprach 1918 über die Hälfte der Bevölkerung von Metz Deutsch. Diese Zweisprachigkeit war nach der Rückkehr nach Frankreich den Behörden unerträglich, weil sie mit der französischen Auffassung der Beziehung zwischen Nation und Sprache unvereinbar war. Im Unterschied zum Prinzip „eine Sprache, eine Nation“ hielt die Französische Republik – insbesondere seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht nach 1870 – am Prinzip „eine Nation, eine Sprache“ fest. Dementsprechend wurde der Gebrauch der Regionalsprachen, wie z. B. in der Bretagne und im Baskenland, und sogar der Gebrauch der französischen Dialekte in der Schule (auch in der Pause!) strengstens verboten.

Wie nicht anders zu erwarten, wurde diese Sprachpolitik auf die rückgegliederten Gebiete schrittweise angewandt, was man an und für sich nicht als eine Folge der damals tatsächlich existierenden Deutschfeindlichkeit auslegen darf. Der Versuch der Naziherrschaft, die de facto annektierten Gebiete zwischen 1940 und 1944 Gebiete zu germanisieren, was mit massiven Ausweisungen von französischsprachigen Mosellanern verbunden war, endete mit der Befreiung; die Verdrängung der deutschen Dialekte durch die Schule und die Medien setzte sich fort.

Heute ist das „Platt“ in Lothringen im Schwund begriffen. Ein in Frankreich erkennbares neues Interesse an Regionalsprachen könnte Rettungsversuchen durch Vereine und auch durch die Schulbehörden zugute kommen. Die Erfolge werden dennoch nur beschränkt bleiben. Die Tatsache, dass der Deutschunterricht in der Schule hier merklich stärker besucht wird als in den anderen Regionen Frankreichs, stellt nur eine marginale Korrektur an diesem Sachverhalt dar.

Jahrzehntelang nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten die Franzosen anderer Herkunft Mosellaner Deutsch sprechen hören. Das machte sie zu Franzosen „nicht ganz wie wir“. Andererseits entwickelten viele Mosellaner – im Unterschied zu den Elsässern, die meistens auf ihr doppeltes Kulturerbe stolz sind – eine Art von Minderwertigkeitskomplex wegen ihres nicht immer einwandfreien Französisch. Beide Haltungen nährten ein Gefühl der gegenseitigen Distanz, das sich auf die Bildung einer gesamtlothringischen Identität stark hemmend ausgewirkt hat. Obwohl Stereotypen zählebig sind, kann man davon ausgehen, dass dieses Hindernis inzwischen aus dem Weg geräumt ist.

Das Lokalrecht

Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Departement Moselle innerhalb Lothringens juristische Besonderheiten aufweist, die es mit dem Elsass teilt. Diese Besonderheiten rühren von dem Fortbestand von Gesetzen und Verordnungen aus der Zeit des „Reichslands Elsass-Lothringen“ her, die nach der Rückgliederung im Jahre 1918 von Frankreich unter der Bezeichnung „Lokalrecht“ aufrecht erhalten wurden. Dies geschah deshalb, weil z. B. viele Bestimmungen im Sozialbereich günstiger waren als das französische Pendant. Die bekannteste Besonderheit des Lokalrechts ist allerdings das Konkordat, das eine eigentlich seltsame Ausnahme in der Französischen Republik darstellt, die auf das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat großen Wert legt. Es handelt sich um das 1802 unterzeichnete Napoleonische Konkordat, das zwischen 1871 und 1918 als Landesgesetz unangetastet blieb. Ihm zufolge werden die Bischöfe von Metz und Straßburg vom Präsidenten der Französischen Republik im Einvernehmen mit dem Heiligen Stuhl ernannt.

Die Rivalität Metz-Nancy

Innerhalb Lothringens haben sich zwei voneinander unabhängige Zentren um Metz (ursprünglich Bistumssitz, erst seit dem 16. Jahrhundert zu Frankreich, nach 1871 wieder getrennt) und um Nancy, die alte Hauptstadt des Herzogtums, gebildet. Nach 1871 war Nancy die einzige Großstadt im französischen Lothringen. Heute weist die Region Lothringen zwei gleich große Ballungsräume um Metz und Nancy mit je annähernd 250.000 Einwohnern auf, von denen keiner sich als unbestreitbare regionale Metropole behaupten kann, wenn auch Metz mit dem Sitz der Regionalpräfektur und des Regionalrats die Funktion der Verwaltungshauptstadt ausübt. Die Rivalität zwischen Metz und Nancy hat insbesondere nach der Gründung der Region Lothringen akute Krisen durchgemacht. Den Höhepunkt stellte die Festlegung der Trasse der Autobahn Paris-Straßburg über Metz statt über Nancy dar. Zur gleichen Zeit geriet das lothringische Wirtschaftsmodell, das allein auf der Montanindustrie (Kohle und Stahl) basierte, ins Wanken. In den letzten dreißig Jahren hat die lothringische Wirtschaft dann eine Umwandlung erfahren, die die Einigung der Region unerlässlich macht und die beiden Städte zwingt, das Kriegsbeil zu begraben.

Verbindende Faktoren

Wirtschaftliche Transformation

Die Nachbarschaft riesiger Eisenerzvorkommen und ausgedehnter Kohlenreviere ermöglichte gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Entwicklung einer mächtigen Eisen- und Stahlindustrie im Reichsland Elsass-Lothringen, im französischen Teil Lothringens, im Großherzogtum Luxemburg und in dem deutschen Gebiet, das nach 1918 Saarland genannt wurde. Ab den siebziger Jahren erlag das lothringische Eisenerz jedoch allmählich der Konkurrenz reichhaltigerer Erze aus Übersee, und die Stahlindustrie wurde zum großen Teil nach hafennahen Standorten verlagert. In Lothringen geblieben ist nur die Produktion hochwertiger Stahlsorten. Gleichzeitig machte die Konkurrenz aus Übersee auch die Steinkohle immer unwirtschaftlicher. Die letzte Zeche in Lothringen (sie war die letzte in Frankreich) wurde 2007 stillgelegt.

Die Pfeiler der lothringischen Wirtschaft waren standortgebunden. Hochtechnologische Industrien, die in der Wirtschaft der entwickelten Länder einen immer größeren Platz einnehmen, können an beliebigen Standorten angesiedelt werden. Lothringen hatte ein Jahrhundert lang von seinen Bodenschätzen gelebt. Es sieht sich also heute vor eine ganz neue Aufgabe gestellt.

Für die neuen Industrien sind Forschung, Entwicklung und qualifizierte Arbeitskräfte Schlüssel zum Erfolg. Städte mit anerkannten Hochschulen und Labors sind besonders attraktiv. So geraten die Universitätsstädte miteinander in Wettbewerb oder müssen sich entschließen, ihre Kräfte zu bündeln. In Lothringen sind Metz und Nancy auf Kooperation angewiesen, denn nur auf sich gestellt kann keine ihrer Universitäten mit Straßburg konkurrieren, wo sich die Hochschulen bereits zusammen geschlossen haben. Für die Universitäten Metz und Nancy ist dies bis 2012 vorgesehen. Die daraus resultierende „Universität Lothringens“ wird dann zu den zehn größten Universitäten Frankreichs zählen.

Grenzüberschreitende Öffnung

Der Untergang der Schwerindustrie verursachte einen enormen Stellenabbau. Insgesamt fielen über 100.000 Arbeitsplätze weg. Diese Verluste konnten durch eine Verstärkung der Metall- und Mechanikindustrie und noch mehr durch die Entwicklung des Dienstleistungssektors wenigsten zum Teil ausgeglichen werden. Die Arbeitslosenquote wäre in Lothringen, insbesondere im Departement Moselle, unerträglich hoch gestiegen, wenn die Grenznähe, die der Region sooft geschadet hat, ihr dieses Mal nicht zur Chance geworden wäre.

Innerhalb eines Staates sind die Städte dem Wettbewerb ausgesetzt. Aber die Staaten konkurrieren auch miteinander, um Investitionen anzuziehen. In diesem Spiel hat das Großherzogtum Luxemburg gute Karten in der Hand. Mehrsprachigkeit und Steuerrecht stellen Rahmenbedingungen dar, die für Geldanleger und Unternehmen sehr attraktiv sind. Die luxemburgische Wirtschaft, insbesondere im Dienstleistungssektor, hat sich dermaßen entwickelt, dass sie die nötigen Arbeitskräfte aus den benachbarten Regionen anwerben muss. In geringerem Ausmaß bietet auch das Saarland im Ballungsraum um Saarbrücken Arbeitsplätze für zweisprachige Mitarbeiter an. Daraus folgt ein spektakulärer Anstieg der Pendlerzahlen in der so genannten „Großregion“. Aus Lothringen pendeln werktags ca. 70.000 Arbeitnehmer nach Luxemburg und über 20.000 ins Saarland. Insgesamt zählt der Raum Luxemburg-Lothringen-Saarland über 160.000 Pendler. Nirgendwo sonst in Europa pendeln so viele Menschen zu ihren Arbeitsplätzen über Grenzen hinweg. So hat sich ein „Alltagseuropa“ einwickelt, wo man in einem Land wohnt, in einem anderen arbeitet und gelegentlich in einem dritten einkaufen geht oder eine Ausstellung besucht.

Dieses Alltagsleben ohne Grenzen ist eine Folge der europäischen Integration, gewissermaßen eine Verwirklichung des Aussöhnungstraums von Robert Schuman (1886-1963), selber lothringischer Herkunft, in Luxemburg geboren, Rechtsanwalt im „Reichsland“ und später französischer Staatsmann.

Mit diesem Europa des Alltags gehen Alltagsprobleme einher, die ein Mindestmaß an grenzüberschreitender Abstimmung und Kooperation der Behörden und der Politik erfordern. So ist auf institutioneller Ebene eine Großregion „Saar-Lor-Lux-Trier/Westpfalz -Wallonien“ entstanden mit Instanzen (Regionalkommission, Parlamentarierrat usw.), wo Probleme angegangen werden, die nicht nur das Departement Moselle betreffen, sondern zwei bzw. drei der lothringischen Departements. Gegenüber den deutschen und luxemburgischen Nachbarn muss Lothringen als ein Partner auftreten.

Durch das Aufkommen einer neuen, auf Städte zentrierten Wirtschaft und durch die Aufhebung der Wirtschaftsgrenzen verschwinden überkommene Differenzen und Spannungen in Lothringen. Nun findet die Region, die oft nur mühsam ihre Identität innerhalb Frankreichs behaupten konnte, den Weg zu dieser Identität im Rahmen eines neuen Europa.