Gespräch mit Hellmut Puschmann

aus OWEP 2/2009  •  von Michael Albus

Prälat Hellmut Puschmann (geb. 1938) studierte Theologie in Halle, Erfurt und Neuzelle und wurde 1964 zum Priester geweiht. Nach Kaplansstellen in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) und Leipzig wurde er 1971 Caritasrektor in Berlin, 1973 Diözesancaritasdirektor des Bistums Dresden-Meißen, 1982 Leiter der Zentralstelle Berlin des Deutschen Caritasverbandes und schließlich 1991 Präsident des Deutschen Caritasverbandes Freiburg (bis 2003). Seit 2003 ist er Vorsitzender des Diözesancaritasverbandes Dresden-Meißen und Diözesanpräses des Kolpingwerkes und hat diese Aufgaben auch im Ruhestand (seit 2005) weiter inne. – Gesprächspartner war Prof. Dr. Michael Albus.

Herr Prälat Puschmann, wie haben Sie die Wende vor 20 Jahren persönlich erlebt? Welche Gefühle beherrschten Sie damals?

Hellmut Puschmann (Foto: Michael Albus).

Ich war damals in Ostberlin als Leiter der Zentralstelle Berlin des Deutschen Caritasverbandes tätig und hatte dabei eine Menge caritativer und politischer Aufgaben innerhalb der Kirche zu erfüllen. Primär ging es um die Koordinierung der Caritasarbeit insgesamt im Bereich der Berliner Bischofskonferenz. Es ging um Ausreisefragen, um Inhaftierte, um Kontakt zu staatlichen Stellen, es ging aber auch um das Sonderbauprogramm, die Verhandlungen im Außenhandel. Man merkte an allen Ecken und Enden eine Zunahme an innerer Unsicherheit, an unbewältigten Problemen und an internen Fragen, die mehr und mehr in Kritik übergingen, zusätzlich zu dem, was in der Bevölkerung passierte. Wir kamen beim Sonderbauprogramm aus dem Reklamieren nicht mehr heraus, weil schwere Mängel in der Produktion vorhanden waren.

Was war das Sonderbau-Programm?

Das Sonderbau-Programm war eine typische DDR-Erfindung und lief unter dem Wahnsinnsnamen „Inland-Export“, weil in der Planwirtschaft das Ganze als Exportvorhaben abgerechnet wurde. Was in Ostdeutschland gebaut wurde, wurde von der Kirche in Westdeutschland mit Westgeld bezahlt. Das waren Kirchen, Gemeindezentren, Altenheime usw.

Wie haben Sie den Punkt der Wende persönlich erlebt?

Der Punkt war gestreckt. Anfang Oktober 1989 gab es die großen Demonstrationen, die wirklich furchterregend waren, weil gerade dort, wo ich wohnte, am Prenzlauer Berg in Berlin, die Gethsemanekirche war, bei der von der Polizei die Kesselbildung auf der Straße praktiziert wurde und die Leute nicht mehr rauskamen.

Dann wurde ich am 9. November zu einer Veranstaltung im Französischen Dom eingeladen. Dort waren sehr viele westdeutsche Kameras aufgebaut. Lothar de Maizière wurde dort als der künftige Chef der CDU (Ost) vorgestellt. Das war eine ganz merkwürdige Veranstaltung. Als ich nach Hause kam und vor dem Fernseher mein Abendbrot aß, sah ich Schabowski mit einer überraschenden Meldung und dann die ersten Bilder von der geöffneten Grenze, die unbeschreibliche Freude und die Riesenschlange von Menschen, die sich gebildet hatte, bis man ‘rüberkam. Die alte Ordnung brach einfach weg.

Wie war Ihr Alltag vor der Wende? Unter welchen Bedingungen haben Sie gelebt und gearbeitet?

Ich hatte eine kleine Dienststelle mit etwa 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu leiten. Diese Dienststelle koordinierte die Caritas-Arbeit der DDR, also die Zusammenarbeit zwischen den Verbänden, den zentralen Einrichtungen, die Dinge, die mit den Ministerien zu behandeln waren. Hinzu kam der Kontakt über die Grenze zum Deutschen Caritasverband, zur Kirche in Westdeutschland. Ich war auch Geschäftsführer des Bischöflichen Werkes „Not in der Welt“. Das war eine einmalige Sache, weil wir nach langen Verhandlungen in den sechziger Jahren mit unserer wertlosen Währung wertvolle Dinge, die in der DDR-Wirtschaft abzweigbar waren, in bestimmte Länder als Hilfslieferung schicken konnten, wo Not herschte.

Sie sind Priester. Welche Rolle spielte in dieser Zeit Ihr Glaube?

Mein Glaube war mehrfach gefordert: Einmal, weil ich mir sagen musste: „Ich mache zwar keine Revolution und keinen Staatsumsturz, aber ich weiß, dass das, was ich mache, zum großen Teil dem System nicht gefällt.“ Ich fühlte mich aber auch sehr getragen von Gott und auch vom Vertrauen auf unsere Bischöfe und die Institution Kirche. Zwar gab es offiziell keinen Kirchenkampf, andererseits konnte es aber jederzeit kritisch werden. Ich war innerlich sehr ruhig. Dabei spielte zweifellos auch eine Rolle, dass bei mir eben keine Familie dranhing. Die evangelischen Kollegen haben viel größere Lasten zu tragen gehabt, weil immer die Sorge um die Familie mitspielte.

Und der Kontakt zu den evangelischen Kollegen hat auch geklappt?

Der hat damals sehr gut geklappt, weil es eine praktische Ökumene gab. Es gab keine Konkurrenzsituation, denn es gab eben nur das, was da war. Wir ergänzten uns.

Welche Rolle haben die Kirchen im Prozess der Wende gespielt?

Ich sehe die Rolle der Kirchen als ganz entscheidend in diesem Prozess. Einmal durch die Tatsache, dass Menschen Räume fanden, in denen sie offen sprechen konnten und sich geschützt fühlten. Das Problem „evangelisch-katholisch“ spielte in dieser Hinsicht im konkreten Leben eine untergeordnete Rolle. In der offiziellen Problematik zwischen den Kirchen war es natürlich immer auch eine Frage der unterschiedlichen Staat-Kirche-Auffassungen. Wir haben in Berlin innerhalb des katholischen Raumes oft diskutiert, inwieweit das, was die evangelische Kirche macht, immer für die Menschen wirklich gut ist. Ich denke dabei zum Beispiel an die umstrittene, wichtige, aber eben schwierige Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“. Jugendliche fuhren ab auf dieses Stichwort, fanden das großartig, es war auch großartig. Aber unsere Frage war immer: „Können wir es verantworten, junge Leute ins Feuer zu schicken?“, denn wir konnten sie nicht schützen. In Einzelfällen konnten wir, wenn die Jugendlichen Ärger bekamen, zwar helfen, sodass sie nicht von der Schule oder ihrer Ausbildungsstätte verwiesen wurden. Aber das klappte nicht immer.

Ich begegne immer wieder einer spürbaren, großen Enttäuschung, dass das nicht eingetreten ist, was man sich eigentlich für das kirchliche Leben erhofft hat. Welche Rolle spielen die Kirchen heute auf dem Gebiet der ehemaligen DDR?

Es gab am Anfang eine Euphorie in dem Sinne: „Jetzt müssten ja eigentlich die überzeugten Genossen kommen und sagen ‚Ich bin enttäuscht, wo finde ich was Neues, was mich trägt?‘“ Sie kamen aber nicht. Und dann gab es eine Phase, wo wir uns darüber unterhielten und es reflektierten und sagten: „Gott sei Dank sind sie nicht gekommen, wir waren ja gar nicht vorbereitet auf die, es wäre wahnsinnig schwierig geworden.“ Traurig – aber auch klar. Die wenigen, die kamen, sind gute Gesprächspartner. Ich habe selbst einen guten Freund, der ein hoher Armeemann war und bis heute ein ganz lauterer Kommunist, aber auch sehr nachdenklich und fragend ist.

Die Rolle der Kirchen ist nach einer ersten Phase großen Vertrauens sehr beschädigt worden, als die Frage der Stasiverstrickung aufkam, mit allen Übertreibungen und Ungerechtigkeiten, die es gab. Wir haben das innerhalb der Caritas versucht aufzuarbeiten und sind dankbar, dass nur wenige Inoffizielle Mitarbeiter in der Caritas tätig waren und keine Dinge herauskamen, die nicht schon vorher bekannt geworden waren – und das war wenig. Später haben wir versucht, über den „Caritashorizont“ hinauszuschauen, und haben über die Kommission „Justitia et Pax“ eine Initiative zur Schaffung von Angeboten einer psychosozialen Beratung für vom DDR-Unrecht Betroffene gestartet.

Kardinal König, damals in Wien, hat einmal in einem Interview gesagt, dass der staatlich verordnete Materialismus des Ostens ebenso gefährlich für die Kirche sei wie der praktizierte Materialismus des Westens.

Das kann ich voll unterstreichen, sogar noch verstärken, weil dieser Materialismus, der uns früher begegnete, berechenbarer und irgendwie unterscheidbarer einzuordnen war, denn es war das ideologische Konzept. Jetzt ist vieles so diffus, dass man oft nicht merkt, wo man ausrutscht.

Hat nach Ihrer Meinung die Wende zu echten gesellschaftlichen, politischen und kirchlichen Veränderungen geführt? Anders formuliert: Glauben Sie, dass der real existierende Kapitalismus, dessen Auswüchse man ja jetzt in diesen Wochen und Monaten sehr gut, aber auch mit Schrecken und Furcht sehen kann, die Alternative war, die Sie sich und die Menschen, die Sie kannten, im kommunistischen Machtbereich gewünscht und ersehnt haben?

Das muss ich mit „Nein“ beantworten. Das Verrückte ist: Was wir früher der kommunistischen Propaganda nicht geglaubt haben, erleben wir teilweise jetzt. Das ist sicher das Negative. Natürlich, das ist klar: Es gibt keine ideale Gesellschaftsordnung, es gibt keine paradiesische Verwirklichung von Idealen und von Werten, sodass man also immer wieder damit leben muss, dass gerade in einer Gesellschaft, die die Freiheit so betont, diese auch missbraucht werden kann und für jeden eine Herausforderung darstellt. Freiheit ist als Grundrecht des Menschen seit der Wende weitgehend realisiert und nicht nur eine Phrase wie vorher in der DDR.

Das ist ein entscheidender Gedanke, den Sie gerade ausgesprochen haben: Die Vorstellung und die Absicht, man könne – gleich ob im Kapitalismus oder im Sozialismus – das Paradies auf Erden schaffen, müssen scheitern. Das funktioniert nicht. Da ist christliches Unterscheiden notwendig.

Was ich natürlich andererseits auch wieder sage: Überlegt mal, wie stark hat die Wende menschliche Initiativen freisetzen lassen? Was ist alles aus Menschen gekommen – nicht bloß geworden, sondern auch gekommen – an Ideen, an Herausforderungen, die sie angenommen, denen sie sich gestellt haben? Sie haben sich selbstständig gemacht oder sind irgendwie aktiv geworden – leider zu wenig im politischen Bereich. Das ist sicher ein ganz großes Manko. Die großen Parteien haben immer noch zu wenig dafür getan und leisten immer noch zu wenig überzeugende Arbeit, um Parteimitglieder zu gewinnen. Das ist für die Demokratie eine ganz große Schwäche im Osten: zu erleben, wie diese Initiativen bei Menschen, die enttäuscht worden sind, dann zu Reaktionen geführt haben, wie es sie jetzt gibt, zu Enttäuschungen, die massiv sind – das ist schon sehr belastend.

Zum Thema „Freiheitsproblematik“: Haben Sie nicht die Erfahrung gemacht – ich habe das in Ihren Worten ein wenig herausgehört, – dass es ganz schwer ist, mit der neu gewonnenen Freiheit überhaupt umzugehen und sie positiv umzusetzen, dass da eine gewisse Trägheit beim Menschen sichtbar wird, auch aus einer leidvoll erfahrenen Geschichte zu lernen?

Ganz eindeutig! Und ich muss sagen: Für mich ist das immer deutlicher eine Herausforderung geworden, auf die ich noch nach Antworten suche. Wie man z. B. in der Sozialpolitik Dinge zusammenbringt, die mit den Worten „Fördern und Fordern“ überschrieben sind! Wenn ich heute daran denke, mit welchen Idealen wir in der Sozialarbeit immer wieder versucht haben und versuchen, Menschen durch Begleitung, durch Förderung aus schwierigen Situationen herauszuholen und zu aktivieren, dann scheint mir, dass wir manchmal das Fördern etwas übertrieben haben. Und wenn ich sehe, wie heute manches an Forderungen so über-erzwungen wird, etwa auf der Ebene der Bürokratie oder andererseits auch durch eine Einseitigkeit, die mich erschreckt. Wenn ich zum Beispiel an den Umgang mit Immigranten denke, dann ist das manchmal schon sehr problematisch. In der Härtefallkommission erlebe ich die Diskussion und das Ringen darum, Menschen, die in ausgesprochen extremen Formen am Rande oder vor der Abschiebung stehen, irgendwie zu helfen. Wenn man sieht, was die hinter sich haben an Herumgeschobenwerden, an Angst, an jahrelangem Zittern vor der Abschiebung und wenn man dann angesichts dessen so eine äußerst formale und bürokratische Form der Behandlung sieht, die über Jahre hinweg läuft, da fragt man sich schon, wie man das selbst durchstehen würde und wie diese Menschen jemals gute Erfahrungen von einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft innerlich machen können.

Das ist wahr, ja! – Was ist heute, zwanzig Jahre nach der Wende, noch nicht geleistet, was ist vergessen worden, von dem, was uns oder Ihnen damals aufgegeben wurde?

Nicht geleistet worden ist ganz sicher ein wirklicher Dialog über Grundfragen der gesellschaftlichen Gestaltung, der Werteentwicklungen, der Förderung von Gemeinsamkeit. Da besteht bei uns in der ehemaligen DDR nach wie vor noch ein Minderwertigkeitsgefühl nach dem Motto „Die wollen uns eigentlich gar nicht so richtig haben! Die wissen sowieso alles besser!“ – So in etwa, obwohl es oft ungerecht ist, denn wir haben ungeheuer wirksame und einsatzbereite Menschen aus den alten Bundesländern erlebt, die hier eingesprungen sind. Wenn ich nur daran denke: Was wäre Sachsen ohne Kurt Biedenkopf geworden? Auch Georg Milbradt hat hier für Sachsen enorm viel geleistet – schade, dass sein Abgang so schmerzhaft verlief. Das ist das eine.

Das andere ist aber wirklich dieses Abtun von DDR-Erfahrungen, als ob sie von vornherein schlecht gewesen wären, weil sie eben unter den Kommunisten gemacht wurden. Das ist ein Problem und hängt natürlich auch mit etwas zusammen, was wir oft genug nur für uns beanspruchen und sehen. Wir sagen, wir sind von der DDR geprägt. Dass der Westen und die Menschen im Westen auch geprägt sind, das übersehen wir dann wieder. Der Kalte Krieg hat auch seine Spuren hinterlassen. Das muss ich feststellen, weil ich in diesen fast zehn Jahren in Berlin eben auch so ein „Mauersegler“ war, der beide Seiten erlebte. Diesen Dialog wünsche ich mir, weil er zu kurz gekommen ist. Außerdem muss ich im Blick auf die Kirche sagen, dass ich heute vieles aus der DDR kirchengeschichtlich sehr positiv sehe, was man aber jetzt auch nicht einfach mehr so fortsetzen kann. Nehmen wir doch mal die Freundes- und Familienkreise! Das war eine großartige Sache, ich habe sie als ganz toll erlebt. Das ging aber eben nur unter den Bedingungen der DDR, wo man relativ stabile Arbeitszeiten und -orte hatte und die Arbeitsmigration nicht so groß war. Das andere ist der Religionsunterricht. Die Nähe zur Gemeinde war wesentlich größer und dichter als heute, wo der Religionsunterricht an der Schule erteilt wird und damit natürlich auch eine Entfremdung entsteht, die ganz schwer aufzuarbeiten ist.

Wie sehen Sie heute nach zwanzig Jahren die Gesamtlage im Allgemeinen, wenn Sie sie politisch, kirchlich und gesellschaftlich beschreiben müssten?

Es ist unheimlich viel aufgebaut und damit auch Zuversicht geschaffen worden. Die Verbesserungen der Lebensbedingungen wurden in einem Maße erreicht, wie es unvorstellbar war, wenn man nur an Fragen der Infrastruktur denkt, an die enorme Entwicklung im Telekommunikationsbereich, an den Nahverkehr, an die Qualität der Fahrzeuge, die dichtere Taktfolge der Züge, die Verbesserung der Bausubstanz, das Aussehen der Städte, die Vergrößerung des Wohnraums. Dies sind alles Dinge, wo ganz viele Schritte gegangen worden sind. Es sind äußerlich wahrnehmbare und abrechenbare Dinge. Nur die innere Entwicklung dauert halt länger und ist vielleicht auch zu wenig gesehen worden.

Natürlich spielt dabei auch eine Rolle, dass die Bequemlichkeit der Menschen groß ist und eine gewisse Ermüdung, sich äußerlich zu engagieren, festzustellen ist. Es gibt eine große Politikverdrossenheit. Die Mitgliederzahl der Parteien ist zu gering. Die Angebote von Stiftungen und Organisationen, die Vorträge und Themendiskussionen in ihren Programmen haben, werden zwar wahrgenommen. Es ist schon erstaunlich, wie viele Menschen irgendwo engagiert sind. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist dieser Kreis aber relativ klein, wenn auch dennoch beeindruckend. Wenn man das vergleicht mit dem, was in den anderen früheren Ostblockstaaten geschehen ist, merkt man erst einmal, wie groß die Rolle war, die sowohl die großen Geldbeträge gespielt haben, als auch die hochqualifizierten Menschen, die hierher gekommen sind – nicht nur die als Berater, sondern auch die, die hierher gezogen sind, um Aufgaben zu übernehmen. Ich bin auch relativ häufig in den anderen osteuropäischen Staaten gewesen. Da ist unübersehbar, wie groß der Unterschied ist. Denn die müssen mit den Leuten leben, die früher das Sagen hatten, und ihnen die Macht weitgehend überlassen.

Die Frage einer Verinnerlichung der Menschen steht aus. Die Kirchen wussten schon, dass die Säkularisierung in einem Maße stattgefunden hat, wie man sie eigentlich nicht erwartet hatte. Wenn man eben unter Druck steht, da sucht man Zuflucht. Aber in dem Augenblick, in dem der Druck wegfällt, kann man das Leben leben, das man eigentlich leben möchte.

Mit der Säkularisierung im Osten hat eine Angleichung an den Westen stattgefunden. Das ist keine Frage. Man kann keinen großen Unterschied mehr feststellen.

Eine letzte Frage: Wenn Sie einem jungen Menschen, der die Zeit vor der Wende und die Wende selbst nicht miterlebt hat und kaum noch etwas bzw. gar nichts mehr davon weiß, heute mitteilen wollen oder sollen, worauf es angesichts Ihrer Erfahrungen ankommt, was sagen Sie ihm dann?

Ganz wichtig ist, dass man sehr früh darüber nachdenkt, worauf man sein Leben aufbauen und wohin man sich orientieren will. Da war eben für mich die Kirche, zu der ich eigentlich erst richtig während meiner Pubertät fand, die entscheidende Basis. Das hilft in Situationen, in denen man sich den anderen – ich meine mit den anderen eben die Kommunisten damals – ausgeliefert fühlt. Wir haben auch gelernt zu unterscheiden, was wichtig ist für ein Bekenntnis und was nicht. Die entscheidenden ideologischen Fragen wie Jugendweihe oder Parteimitgliedschaft waren klar. Aber ein Beispiel noch für ein anderes Verhalten:

Ich habe 1956 Abitur gemacht. Da gab es noch keine Wehrpflicht und noch keine Mauer. Wir Jungs wurden im Januar des Abiturjahres zum Schulleiter und noch einem Lehrer bestellt und wurden dort eine bis zwei Stunden „auseinandergenommen“ mit dem Ziel, dass wir versprechen, nach dem Studium der herrschenden Ideologie Tribut zu zollen, indem wir uns zu einem zweijährigen Einsatz verpflichten – völlig pauschal. Wir waren schließlich acht Mann, die das nicht machten, und erhielten deswegen auch keine Befürwortung zum Studium, konnten uns also auch nicht bewerben. Wir hatten aber einen ganz phantastischen alten Klassenlehrer. Der hat uns dann zu sich geholt und fragte uns, wie dumm wir denn eigentlich wären. Er sagte, dass wir das nicht schriftlich machen müssten, sondern bloß zum Schulleiter, der nur auf eine Auszeichnung erpicht wäre, hinzugehen bräuchten und sagen müssten, dass wir es uns mittlerweile anders überlegt hätten. So lief es dann auch: Wir wurden zum Studium befürwortet, der Schulleiter erhielt eine Auszeichnung. Wir haben uns damals durchgerungen, es so zu machen, und es lief genau so, wie er sagte. Es war gegen unsere innere Wahrhaftigkeit, gegen unser Ehrgefühl und gegen alles, was uns wichtig war. Aber es war in dem Moment sicher klug, dass unser Klassenlehrer verhindert hat, dass wir zu Märtyrern für nichts und wieder nichts wurden. Niemand hat jemals mehr danach gefragt.

Ganz im Grunde heißt das, dass Sie ohne einen wirklich starken Glauben das Ganze nicht so gut bewältigt hätten.

Völlig klar, das kann ich ganz uneingeschränkt bejahen. Noch einmal: Die Gemeinschaft hat dabei eine große Rolle gespielt. Gemeinden oder Gruppen, die die Möglichkeit schenken, sich auszutauschen und gemeinsam nachzudenken, Ziele zu bilden, sind absolut notwendig.

Abschließend möchte ich vielleicht noch eines sagen: Es bleibt immer eine Problematik, die mir heute auch noch nicht „angepackt“ zu sein scheint. Wir sind ja in der Diaspora groß geworden, hatten also immer dieses Stigma oder auch dieses elitäre Gefühl, etwas anderes zu sein. Ich habe nie Wert gelegt auf eine provokativ bekenntnishafte, äußerlich zur Schau gestellte Andersartigkeit, aber man war eben immer kirchlich orientiert, das wussten alle. Das ist etwas, was im Ost-West-Dialog auch zu wenig gesehen wurde und wird. Man hat häufig gesagt: „Ihr musstet euch im Osten gleichschalten lassen, anpassen und durftet nicht auffallen.“ Dass es im Westen zwar eine große Gleichgültigkeit gegenüber Exoten gibt, das ist das eine. Aber das andere ist auch, dass es diesen Druck der Durchschnittsnorm gibt: Alle tragen Jeans, alle tragen in bestimmten Gruppen bestimmte Markenklamotten, beispielsweise an den Schulen. Und wehe dem, der sich da nicht ein- und anpasst!

Diese Uniformierung im Westen kann man jeden Tag sehen.

Ich sehe in der Gestaltung meines Andersseins eine ganz wichtige Aufgabe. Ich hoffe, dass ein solches Bekenntnis in Offenheit zueinander mehr bewirkt.