Zwischen geistlichen Heimaten

Mein Leben in Deutschland als orthodoxe Christin (Erfahrungsbericht)
aus OWEP 3/2009  •  von Irena Pavlović

Irena Pavlović, serbisch-orthodoxe Christin, ist Doktorandin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Erlangen.

Erste Woche: Ich soll über mein Leben als orthodoxe Christin in Deutschland schreiben. Ein einfaches Thema, meinte ich zuerst. Und eine Ablenkung von diesen Fußnoten in meiner Dissertation. Toll, mal wieder etwas anderes zu schreiben. Irgendetwas fällt mir schon ein … Ich bin hier geboren, aber in Serbien aufgewachsen. Habe Theologie studiert, orthodoxe und evangelische. Kann doch spannend sein.

Zweite Woche: Erste Zweifel. In Ich-Form habe ich noch nie geschrieben. Nur als Teenie in meinem Tagebuch, schon lange her.

Ein Tag später: Ich bin orthodoxe Christin und Theologin. Eine von etwa zwei Millionen Orthodoxen in Deutschland. Was soll da so besonderes dran sein? Exotisch ist es bestimmt nicht.

Dritte Woche: Analytisch vorangehen. Nur keine Panik. Worin unterscheide ich mich? Was ist in meinem Leben als Christin hier in Deutschland anders als in Serbien?

  • Fasten: Die Orthodoxen fasten streng. Während der Fastenzeit isst man keine tierischen Produkte, also auch keine Milch, keinen Käse, keine Eier. Aber ich war noch nie besonders diszipliniert im Fasten. In Serbien war ich ständig „blank“ und musste häufig „Zwangsfasten“, weil ich kein Geld für Fleisch und Delikatessen ausgeben konnte. Und hier kann ich dem Geruch von frisch gebratenen Nürnberger Würstchen und heißem Glühwein auf dem Christkindlmarkt einfach nicht widerstehen. Die Glühweinsaison fängt in meinem Wohnheim bereits im Oktober an und dauert bis Februar. Ist eine Tradition geworden. Schlechte Voraussetzungen fürs Fasten.

  • Ikonen: Ich bin Ikonenmalerin. Dies ist ein Nachteil, denn ich habe keine eigenen Ikonen, weil ich sie an meine Freunde verschenke. Eine Christus-Ikone aus dem Sinai-Kloster für die Hochzeit von Susanne (eine ökumenische Trauung), die Auferstehung Christi für die Hochzeit von Simon (eine evangelische Trauung). Die anderen stehen bereits auf der Warteliste. In den nächsten paar Jahren werde ich bestimmt immer noch keine eigene Ikone haben, es gibt zu viele Anlässe, meine Werke zu verschenken.

  • Unisone Musik: Ich kann nicht singen. Als ich die Kirchenmusikprüfung ablegen musste, haben mir meine Schwestern Kopfhörer besorgt und mich aus der Wohnung in den Park geschickt: „Nur nicht singen! Und nicht vor uns!“, sagten sie empört über mein musikalisches Talent. In Serbien hörte ich „Rage against the Machine“, aus verständlicher Wut gegen das System. Hier wechselte ich zu „weicheren“ Rhythmen. Inzwischen bin ich Fan von den „Ärzten“ geworden.

  • Kirche: Die nächste Kirche ist in Nürnberg. Ich gehe dort in die russische Kirche. Böse Blicke, weil ich kein Kopftuch oder langes Kleid trage und irgendwie nicht in deren Bild einer „braven Gläubigen“ passe, allein auf Grund meines Äußeren. Solche Kritik schlicht zu ignorieren, habe ich bereits in Serbien gelernt. „Lippenstift in der Kirche?“, sagen ständig entsetzte Omas. „Lipfinity, geht nicht mehr weg“, antworte ich triumphierend. – Nach fünf Jahren Studium ist die evangelische Kirche meine zweite geistliche Heimat geworden. Ich gehe in beiden Kirchen.

  • Gender: Mein erster Gottesdienst in der evangelischen Kirche, Erntedankfest. Eine Pfarrerin hat ihn gehalten. Mein Deutsch war nicht so gut, und ich habe nicht viel verstanden. Dies war anders, ist aber eher ein kultureller „Schock“ für mich gewesen. Nach fünf Jahren in Deutschland ist der Frauenklerus ein Teil meines Alltags. Meine beste Freundin in Deutschland, Martina, wird evangelische Pfarrerin. Zuerst haben wir davon geschwärmt, dass sie auf meiner Hochzeit die Trauung vornehmen wird. Jetzt haben wir vereinbart, dass sie das Amt der Trauzeugin übernimmt. Die Betreuerin meiner Dissertation ist Kandidatin für ein Bischofsamt.

  • Kommunion: Martina, Susanne und Maja, meine (evangelischen) Freundinnen, können in meiner Kirche nicht an der Kommunion teilnehmen. Eine Einladung an alle gläubigen Christen haben wir nicht. Das ist mein größter ökumenischer Schmerz.

Vierte Woche: Der Abgabetermin nähert sich. Und ich habe nichts gefunden, worin ich mich von meinen Freunden (aller Konfessionen) unterscheide. Was ist dieser Unterschied? „Bin ich anders?“, frage ich meinen (katholischen) Freund. Er nimmt mich in den Arm und küsst mich. Das ist auch nicht anders.

Szenenwechsel: Ich frage eine andere Orthodoxe in meinem Wohnheim. Anahit (orientalisch-orthodox): „Du kannst über unterschiedliche orthodoxe Kirchen schreiben.“ „Aber es soll kein wissenschaftlicher Aufsatz sein“, antworte ich. „Oh, dann weiß ich auch nicht – schwierig. Ich bemerke keine Unterschiede in meinem Alltag“, zuckt sie ratlos mit den Schultern.

Ich frage meine Mutter: „Mama, du wohnst ja hier schon über 40 Jahre. Was ist bei dir als orthodoxe Christin anders?“ „Das fragt mich hier keiner. Die meisten fragen mich lediglich, woher ich komme. Und ich sage immer, dass ich aus einem kleinen montenegrinischen Dorf komme. Aber meine Heimat ist dort, wo ich bin“, sagt sie. „In der Firma gratulieren mir die Mitarbeiter zu Ostern und zu Weihnachten. Klar nicht an dem Tag, an dem es eigentlich bei uns gefeiert wird. Aber woher sollen die denn wissen, wann unsere Feiertage sind. Hauptsache, wir gratulieren uns gegenseitig zu den Feiertagen“, erzählt sie weiter. Sie lacht: „Weihnachts- und Osterschmuck bekomme ich immer zu Schnäppchenpreisen. Denn unsere Feiertage kommen immer etwas später.“ „Papa, was ist bei dir anders?“, frage ich weiter. „Ich zahle keine Kirchensteuer“, antwortet er.

Zweifel: Soll ich dieses Thema aufgeben? Einfach ehrlich sagen, dass es nichts Besonderes in meinen Leben als orthodoxe Christin in Deutschland gibt. Hier fragt keiner nach der Konfession und es ist doch letztendlich ganz egal.

Zurück zum Thema: Orthodox und in Deutschland. Eigentlich bin ich durch Deutschland (orthodoxe) Christin geworden. Ich bin in Deutschland, in Bayern geboren. Wenn meine Eltern bei der Arbeit waren, hat auf mich „die Oma“ aufgepasst. Sie hieß Anna Tatzel, und ich nannte sie meine Oma. Welche Konfession sie hatte, weiß ich nicht. Sie hat mir Deutsch beigebracht. Und durch sie hatte ich meine erste Begegnung mit dem Christentum. Sie las mir die biblischen Geschichten vor und betete mit mir, bevor ich einschlief. Ich erinnere mich an das Vaterunser. Und ich fühlte mich sicher. Meine Eltern hatten mir nie Geschichten erzählt. Sie hatten keine Zeit dafür. Die „Tante“ (Zeugin Jehovas), die nach Omas Tod auf mich aufpasste, hat mir bunte Bücher mit Bibelgeschichten und Puzzles mit biblischen Motiven geschenkt. Meine Eltern kauften keine Kinderbücher. Die Familie war zu groß, und sie mussten sich auch um die Familie in Exjugoslawien kümmern.

Ortswechsel: Durch das ganze Schulsystem in Serbien habe ich nichts von der Kirche gehört oder gelernt, es sei denn, dass Kirche etwas Finsteres und Mittelalterliches ist. Vor den wenigen Priestern auf der Straße haben wir uns als Kinder versteckt und fest an den Knöpfen gehalten, denn Priester bringen Unglück, so der kommunistische Aberglaube.

Erst mit 16 Jahre hatte ich erste Kontakte mit der Orthodoxie. Ich wurde zwar als Kind getauft, aber meine Eltern taten das wegen der Kirchensteuer. Mein bester Freund aus der Grundschule hat sich im Priesterseminar eingeschrieben. Das war damals ein Skandal. Durch ihn habe ich die Orthodoxie kennen gelernt – und dass „wir“ das Vaterunser auch haben. Später wurde das Christentum für mich der einzige Fluchtweg aus dem damals großen Gefängnis: Serbien.

Fünfte Woche: Ein wichtiger Unterschied: Vielfalt. An der evangelischen Fakultät gibt es auch reformierte, evangelikale und orthodoxe Studenten. Zusätzlich gab es unterschiedliche konfessionsspezifische Lehrstühle. So habe ich am reformierten Lehrstuhl vor fünf Jahren voller Enthusiasmus über Schleiermacher gelernt. Genauer gesagt versucht zu lernen. Weil mein Deutsch damals schlecht war, kapitulierte ich vor seinen „Eineinhalb-Seiten-Sätzen“. In der Zwischenzeit ist mein Deutsch viel besser. Ich lerne hier viel, denn die Wissensressourcen sind immens. Hier bin ich mündige Christin geworden.

Ein weiterer Unterschied: Demokratie. Hier stehe ich als Christin nicht unter dem Verdacht, „kleronationalistisch, finster“ usw. zu sein. Hier sind die Christen die „überzeugtesten Verteidiger der Demokratie“ (Wolfgang Huber). In Serbien fehlt es an politischer Bildung. Hier ist die Kirche in der Öffentlichkeit. In Serbien wird jede öffentliche Tätigkeit der Kirche als „Klerikalisierung der Gesellschaft“ gebrandmarkt. Hier ist pluralistische Demokratie. In Serbien lebt eine polarisierte Gesellschaft in ständigem „Todeskampf“ mit erdachten Feinden.

Hier ist für mich die volle Freiheit eines Christenmenschen möglich. Aber das hängt von der politischen Ordnung und der politischen Kultur einer Gesellschaft und nicht von der Konfession ab (Robert Kagan).

Sechste Woche: Krisensitzung des „Frauenrates“. Zum ersten Mal wurde die Krisensitzung nicht wegen Jungs und Beziehungsleiden einberufen. Aber die üblichen Hilfsmittel (Wein, Knabberzeug) sind vorbereitet. „Worin unterscheide ich mich als orthodoxe Christin?“, frage ich verzweifelt meine Freundinnen. „Strenges Fasten, Weihrauch und Herzensgebet – das ist typisch orthodox. Schreib doch etwas darüber“, sagt Martina (evangelische Theologin), schaut mich an und beginnt zu lachen, denn diese Stereotypen über Orthodoxe kann sie wenig mit mir verbinden. „Ikonen kannst du malen, das unterscheidet dich praktisch von uns“, ergänzt sie. „Kannst doch schreiben, wie du an Weihnachten bei uns warst. Mit vollem Programm: Abendessen, Geschenke, Kirche, meine Familie“, sagt Susanne (Juristin). „Oder darüber, wie wir trotz der konfessionellen Unterschiede ein gemeinsames soziales Leben haben. Wir heiraten einander sogar“, lächelt sie und denkt an ihren Mann Tobias (katholisch). „Aber was haben wir getan, um die Orthodoxie kennen zu lernen? Wir Deutsche interessieren uns für andere Länder und Kulturen nur als Urlaubsziele. Ah ja, auch für das Essen“, sagt sie etwas resigniert. „Das stimmt aber nicht, ich ‚musste’ diese Balkanseminare besuchen und eine Hausarbeit über Religionsgemeinschaften im früheren Jugoslawien schreiben“, erwidert Martina. „Es war sehr dobro [gut]“, sagt sie auf Serbisch und fährt stolz fort: „Und ich habe an einer Konferenz über die Kirche in Serbien teilgenommen.“ „Wir feiern doch immer zweimal die Feiertage: zweimal Weihnachten, zwei Mal Silvester, zweimal Ostern, darüber kannst du schreiben“, sagt Maja (aus Kasachstan, evangelisch). „In Ordnung, Girls, ich sehe keine Unterschiede, wir haben die ökumenische Frage hier längst gelöst“, lächelt Susanne und stößt an.