Strukturwandel in (Ost-)Europas ländlichen Regionen

Dr. Judith Möllers ist Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa (IAMO) in Halle, Prof. Dr. Thomas Glauben ist der geschäftsführende Direktor des Instituts.

Zusammenfassung

Auch wenn die ländlichen Räume in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sehr vielgestaltig sind, lassen sich doch bestimmte gemeinsame Grundmuster aufzeigen. Der Beitrag bietet einen Überblick über die Phasen des Strukturwandels, den damit verbundenen demografischen Umbruch und die Veränderungen der Betriebsformen. Trotz mancher Unwägbarkeiten bietet die Integration in die EU Chancen für eine gedeihliche Entwicklung.

Einführung

Ländlicher Wandel ist ein Phänomen, das weltweit beobachtet werden kann. Auch in Europa sind bestimmte Entwicklungen in den meisten Regionen Ost- und Westeuropas sichtbar (wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen). Wir betrachten diese Entwicklungen und setzen ein besonderes Augenmerk auf Osteuropa, wo in den vergangenen zwanzig Jahren der Transformationsprozess zu besonders rasanten Veränderungen geführt hat. Zunächst kann man fragen, warum der ländliche Raum überhaupt einer eigenen Betrachtung wert ist. Sind es nicht zunehmend die städtischen Regionen, die die europäischen Gesellschaften prägen und vorantreiben? Zum einen ist es nach wie vor die schiere Flächenausdehnung, die dem ländlichen Raum Gewicht verleiht: Ländliche Regionen machen 91 Prozent der Fläche der Europäischen Union (EU) aus. Fast 60 Prozent der Bevölkerung der 27 Mitgliedstaaten (EU 27) (davon 10 osteuropäische Nationen) leben dort. Auch wenn die Wirtschaftskraft in städtischen Regionen meist höher ist, stammen 48 Prozent der Bruttowertschöpfung der EU 27 aus ländlichen Regionen, der Anteil an der Beschäftigung ist sogar noch etwas höher (56 Prozent).

Ländliche Räume erfüllen zudem verschiedene, einzigartige Funktionen. So haben sie bekanntermaßen eine zentrale Bedeutung in der Produktion von Nahrungsmitteln und anderen Produkten aus der Land- und Forstwirtschaft; sie sind folglich agrarisch geprägt. Zudem weisen sie besondere sozioökonomische und kulturelle Funktionen auf. Dazu zählt etwa ihr hohes Erholungswert und ihr Potenzial zur Erhaltung kultureller Besonderheiten und Traditionen. Nicht zuletzt stellen sie Lebensraum für die Pflanzen- und Tierwelt zur Verfügung und tragen zur Sicherung natürlicher Lebensgrundlagen (Wasser, Boden, Luft) bei; sie sind somit von enormer Bedeutung für die Umwelt.1

Dennoch werden ländliche Regionen hauptsächlich mit ihren Problemen assoziiert. Dazu gehören beispielsweise ihre „Rückständigkeit“, typische demografische Anpassungsprozesse, die vergleichsweise höheren Armutsraten und die mangelnde Konvergenz, also die fehlende Annäherung meist peripherer Regionen mit Entwicklungsrückstand an dynamische Kernregionen. Unter anderem weil die Globalisierung und die europäische Integration zu einer engeren Verzahnung der ökonomischen und sozialen Beziehungen zwischen den Städten und Regionen geführt haben, hat der Druck hin zu einer Angleichung von ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen zugenommen. Die ländliche Gesellschaft sieht sich also in einem fortwährenden Aufholprozess.

Die osteuropäischen Nationen mussten in den 20 Jahren nach dem Fall des eisernen Vorhangs eine äußerst starke Umgestaltung verkraften. Die Transformation der Volkswirtschaften in marktwirtschaftliche Systeme betraf insgesamt 30 Länder und rund 400 Millionen Menschen. In allen Transformationsländern hatten sowohl Industrie als auch Landwirtschaft unter starken Produktionseinbrüchen zu leiden. Insbesondere der landwirtschaftliche Sektor hatte mit Ineffizienzen und teilweise dem kompletten Zusammenbruch der Wertschöpfungsketten zu kämpfen. Von der generell positiven gesamtwirtschaftlichen Entwicklungstendenz in den letzten Jahren profitierten viele ländliche Regionen nur unterdurchschnittlich.

Eine Reihe typischer Entwicklungen, die den ländlichen Wandel auszeichnen, gelten sowohl für West- als auch (oft in verstärktem Maße) für die Transformationsökonomien Osteuropas. Sie werden von der OECD als Teufelskreis beschrieben:2 Geringe Bevölkerungsdichten in ländlichen Räumen haben eine fehlende kritische Masse zur Folge. Es mangelt nicht nur an Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt, sondern oft an grundlegender Infrastruktur, was wiederum ein ungünstiges Wirtschaftsklima bereitet. Die geringen Arbeitsmöglichkeiten führen tendenziell zur Abwanderung der jüngeren und höher qualifizierten Arbeitskräfte und damit zu weiterer Abnahme sowie Überalterung der Bevölkerung. Dennoch wäre es falsch, ländlich einfach mit „Niedergang“ gleichzusetzen. Diese einfache Schlussfolgerung verbietet sich, weil die ländlichen Räume Europas zu viele Facetten haben und somit auch jeweils einzigartige Möglichkeiten und Schwierigkeiten. Dennoch greifen wir im Folgenden einige der genannten Entwicklungen auf und ziehen Schlussfolgerungen für die Entwicklungen in den ländlichen Räumen.

Demografischer Wandel

Der demografische Wandel ist ein Risiko für die Entwicklung ländlicher Räume. Während wir uns global einer Bevölkerungsexplosion gegenüber sehen, ist in den ländlichen Gebieten Europas regionale Schrumpfung die Realität. Zwei Prozesse verursachen diese Situation: einerseits geringe Geburtenraten und Überalterung der Gesellschaft, andererseits Abwanderung aus dem ländlichen Raum. In Osteuropa sanken die Bevölkerungszahlen seit 1990 aufgrund sinkender Geburtenraten und negativer Migrationsbilanzen zum Teil stark. Fast in der Hälfte aller osteuropäischen Regionen der EU kommen beide Tendenzen zusammen, also Abwanderung und Überalterung. Von Überalterung besonders betroffen sind Bulgarien und Süd-Rumänien.3 Im Extremfall verbleibt in manchen ländlichen Regionen nur noch eine „Residualbevölkerung“. Dieser Verlust einer kritischen Masse an Menschen, die die Entwicklung ihrer Region noch in die Hand nehmen könnten, ist die bedrohlichste Wirkung des demografischen Wandels für die betroffenen Regionen.

Die Agrarwirtschaft ist von Abwanderung insofern doppelt betroffen, als sie nicht nur in ländlichen Räumen angesiedelt ist, sondern auch unter überdurchschnittlichem sektoralem Schwund leidet. Bevor wir hierauf eingehen, soll ein kurzer Überblick über einige Indikatoren zur Betriebsstruktur und der wirtschaftlichen Bedeutung des Agrarsektors gegeben werden.

Die Rolle der Landwirtschaft und der Agrar(betriebs)strukturwandel

Im ländlichen Raum – West wie Ost – spielt die Agrarwirtschaft nach wie vor eine zwar abnehmende, aber fraglos prägende Rolle. Insbesondere in Osteuropa sind vor allem die Beschäftigungseffekte weiterhin vergleichsweise hoch. Im Verlauf der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung nimmt der Beitrag der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt (BIP) und am Anteil der Beschäftigung ab. Innerhalb der EU verfügen nur noch zwei Länder, Bulgarien und Rumänien, über einen BIP-Anteil von über 5 Prozent. In Südosteuropa gibt es hingegen Länder wie Albanien, die weiterhin bis zu 20 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung aus der Landwirtschaft beziehen. Hohe Beschäftigtenanteile weisen in der EU Rumänien auf (fast 30 Prozent), doch auch Griechenland und Portugal beschäftigen immer noch mehr als 10 Prozent ihrer Bevölkerung in der Landwirtschaft. In Südosteuropa sind Beschäftigungsanteile von 20 Prozent keine Seltenheit.

Die Agrarstruktur unterscheidet sich zwischen Ländern und Regionen innerhalb Europas durchaus stark. Dennoch kann man sagen, dass der ländliche Raum Europas durch familienbetriebliche landwirtschaftliche Strukturen geprägt ist. Dies gilt nicht nur für Westeuropa, sondern auch für die meisten osteuropäischen Länder. Dort zeigt sich allerdings oft ein Nebeneinander von großen Betrieben, die aus der Privatisierung und Umstrukturierung der ehemaligen Kollektiv- und Staatsbetriebe hervorgingen, und mittleren und kleinen Familienbetrieben – eine so genannte duale Struktur.4 Ein Ergebnis der Restrukturierung nach dem Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks ist weiterhin die Vielzahl von Kleinstbetrieben. Sie zeichnen sich neben ihrer geringen Größe vor allem durch ihre Produktion für den Eigenkonsum aus, d. h. sie sind oft kaum an die Märkte angeschlossen. Solche Betriebe gibt es eigentlich in allen europäischen Transformationsökonomien, etwa auch in Russland in Form der so genannten Hauswirtschaften. Anfangs sah man diese so genannten Subsistenz- und Semisubsistenzbetriebe eher als ein Übergangsphänomen an, das durch die Kräfte der freien Marktwirtschaft von selbst verschwinden würde. Dies bewahrheitete sich nicht, und inzwischen nimmt sich auch die „Gemeinsame Agrarpolitik“ der EU der besonderen Bedürfnisse dieser Betriebe an.

Allein die Zahl der kleinsten Einheiten mit einer Betriebsgröße von weniger als 1 ESU5 entspricht mit über sechs Millionen Betrieben in etwa einem Viertel aller Landwirtschaftsbetriebe in der EU. Zwar tragen sie nur mit weniger als 2 Prozent zur Gesamtleistung der Agrarbetriebe bei, jedoch arbeiten dort immerhin 40 Prozent der in der europäischen Landwirtschaft Beschäftigten, mehr als zehn Millionen Menschen. In Polen stieg der Anteil der Betriebe von unter 4 ESU zwischen 2003 und 2007 sogar leicht von 79 Prozent auf 80,5 Prozent. Auch in Rumänien blieb ihre Zahl mit 98 Prozent auf dem extrem hohen Niveau von 2003. Insgesamt kann zwar von einem leichten Anstieg der Betriebsgrößen ausgegangen werden, während jedoch gleichzeitig die Zahl der Betriebe nur sehr wenig abnahm. Dieser geringe Rückgang liegt unter anderem daran, dass die Subsistenzlandwirtschaft als Puffer wirkte – in der turbulenten Anfangsphase der Transformation, aber auch bis heute bleibt diese Wirtschaftsform oft die einzige Absicherung der ländlichen Familien vor wirtschaftlichen Unwägbarkeiten. Für den Agrarsektor selbst wird dadurch allerdings das Potenzial untergraben, sich als vollständig dynamischer Sektor zu bewähren. Zum einen wird den wachstumswilligen Betrieben der Zugang zu mehr Fläche erschwert. Zum anderen ist die Arbeitsproduktivität oft unbefriedigend, unter anderem weil „versteckte Arbeitslosigkeit“ weitverbreitet ist, aber auch deshalb, weil es einfach an Kenntnissen und Erfahrungen fehlt: Viele Landbewohner in Osteuropa waren zu sozialistischen Zeiten in der Industrie beschäftigt und wurden erst, als ihre Arbeitsplätze wegfielen, Landwirte.

Der Arbeitsmarkt im ländlichen Strukturwandel

Für die ländliche Entwicklung ist ein funktionierender Arbeitsmarkt entscheidend. Die Landwirtschaft spielt eine wichtige Rolle auch für den außerlandwirtschaftlichen Arbeitsmarkt, da sie im Zuge der Wirtschaftsentwicklung Arbeitskräfte freisetzt. Der Transformationsprozess kann dabei in zwei Richtungen wirken.

Einerseits kann man erwarten, dass die weit verbreitete „verdeckte Arbeitslosigkeit“ durch die Freisetzung gering Beschäftigter abgebaut wird. Andererseits hat sich, wie bereits erwähnt, gezeigt, dass die Landwirtschaft eine Pufferrolle übernimmt und somit im Gegenteil Arbeitskräfte im Sektor hält oder sogar anzieht. In unsicheren Zeiten und bei hoher Arbeitslosigkeit ist diese Wirkrichtung besonders zu erwarten; gut belegt ist dieser Effekt z. B. für Russland und Rumänien. Angetrieben vor allem von Lohndifferenzen geht der Trend jedoch in allen europäischen Ländern zu einer sektoralen Abwanderung.

Ohne die besondere Bedeutung der Landwirtschaft für den ländlichen Raum infrage zu stellen, muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass es letztlich der außerlandwirtschaftliche Sektor ist, der die Schlüsselrolle für die zukünftige Entwicklung spielt. Nur wenn der ländliche Wirtschaftsraum in der Lage ist, Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft aufzunehmen und entsprechend alternative Beschäftigung zu bieten, kann der ländliche Strukturwandel erfolgreich gelingen.

Zwischen städtischen und ländlichen Regionen besteht ein erhebliches und in der Tendenz zunehmendes Erwerbsquotengefälle (65 Prozent versus 60 Prozent). Speziell der private Dienstleistungssektor ist in ländlichen Regionen zu schwach entwickelt. Dennoch ist in einigen ländlichen Gebieten, vor allem den stadtnäheren, eine sehr positive Beschäftigungsentwicklung zu verzeichnen. Höhere Arbeitslosenraten und geringere Bildung in ländlichen Gebieten sind die Regel. Dazu kommt, dass allein in der EU bis zu 5 Millionen Menschen von der erwähnten „verdeckten Arbeitslosigkeit“ betroffen sind. Ziel muss es also sein, eine zunehmend wissensbasierte ländliche Gesellschaft zu entwickeln, die sich in den regionalen städtischen Arbeitsmarkt integriert. Dies wird auch durch die Regionalpolitik der EU verfolgt, die den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt innerhalb der EU zu stärken versucht.

Zunehmende Disparitäten, ländliche Armut und Verteilungsprobleme

De facto besteht ein erhebliches Strukturgefälle zwischen einzelnen Regionen. Wie zu erwarten, sind es oft (aber nicht immer) ländliche Regionen, die zurückbleiben. Auch hier sind die osteuropäischen Transformationsländer erwartungsgemäß stärker betroffen. Der Transformationsprozess hat dort zu erheblichen Verschiebungen in der Einkommensverteilung und zu einem regionalen Auseinanderdriften im Hinblick auf die Höhe der Einkommen geführt.

Neben dem mitunter drastischen Einbruch der Produktion in den ersten Jahren der Transformation ist die zunehmend ungleichmäßige Verteilung der geschrumpften Volkseinkommen die Ursache für die rasche und weite Verbreitung von Armut. Dass die Einkommen beim Übergang zur Marktwirtschaft weniger „gerecht" verteilt würden, war angesichts der vergleichsweise egalitären Ausgangssituation zu erwarten und bis zu einem gewissen Grade auch erwünscht. In einigen Ländern haben sich aber innerhalb weniger Jahre Verteilungsmuster herausgebildet, die südamerikanischen Verhältnissen entsprechen; so ist beispielsweise der Gini-Koeffizient6 in Armenien von 0,27 (1987-1990) auf 0,59 (1996-1999) heraufgeschnellt. Tendenziell scheinen die Einkommen umso ungleicher verteilt zu sein, je zögerlicher und bruchstückhafter die Strukturreformen angegangen worden sind und je stärker ein Land von Korruption betroffen ist. Zudem sind die ehemals flächendeckend funktionierenden sozialen Sicherungssysteme weitgehend zusammengebrochen. In Mitteleuropa hat die Ungleichheit in der Einkommensverteilung vergleichsweise wenig zugenommen. So erhöhte sich der Gini-Index beispielsweise im ersten Jahrzehnt der Transformation in Ungarn lediglich von 0,21 auf 0,25. In Rumänien stieg er hingegen von 0,23 auf 0,30 und in Bulgarien sogar von 0,23 auf 0,41. In Südosteuropa stellt sich die Situation somit deutlich gravierender dar.

Große Unterschiede lassen sich auch im Vergleich zwischen Stadt und Land aufzeigen. In Osteuropa liegen die Armutsraten in ländlichen Regionen um bis zu dreimal höher als in städtischen Regionen. Als Beispiel sei Rumänien genannt, wo die Armut im Jahr 2006 in ländlichen Regionen über 20 Prozent betrug, in städtischen jedoch nur rund 8 Prozent. Einen Überblick über einige besonders betroffene südosteuropäische Staaten außerhalb der EU vermittelt die nachstehende Tabelle. Die hier verwendete Armutsschwelle liegt bei einem für Transformationsländer üblichen Wert von 4,30 PPP US-Dollar7.

Quelle: Julian A. Lampietti (u. a.): The Changing Face of Rural Space – Agriculture and Rural Development in the Western Balkans. Washington 2009 (basierend auf Daten der Weltbank-Datenbank 2008).

Für die stärkere Ausprägung der Armut auf dem Land gegenüber der Stadt lassen sind vielfältige Gründe anführen. So sind die Menschen in ländlichen Räumen in der Regel vergleichsweise älter und weniger gebildet als in der Stadt. Auch die Distanzen zu den westeuropäischen Märkten und, wie bereits angedeutet, das Fehlen außerlandwirtschaftlicher Beschäftigungsmöglichkeiten und hohe Arbeitslosigkeit verstärken ländliche Armut; in manchen Ländern sind deshalb Rücksendungen von im Ausland arbeitenden Migranten eine lebenswichtige Einkommensquelle für arme ländliche Haushalte. Auch wenn vielerorts die Armut inzwischen eher wieder rückläufig ist, hat in Osteuropa der Zusammenbruch der Sozialsysteme dazu geführt, dass – trotz einer spürbaren wirtschaftlichen Erholung – bis heute die Zufriedenheit mit der Lebenssituation vergleichsweise niedrig ist.

Ausblick

Ländliche Regionen in Europa sehen sich also einem Wandel gegenüber, der viele Risiken birgt. Die Strukturschwäche, die sich im landwirtschaftlichen Sektor, aber auch in den nicht-landwirtschaftlichen ländlichen Arbeitsmärkten zeigt, könnte in Verbindung mit der Spirale der Überalterung und Abwanderung schnell dazu führen, dass ganze Landstriche von der allgemeinen Entwicklung entkoppelt werden. Das vor allem in Südosteuropa bestehende Armutsproblem würde dadurch strukturell verfestigt. Gerade demografische Entwicklungen können, wenn sie weit fortschreiten, unumkehrbar werden. Diese Achillesferse der ländlichen Entwicklung gilt es im Blick zu behalten.

Nun stellt sich die Frage, ob und wie die diskutierten Trends zu lenken sind. Wichtig wäre es zunächst, dass ländliche Regionen zum Teil einer Lösung werden, statt vornehmlich als Problem angesehen zu werden: Chancen und nicht Probleme sollten in den Vordergrund gerückt werden. Diese Chancen liegen unter anderem für viele Länder in der möglichen oder schon vollzogenen Einbindung in die EU oder, generell gesprochen, in der Erschließung neuer Märkte, einer erfolgreichen Umstrukturierung der Landwirtschaft und in der Nutzung des außerlandwirtschaftlichen Wirtschaftspotenzials.

Die Rolle einer ländlichen Entwicklungspolitik besteht darin, den Regionen die Möglichkeit zu geben, ihre Chancen zu ergreifen. In der EU gibt es eine solche Politik für den ländlichen Raum explizit erst seit der so genannten „Agenda 2000“. Auch die OECD postuliert, dass ein „neues ländliches Paradigma“ sich nicht länger allein auf den Agrarsektor konzentrieren dürfe, sondern territorial (place-based) ausgerichtet sein muss. Visionen für die Zukunft der ländlichen Regionen werden also auf regionaler und lokaler Ebene entwickelt. Der Blick muss weg von den Schwächen gehen und hin zu den Stärken einer Region, es muss strategisch investiert statt subventioniert werden. Eine erfolgreiche ländliche Entwicklungspolitik, die ländlichen Strukturwandel fördert, Institutionen stärkt und speziell den (außerlandwirtschaftlichen) Arbeitsmarkt in den Blick nimmt, hat das Potenzial, Menschen in einer Region zu halten oder sogar dorthin zu locken. Konkret geht es also zum Beispiel um Infrastrukturmaßnahmen, Bildung, funktionierende Gesundheits- und Sozialsysteme und ein wirtschaftsfreundliches Investitionsklima. Beratungs- und nicht selten auch Finanzierungsangebote fehlen nicht nur im Agrarbereich, sondern oft auch für Gründer kleiner Unternehmen. In vielen Transformationsländern sind Schwächen im institutionellen Bereich besonders ausgeprägt. So wird die mit territorialen Politikansätzen verbundene Regionalisierung schnell infrage gestellt, wenn Regionen sich außerstande sehen, in einem dezentralisierten System selbstverantwortlich und erfolgreich den Wandel voranzutreiben. Auch hier ergeben sich Ansatzpunkte für die Politik, mit der Einführung und Förderung sogenannter „new modes of governance“, also neuen Wegen in der Koordination von Entscheidungsmechanismen und Regierungsführung, Weichen zu stellen. Eine kritische offene Frage bleibt es, auf welcher Basis (öffentliche) Investitionsentscheidungen getroffen werden sollen, da territoriale Ansätze per Definition selektiv sind. Auch mag es Regionen geben, deren demografische Entwicklung nicht mehr umkehrbar ist und die deshalb auch durch eine integrierte regionale Entwicklungspolitik kaum noch zu erreichen sind.

Zumindest in der EU – das sei abschließend festgehalten – wurden erste Schritte gemacht wurden, um die komplexen Probleme ländlicher Räume anzugehen. Um aber den Teufelskreis zu durchbrechen, muss das brach liegende Potenzial der ländlichen Regionen konsequent genutzt werden. Um dem territorialen Ansatz gerecht zu werden, sollten die Fördermittel für den ländlichen Raum unter einem Dach vereinigt und entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen regional vergeben werden.


Fußnoten:


  1. Siehe z. B. Doris Schmied (Hrsg.): Winning and Losing: The Changing Geography of Europe's Rural Area. Ashgate 2005. ↩︎

  2. Vgl. OECD (Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung): Das neue Paradigma für den ländlichen Raum (OECD-Berichte über die Politik für den ländlichen Raum). Paris 2006. ↩︎

  3. Sabine Baum: A Typology of Rural Areas in the new Member States. Deliverable 3.3 of the FP6 project SCARLED, www.scarled.eu. (2006). ↩︎

  4. Typische Beispiele dafür sind innerhalb der EU Tschechien und die Slowakei. Einzelbäuerliche Betriebe dominieren in den Transformationsökonomien des Baltikums, in Polen und auf dem Balkan. Russland, die Ukraine, Moldau, Belarus oder auch Deutschlands Osten sind Beispiele für Regionen mit starker Dominanz großer Betriebe in Form von Kapitalgesellschaften. ↩︎

  5. ESU ist die Abkürzung für die europäische Betriebsgrößeneinheit (European size unit). Ein ESU entspricht einem Standarddeckungsbeitrag von 1.200 Euro; damit kann die wirtschaftliche Bedeutung eines Betriebs (die nicht seiner Fläche entspricht) gemessen werden. ↩︎

  6. Darunter ist ein von dem italienischen Soziologen Corrado Gini entwickelter Verteilungsindex zu verstehen, der zwischen Werten von 0 bis 1 variiert; 0 steht für eine perfekte Gleichverteilung der Einkommen, 1 für die maximale Ungleichverteilung. Je höher also der Gini-Koeffizient ist, desto ungleicher sind die Einkommen verteilt. Gini-Werte zwischen 0,25 und 0,35 gelten als „vernünftig“. Werte über 0,5 deuten auf eine sehr unausgewogene Einkommensverteilung hin. ↩︎

  7. PPP steht für den englischen Ausdruck „Purchasing Power Parities“, also für so genannte Kaufkraftparitäten. Unterschiede in den Preisniveaus zwischen Ländern werden durch fiktive Wechselkurse herausgerechnet, um einen sinnvollen Ländervergleich zu ermöglichen. Die Paritäten werden auf Basis von für das jeweilige Land repräsentativen Warenkörben festgelegt. ↩︎