Zehn Stimmen zur Frage „Wie beurteilen Sie die Situation Europas angesichts der Säkularisierung?“

(Umfrage)
aus OWEP 1/2007  •  von  OWEP-Redaktion

Das Schwerpunktthema lässt sich angesichts der Fülle der damit verbundenen Fragen nicht erschöpfend darstellen. Die Redaktion hat daher eine kleine Umfrage unter Fachleuten aus Kirche, Literatur, Politik und Wissenschaft durchgeführt. Sie sollten auf die nachstehend angeführte Leitfrage kurz eingehen: „Wie beurteilen Sie die Situation Europas angesichts der Säkularisierung?“

Riho Altnurme

Prof. Dr. Riho Altnurme ist Kirchenhistoriker und Dekan der Theologischen Fakultät Tartu (Estland).

Die Situation in Europa angesichts der Säkularisierung ist von Land zu Land unterschiedlich. Irland, Polen und Rumänien sind mit Sicherheit anders zu sehen als Schweden, Frankreich und Estland. Überwiegend ist doch eine schnelle Säkularisierung in dem Sinne zu beobachten, dass die Religion aus dem öffentlichen Leben verdrängt worden ist.

In der heutigen Zeit kann die Säkularisierung auch positiv gesehen werden. Das Ausbleiben einer dominierenden Religion lässt die verschiedenen in Europa handelnden Religionen (oder Konfessionen) sich gleichwertig mit den anderen fühlen. Natürlich gibt es in der Wirklichkeit doch Unterschiede, aber die offizielle Säkularität verringert für extreme Religionsbewegungen die Möglichkeiten, für sich einen ähnlichen Status anzustreben, wie ihn manche bevorzugte Großreligionen haben.

Andererseits besteht natürlich die Gefahr, dass man versucht, beim Ausbleiben der offiziellen Religion eine Lücke zu füllen – das ist menschlich nur zu verständlich. Im öffentlichen Leben hilft die Gesetzgebung, die Vorherrschaft einer Religion zu vermeiden. Außerdem haben in einer sich öffentlich als säkular erklärenden Gesellschaft solche Weltanschauungen bessere Entfaltungsmöglichkeiten, die säkular auftreten und darüber hinaus den Anschein einer wissenschaftlichen Fundierung vorspiegeln, in Wirklichkeit jedoch heimlich religiös sind.

In jüngster Zeit wird die Religion im öffentlichen Leben Europas wieder stärker wahrgenommen, wenigstens als Debattenthema. Dies hängt stark mit den politisch motivierten Aktivitäten des Islam außerhalb Europas zusammen. Dafür müssten die religiös geprägten Menschen in Europa dem Islam eigentlich dankbar sein.

Peter Esterhazy

Peter Esterhazy ist einer der bedeutendsten ungarischen Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt 2004 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Ich habe die Säkularisierung – beziehungsweise das, was nach der Französischen Revolution in dieser Richtung vor sich gegangen ist – als unumgänglich und notwendig angesehen, als Teil eines emanzipatorischen Vorgangs, als etwas, worüber man nicht viel nachdenken muss, wie man auch darüber nicht nachdenkt, dass die Sonne scheint oder es regnet.

Indessen war es offenkundig (musste es offenkundig sein), dass es grundsätzlich nicht problemlos ist, wenn man statt des Unendlichen eine beliebig große Zahl nimmt, und es scheint etwas Derartiges zu geschehen, wenn man „zur Ironie verurteilt“ Gott totsagt. (Der säkularisierte Staat geht freilich nicht unbedingt mit Atheismus einher, siehe die USA.)

Dieser Prozess scheint jetzt ins Stocken geraten zu sein (auch die Umfrage erscheint als eine Folge dessen), ich könnte scherzhaft (?) sagen: Die Säkularisierung ist in Gefahr. Die Verweltlichung der Welt bedeutete eine Zeitlang, dass sich die Welt selbst gefunden hatte. Wie es jetzt den Anschein hat, ist ihr das Gefundene zu wenig. Irgend etwas fehlt. Die Menschheit hat anfangs ihre eigenen Schranken und Ungewissheiten mit agnostischer Fröhlichkeit entdeckt. Nun scheint es, allzu viel davon sei ungesund. Die Welt ist immer weniger fassbar, es fällt uns immer schwerer, das Leben teleologisch zu sehen, und es scheint, als sehnten wir uns danach. Wir besitzen kein kohärentes Bild von der Welt, und es scheint, als sehnten wir uns danach.

All diese Geschehnisse vollziehen sich vor unseren Augen in zunehmend populistischer Ausprägung. Wir sagen, die Religion sei en vogue, wir sagen, der Papst ist der neue Star. (Verglichen damit kann ein Hit der siebziger Jahre, „Jesus Christ Superstar“, selbst in seiner Leere, noch als feinere „Behauptung“ gelten.) Das wäre die blasierte Richtung des Populismus. Die andere ist die fundamentalistische: Als stünden wir vor einer neuen Sachlage und untersuchten sie mit einem groben Instrumentarium, mit zu grobem Blick. Das ist nicht die glücklichste Konstellation.

Heimweh nach Gott, habe ich gelesen. Religion als Ersatzreligion, habe ich gelesen. Religionsfreudige Gottlosigkeit, habe ich gelesen.

Verstehen wir unter Säkularisierung im engeren Sinne das Verhältnis des Staates zur Kirche, so dürfte das in der westlichen Hälfte Europas keine Fragen aufwerfen. Wir hier im Osten, wir reden in dieser Sache durcheinander, vermischen die Begriffe, den Glauben mit der Religiosität, mit der Kirche, mit Gott, unsere Staatsfeindlichkeit mit unserer Staatsfreundlichkeit, die Freiheit des Einzelnen mit der Gemeinschaft.

Aus dem Ungarischen übersetzt von György Buda.

Katrin Göring-Eckardt

Katrin Göring-Eckardt MdB (Bündnis 90/Die Grünen) ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und kulturpolitische Sprecherin ihrer Fraktion.

Das Ringen um den Gottesbezug für eine Europäische Verfassung hat gezeigt, wie unterschiedlich mit dem religiösen Erbe in den einzelnen Ländern Europas umgegangen wird und wie verschieden sich das Verhältnis von Kirche und Staat jeweils darstellt.

Obwohl wir in Deutschland mit der Formulierung in unserem Grundgesetz sehr gut leben, müssen wir doch diese Verschiedenheit, bedingt durch ungleiche konfessionelle, kulturelle, soziale und politische Entwicklungen in den Ländern der Europäischen Union, zur Kenntnis nehmen und können, so meine ich, mit der Verfassungs-Präambel, wie sie nun lautet, zufrieden sein.

Zugleich hat die Diskussion gezeigt, dass es ein einheitliches christliches Abendland, das die Identität Europas ausmachen könnte, nicht gibt. Diese Vorstellung ist schon deswegen abwegig, weil europäische Traditionen zu keiner Zeit allein aus jüdisch-christlichen Quellen gespeist wurden. Verschiedene Faktoren haben die Entwicklung der kulturellen Gestalt Europas beeinflusst. Mit drei Städten auf den Punkt gebracht: Athen, Rom und Jerusalem.

Die christlichen Wurzeln sind dabei freilich nicht marginal, aber sie dürfen auch nicht überbewertet werden. Wenn wir nach dem christlichen Erbe fragen, geht es um die Frage des christlichen Beitrags zu den kulturellen Werten Europas. Christlicher Glaube selbst ist dabei keineswegs auf kulturelle Werte zu reduzieren. Er geht mit seinem Gottesbezug immer darüber hinaus. Aber die kulturellen Werte Europas stehen für sich – versehen mit einer christlichen Quellenangabe. Gleichwohl ist es sinnvoll und wichtig, diese christlichen Quellen zu kennen und auch in Zeiten zunehmender Säkularisierung daran zu erinnern. Anders können wir die kulturellen Formen, in denen sie zum Ausdruck kommen, nicht begreifen.

Christliches Erbe kommt in Europa unterschiedlich deutlich und in verschiedenen Formen zur Geltung. Stark säkularen Ländern wie Frankreich stehen beispielsweise Polen und Litauen gegenüber, wo die katholische Prägung identitätsstiftend weit in die Gesellschaft hinein wirkt. Und in den Ländern der Orthodoxie ist Religiosität beinahe untrennbar mit nationalen Gefühlen verwoben, wobei auch hier nicht zu verkennen ist, dass Säkularisierungsstendenzen längst eingesetzt haben.

Menschen dieser Länder äußern oft, sie könnten sich ein „Europa ohne Gott“ nicht vorstellen. Das müssen sie auch nicht. Denn aufgeklärte Säkularität besteht gerade darin, dass der Staat säkular ist und Raum bietet sowohl für eine Freiheit für wie für eine Freiheit von Religion. So bewahrt er die Gesellschaft davor, säkular sein zu müssen.

Ich plädiere für ein Konzept der Toleranz im Verhältnis von Kirche und Staat. Auch ein Staat, der religiös neutral ist, muss zugleich gelebte Überzeugungen und ihre gesellschaftliche Bedeutung anerkennen. Das geht weit über bloßen Laizismus hinaus.

Die unterschiedlichen Traditionen in Europa geben uns Gelegenheit, voneinander zu lernen, wie es gelingt, die prägende Werterhaltung des Christlichen zur Sprache zu bringen, ohne jedoch dabei indoktrinär zu wirken.

Nedžad Grabus

Nedžad Grabus ist Oberhaupt (Mufti) der muslimischen Glaubensgemeinschaft in Slowenien.

Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Säkularisierung und besonders von Islam und Säkularisierung beschäftigt immer mehr Forscher. Diese Frage ist besonders in westlichen, liberalen und säkularen Gesellschaften von Bedeutung, in denen Religion kein Tabuthema ist, und vor allem in Gesellschaften, in denen Religion nicht den wichtigsten Faktor in den gesellschaftlichen Beziehungen darstellt. Obwohl das Christentum in vielen europäischen Ländern entweder die staatliche oder eine privilegierte Religion ist, basieren die westlichen Rechts- und Gesellschaftssysteme nicht primär auf religiösen Ideen und Werten. Die Mehrheit der im westlichen Kulturmilieu lebenden Muslime kommt aus Ländern, in denen die Religion in alle Lebenssegmente eingewoben ist und primären Einfluss auf viele gesellschaftliche Abläufe nimmt. Dies ist einer der Gründe für viele Missverständnisse oder verschiedene Interpretationen dieser Frage innerhalb des europäischen Kulturkreises.

Die Welt, in der Muslime die Mehrheit bilden, ist, was die Säkularisierung betrifft, weder homogen noch monolithisch. Es gibt fundamental verschiedene Ansichten im Hinblick auf diese Frage, je nachdem, aus welcher kulturellen Weltanschauung der einzelne Denker und jeder einzelne Muslim kommen. Zugehörigkeit zu derselben Religion muss so nicht unbedingt auch identische soziale und politische Traditionen bedeuten. Die Frage nach dem Verhältnis zu säkularen Werten, der Trennung zwischen Staat und religiösem Establishment, wird in der Türkei, im Iran, in Tunesien, Ägypten, Saudi-Arabien usw. verschieden gesehen.

Säkulare Gesellschaften sicherten religiöse Freiheiten, machten aber viele religiöse Werte, vor allem die Fragen von Gesellschafts- und Moralcharakter, zu einer bloß individuellen Wahl. Dies führte sicher zum Konflikt zwischen dem Sakralen und dem Säkularen, dem Heiligen und dem Profanen. Liberale Säkularisierung insistiert nicht auf Atheismus. Ein System, in dem Pluralismus und die Achtung aller Religionen befürwortet werden und in dem die Manifestationsfreiheit aller Religionen garantiert wird, ist das System der fortschrittlichen europäischen Gesellschaften, das als solches die weitere Entwicklung religiöser Ideen ermöglicht hat. Fast das gesamte 20. Jahrhundert ist durch das Sich-Aufdrängen säkularer Ideen gekennzeichnet. Es zeigte sich jedoch, dass die Religion weder im philosophischen noch im gesellschaftlichen Sinne tot ist. Deswegen wurden neue Räume für Gespräche über die ewiggültigen und dauerhaften Fragen eröffnet. Fragen der Moral, der Achtung menschlicher Würde, menschlichen Lebens und familiärer Werte sind primär von religiösem Charakter. Von daher kann ein solches Verständnis des Islams im modernen Europa zu einem besseren Verständnis von Europa beitragen.

Es gibt kein einheitliches europäisches Modell der Beziehung von Säkularisierung und Religion. Alle ernstzunehmenden muslimischen Forscher unterstützen den staatlich-rechtlich säkularen Rahmen in Europa, viele sind aber auch der Ansicht, dass die universellen religiösen Fragen nicht im Konflikt mit der Idee eines säkularen Staates stehen. Das Wiederbeleben religiöser Ideen am Anfang des 21. Jahrhunderts hat einen neuen Diskurs zu diesem wichtigen Thema eröffnet. Unter den Muslimen im europäischen Kontext ist eine interessante Debatte über das Verständnis von Säkularisierung und Religion im Gange. Falls man die Säkularisierung als Ideologie begreift, dann ergeben sich ernste Probleme für das Verständnis jedes beliebigen religiösen Wertes.

Deutsch von Berislav Župarić.

Józefa Hennelowa

Józefa Hennelowa ist stellvertretende Chefredakteurin der in Krakau erscheinenden katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“.

Wann immer die Frage aufkommt, wie sehr Europa in seinem demokratischen Kern sich schon vom Glauben entfernt hat, dann sind für mich das fühlbarste Signal weder die papstfeindlichen Äußerungen noch die Widerstände bei den Stilisten der europäischen Verfassung, die den Gedanken zurückweisen, dass sich in ihr wenigstens ein Wort über die christlichen Wurzeln des Kontinents findet, ja nicht einmal – obwohl das sehr schmerzhaft ist – die Rückkehr weiterer Länder auf den Weg zur Willkür, wenn es darum geht, ob ein menschliches Leben das Recht hat zu dauern oder zum Erlöschen gebracht wird. Das am stärksten traurig stimmende Symbol scheinen weitere Meldungen über Kirchen, die länger zu unterhalten „sich nicht auszahlt“, weil sie für gewöhnlich für niemanden da seien: Sie würden ohnehin leer stehen ... Da dies nicht Länder wie Albanien oder Gebiete der ehemaligen Sowjetunion betrifft, wo die Gläubigen grausam verfolgt und ihre Gotteshäuser zerstört oder in Lagerhallen verwandelt wurden – es handelt sich hier nur um seit Jahrhunderten freie Länder mit einer herrlichen Vergangenheit, die ihr geistiges Leben eben in wunderbaren kreuzgeschmückten Türmen und in Altären ausdrückten, die man für Gott errichtete unter Kirchenfenstern und Fresken, die versuchten, sein Geheimnis zu erzählen –, klingen diese Meldungen trauriger, als sich ausdrücken lässt. Wie konnte es geschehen, dass der Mensch beschließt, Gott ein Zeichen zu geben, dass er ihn in keiner Weise mehr braucht?

Es schiene also, als könnten wir in unserem Land Polen beruhigt sein, ja sogar zufrieden mit uns selbst. Unsere Kirchen sind jeden Sonntag voll, an den Abenden der Marienmonate Mai und Oktober braust in ihnen mächtiger Gesang auf, und zu den so zahlreichen Heiligtümern pilgern nicht nur schlicht-fromme Bauern und demütige alte Frauen, sondern große Scharen von Jugendlichen. Die polnische Religiosität hat wohl kaum eine einzige ihrer traditionellen Formen verloren, und sie sucht und findet neue, sehr spektakuläre, die mit immer größerer Bereitwilligkeit im Fernsehen gezeigt werden. Das Fernsehen begleitet seit mehreren Jahren diese gemeinschaftliche Religiosität und gibt ihr eine besondere, immer bedeutsamere Existenz. Zeichen äußerer Religiosität werden zum hervorstechenden Kennzeichen, das Glanz verleiht, und der bekannte Sportler wird noch bekannter, wenn er zum Beispiel in dem Augenblick abgebildet wird, in dem er dem Papst huldigt, oder wenn die Presse meldet, sein Klub habe ihm einen Verweis erteilt, weil er sich vor dem Match im Angesicht der Kameras bekreuzigt habe.

Und dennoch – obwohl diese Religiosität ständig auch von einer hohen Zahl priesterlicher Berufungen, von hohen Auflagen der religiösen Presse und vom spektakulären Prestige der Hierarchie begleitet ist, haben Beunruhigung und Sorge um den Glauben in Polen ihre Begründung ... Der wichtigste Grund ist es, dass Zeichen des Glaubens in den Dienst politischer Tätigkeit gestellt werden. Seit vielen Jahren präsentieren Personen, die sich um Macht bemühen, öffentlich ihren Katholizismus, und zwar verbal sowie durch propagandistisch verbreitete Teilnahme am Kult. Sie betrachten das als ihren wichtigsten Wert, als Garanten ihrer Glaubwürdigkeit, als wichtigstes Argument in der Konkurrenz mit denen, die die gleichen Methoden nicht anwenden wollen oder können. Mehr noch, mit religiöser Rhetorik begründet man die detaillierten politischen Programme, insbesondere die gesetzgeberischen Vorlagen. Dabei bemüht man sich, ethische Imperative in die Form von Geboten und Verboten zu gießen. Religiöse Losungen müssen oft für Haltungen herhalten, die vom Christentum weit entfernt sind, wie Aggression, Nationalismus, Xenophobie, ja sogar für die Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe. Die Religion wird wieder, wie in ruhmloser Vergangenheit, zur Rechtfertigung von Handlungen und Haltungen, die vom Geist des Evangeliums weit entfernt sind. Ohne jemandem ins Gewissen zu schauen, muss man auch mit der Gefahr der Instrumentalisierung religiöser Zeichen im öffentlichen Leben durch gewöhnliche Karrieristen rechnen, die die Sorge um das Glaubenszeugnis kaum umtreibt.

Deshalb muss der in polnischen Überlegungen oft wiederkehrende Appell, Polen solle als Land des wahren Glaubens dem Westen ein Beispiel geben, mit innerem Widerspruch aufgenommen werden. Könnten wir nicht alsbald bemerken, dass wir selber auf Abwege geraten sind? Man muss im Evangelium nicht lange suchen, um Warnungen zu finden, dass niemand des anderen Richter sein soll, statt den Balken im eigenen Auge zu suchen. Und das betrifft nicht nur einzelne Menschen, sondern auch Völkerschaften. Sind wir sicher, dass Gott in unseren vollen Kirchen niemals verraten wird?

Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.

Bischof Hilarion von Wien und Österreich

Bischof Hilarion (Alfeyev) ist Bischof der Russischen Orthodoxen Kirche von Wien und Österreich und Repräsentant der Russischen Orthodoxen Kirche bei den Europäischen Institutionen in Brüssel.

Das Gespenst der militanten Säkularisierung geht um in Europa. Die militante Säkularisierung, die sich aktiv gegen jede Äußerung der Religiosität stellt, proklamiert sich als einzig legitimes weltanschauliches System, auf dem eine neue Weltordnung errichtet werden soll – sowohl in Europa als auch darüber hinaus.

Das Bemühen, die Religion aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, ihr einen Platz in den Hinterhöfen der menschlichen Existenz zuzuweisen und sie ausschließlich in den Bereich des Privatlebens der Individuen zu verbannen – das ist das Programm, an dessen Verwirklichung die Vertreter des zeitgenössischen liberalen Humanismus arbeiten, der sich von den Ideen der Aufklärung mit ihren spezifischen Vorstellungen von Freiheit und Toleranz inspirieren lässt. Dabei wird Toleranz in Bezug auf die Religion nur auf jene Aspekte bezogen, die den Rahmen der politischen Korrektheit nicht überschreiten und den so genannten „allgemeinmenschlichen Werten“ nicht widersprechen. Alles, was darüber hinaus geht, wird als beschränkenswert, verbietenswert oder völlig vernichtenswert erklärt.

Der kategorische Unwille einer bedeutenden Zahl europäischer Politiker, das Christentum in der Verfassung der Europäischen Union zu erwähnen, und der entschiedene Widerstand vieler europäischer Persönlichkeiten gegen ein offenes Auftreten eines religiösen Glaubens sowie andere ähnliche Erscheinungen in vielen Teilen Europas sind nur die Spitze des Eisberges. Hinter allen derartigen Phänomenen ist ein konsequenter, systematischer und zielstrebiger Angriff der militanten Säkularisierung auf die Reste der christlichen Kultur zu spüren, der Wunsch, ihr ein für alle Mal den Garaus zu machen. Dieser Angriff geschieht unter dem Trommelwirbel der Anhänger der Demokratie und liberaler Werte, unter lautem Geschrei nach Verteidigung der Rechte und Freiheiten der Bürger. Dabei wird jedoch ein grundlegendes Menschenrecht in Frage gestellt – das Recht auf öffentliches Bekenntnis des Glaubens an Gott; das Recht der menschlichen Gemeinschaft, ihr Leben auf dem Fundament einer religiösen Weltanschauung zu gestalten, ist bedroht.

Als die Bolschewiken im Jahre 1917 in Russland an die Macht kamen, wurde der Kampf gegen die Religion in allen ihren Erscheinungsformen zu einem der Hauptpunkte ihres ideologischen Programms. Ursache des Hasses der russischen Kommunisten gegenübr der Religion war dessen Selbstverständnis: Der Kommunismus empfand sich in gewissem Sinn selbst als Religion, die gekommen sei, das Christentum abzulösen. Die unversöhnliche Feindschaft des Kommunismus gegenüber dem Gottesglauben erklärt sich aus seinem Anspruch auf ein weltanschauliches Monopol.

Auch die militante Säkularisierung, die sich zielstrebig im heutigen Europa ausbreitet, ist eine Pseudoreligion und hat ihre unerschütterlichen dogmatischen Grundsätze und ethischen Normen, ihren Kult und ihre Symbolik. Wie der russische Kommunismus des 20. Jahrhunderts beansprucht sie das weltanschauliche Monopol und duldet keine Konkurrenz. Eben aus diesem Grund reagieren die Führer der Säkularisierung empfindlich auf religiöse Symbole und erschaudern bei der Erwähnung Gottes. „Wenn es Gott nicht gibt, müsste man ihn erfinden“, sagte Voltaire, womit er die Bedeutung des religiösen Glaubens für die moralische Gesundheit des Menschen und der Gesellschaft unterstrich. „Auch wenn es Gott gibt, muss man über ihn schweigen“, insistieren die heutigen liberalen Humanisten, die der Meinung sind, Gott hätte in der Sphäre der Gesellschaft keinen Platz. Ihrer Ansicht nach sind die Erwähnung Gottes in Dokumenten mit gesellschaftlicher Bedeutsamkeit ebenso wie das Tragen religiöser Symbole an öffentlichen Orten eine Verletzung der Rechte der Ungläubigen und Agnostiker. Dabei übersehen sie jedoch, dass ein Verbot der Erwähnung Gottes und des Tragens religiöser Symbole eine Diskriminierung der Gläubigen ist, denen sie das Recht auf das öffentliche Bekennen ihres Glaubens vorenthalten.

Die heutige militante Säkularisierung sieht sich – ähnlich wie der russische Bolschewismus – als Weltanschauung, die das Christentum abgelöst hat. Eben deshalb ist sie in Bezug auf das Christentum nicht neutral und nicht gleichgültig: Sie ist ihm gegenüber vielmehr offen feindselig eingestellt. Zur Zeit kann man von Ideologen der europäischen Säkularisierung Ehrerweise gegenüber dem Islam vernehmen, aber sie werden über das Christentum nie ein gutes Wort verlieren.

Die Russische Orthodoxe Kirche besteht auf der religiös-weltanschaulichen Neutralität der weltlichen Macht und auf der Unzulässigkeit der Einmischung des Staates in das innere Leben der Kirche. Die Kirche achtet das Prinzip der Weltlichkeit des Staates, hält es aber für unzulässig, dieses Prinzip als „radikale Verdrängung der Religion aus allen Bereichen des Lebens des Volkes“, als „Ausschluss der religiösen Gemeinschaften von der Teilnahme an der Lösung gesellschaftlich relevanter Aufgaben“ zu verstehen.

Leider verstehen jene europäischen Politiker, die sich bemühen, die traditionelle Kirchenstruktur zu zerstören, indem sie die Kirche aus der Sphäre der Öffentlichkeit verdrängen, das Prinzip der Weltlichkeit des Staates in eben dieser Weise. Und gegen eine solche Auffassung müssen die orthodoxen Kirchen kämpfen und ihre Bemühungen mit all jenen vereinen, die heute bereit sind, die traditionellen Werte gegen die liberalen, die religiösen Werte gegen die „allgemeinmenschlichen“ Werte zu verteidigen, und die bereit sind, sich für das Recht der Religionen auf gesellschaftliche Äußerung einzusetzen. Die traditionellen religiösen Konfessionen werden den Ansturm der militanten Säkularisierung nur dann abwenden können, wenn sie in einer Front auftreten.

Viorel Ioniţa

Prof. Dr. Viorel Ioniţa ist Priester der Rumänischen Orthodoxen Kirche, Dozent für Kirchengeschichte an der Universität Bukarest und Studienleiter der Konferenz Europäischer Kirchen (CEC/KEK) in Genf.

Die Frage der Säkularisierung wurde in der orthodoxen Theologie Rumäniens während der letzten Jahrzehnte viel diskutiert. Die Säkularisierung wird von manchen orthodoxen Theologen als „die Krankheit des Jahrhunderts“ (Bischof Casian von Galaţi) oder als „Seuche“ (Pr. Ion Bizau) bezeichnet. Für den letzteren ist die Säkularisierung ein Phänomen der Krise, wodurch „die Begierde des Fleisches, die Begierde der Augen und das Prahlen mit dem Besitz“ (vgl. 1 Joh 2,16) zentrale Werte geworden sind. Einer der bedeutendsten heutigen rumänischen Theologen, Dumitru Popescu, der sich mit diesem Thema viel auseinandergesetzt hat, bezeichnet die Säkularisierung als eine Art Abwendung des Menschen von Gott hin zu den Menschen, von der Theologie zur Wissenschaft und von geistlichen zu materiellen Werten. Metropolit Daniel von Moldowa und Bukowina geht hingegen viel differenzierter mit dieser Frage um. Während die meisten orthodoxen Theologen die Säkularisierung schlechthin verurteilen, sind für ihn vor allem einige Aspekte dieses komplexen Phänomens zu beurteilen. So spricht er von einer „nihilistischen Säkularisierung“, die sich auf eine „Gleichgültigkeit gegenüber der Religion und deren Werten“ bezieht. Der säkularisierte Mensch ist nicht unbedingt atheistisch eingestellt, aber auch selbst wenn er „die Existenz Gottes nicht leugnet, fühlt er keine Notwendigkeit eines Verhältnisses mit Gott und will nicht einmal daran denken“. Für den Metropoliten von Jaşi wird der säkularisierte Mensch allein „auf seine irdische und zeitliche Dimension beschränkt, auf das saeculum, auf das jetzige Jahrhundert, auf die aktuelle und hiesige Welt“.

Von dieser Einstellung her begünstigt die Säkularisierung ein selbstgefälliges Menschendasein ohne Bezugnahme auf Herkunft oder auf Ziel des Menschen, wie auch nicht auf Herkunft und Ziel der Welt. Der Mensch verwendet die Luft und das Wasser, die Wärme und das Licht der Sonne oder die Früchte der Erde, die er nicht selbst geschaffen hat, ohne all dies in Verbindung mit Gott zu bringen, sondern er sieht nur, dass er all dies in seinem eigenen Interesse benutzen kann. Für Metropolit Daniel behauptet der säkularisierte Mensch „seine persönliche Freiheit nicht in der Gemeinschaft mit der Person des unsichtbaren, aber vernünftigen, freien und liebenden Schöpfers, nach dessen Ebenbild der Mensch selbst als sichtbare, irdische Person geschaffen wurde“, sondern nur in Verbindung zu seinen Mitmenschen. Für einen solchen Menschen hat der Spender der Existenz keine Bedeutung mehr, sondern nur das Geschenk oder die Gegebenheit der Existenz. Der säkularisierte Mensch hat den Sinn der Ewigkeit oder des Unendlichen verloren.

In dieser Hinsicht teilen die orthodoxen Theologen die Meinung mancher Soziologen, die die Epoche der nihilistischen Säkularisierung als „das Zeitalter der Leere“ und „die narzistischste Zivilisation“ bezeichnet haben. Diese Entwicklung in der heutigen Gesellschaft bringt neue Herausforderungen für die Mission aller Kirchen mit sich, die in dieser Hinsicht näher zusammenarbeiten sollten.

Stanisław Krajewski

Prof. Dr. Stanisław Krajewski ist Dozent an der Abteilung für Philosophie der Warschauer Universität und Mitvorsitzender des polnischen christlich-jüdischen Rates.

Die Säkularisierung ist eine Realität (obwohl dies in Polen weniger radikal sichtbar ist als in den meisten anderen europäischen Ländern) und beinhaltet verschiedene Aspekte: Herabsetzung der Autorität der Kirchen und der religiösen Führer, geringerer Kirchenbesuch, ein gewisses Verschwinden religiöser Tabus in der Kunst, Verbreitung nicht-traditioneller Lebensformen, hohes Ansehen der Wissenschaft mit ihrem Anspruch auf Selbstgenügsamkeit der Natur.

Zur gleichen Zeit möchten die meisten Leute religiöse Zeremonien für Hochzeiten, Beerdigungen und andere Übergangsriten beibehalten, denn die Heiligkeit im Verhalten und in den Verhaltensformen wird heutzutage geschätzt wie zu allen Zeiten und, noch allgemeiner, die religiösen Bedürfnisse der Europäer bleiben doch sehr tief. Die Funktion der Religion hat sich verändert: Die Priester müssen in Wettbewerb mit Therapeuten treten, in Gottesdiensten konkurrieren sie mit der Massenkultur. Aber die Notwendigkeit bleibt, an eine höhere Wirklichkeit und an einen Auftrag von Mächten, die höhere Werte vertreten, zu glauben.

Aus einer jüdischen Perspektive heraus ist es klar, dass der christliche Hintergrund Europas sehr stark bleibt: Die Museen sind voller religiöser Kunst, die Kirchen bilden in den Innenstädten den Orientierungspunkt, die Sprache ist durchsetzt und voller Anspielungen auf das Christliche. Assimilierte Juden – in Europa sind fast alle Juden kulturell assimiliert – und sogar überzeugte Atheisten jedweden Hintergrundes sind stark vom Christentum geprägt. Vor fast 60 Jahren hat Jean-Paul Sartre, der Prototyp des antireligiösen Atheisten, einen Vortrag vor einem jüdischen Publikum damit begonnen, dass er sagte: „Ich werde aus einer christlichen Perspektive sprechen, denn ich habe eine christliche Erziehung genossen“.

Die Menschen brauchen den Glauben. Sogar in Europa gibt es Fundamentalisten, muslimische und andere: Die Lehre der Evolution ist kürzlich vom polnischen Erziehungsministerium und von der Führung der Russischen Orthodoxen Kirche verworfen worden. Von denen, die ihre traditionelle Religiosität verloren haben, wenden sich viele Bewegungen wie New Age oder ähnlichen Kulten zu, sodass man nicht von einer durchgängigen Säkularisierung sprechen kann, sondern nur von einer Suche in andere Richtungen. Gewiss haben sich die Formen religiöser Bindung verändert und werden sich wahrscheinlich auch künftig weiterentwickeln. Dies schafft eine gewaltige Herausforderung für die traditionellen religiösen Einrichtungen, aber es macht Religion nicht überflüssig. Ich denke, dass die Modernität mit ihrem Rationalismus, Individualismus der sichtbaren religiösen Vielfalt auch den Säkularisierungstendenzen eine Herausforderung schaffen wird, die den Religionen eine Veränderung bringen wird, aus der durchaus positive Ergebnisse entstehen können. Der naive Glaube muss ersetzt werden durch eine verfeinerte und gebildetere, eine eher kindlichere Religiosität durch eine herangereifte Form. Diese Veränderung ist sowohl risikoreich als auch hoffnungsvoll. Europa ist weiter in diesem Prozess vorangeschritten als jede andere Region auf der Welt.

Aus dem Englischen übersetzt von Christof Dahm.

Bischof Joachim Wanke

Dr. Joachim Wanke ist Bischof der Diözese Erfurt.

Wenn Säkularisierung die abnehmende Bedeutung der Religion in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ist, dann befindet sich derzeit die Säkularisierung auf dem Rückzug – weltweit ohnehin, aber auch in Europa. Hat die weithin naturwissenschaftlich bestimmte Moderne zur Demontage religiösen Denkens und Empfindens beigetragen, entwickelt die Postmoderne mit ihrer Betonung einer ganzheitlichen Sicht der Welt wieder ein neues Gespür für die Botschaft der Religionen. Das geht freilich einher mit einem Pluralismus an weltanschaulichen und religiösen Einstellungen, was für die Kirche Seelsorge und Verkündigung nicht einfacher macht.

Jeder Christ, selbst wenn er in noch vorhandenen kirchlich geprägten Gegenden lebt, ist heute diesem Pluralismus ausgesetzt. Das ist gleichsam eine Folge der abendländischen Säkularisierung im obigen Sinne. Die nahezu tagtäglichen Erfahrungen mit Angehörigen anderer Religionen bzw. auch mit „Religionslosen“ sind für den Christen nicht mehr auszublenden. Der „andere“ Lebensentwurf ist überall existentiell präsent. Das wirft die permanente Frage auf: „Warum bin ich eigentlich Christ?“ Das Fragen nach dem „Mehrwert“ des Gottesglaubens wird den Christen künftig ständig begleiten.

Ich glaube freilich nicht, dass dieser Pluralismus an weltanschaulichen Positionen zwangsnotwendig zum Verdunsten des Glaubens führt. Im Gegenteil: Durch einen solchen Wettbewerb kann sich sogar religiöse Vitalität entfalten. Religiöse Überzeugungen sind ja nicht das Ergebnis einer freien Auswahl aus vielen vorgegebenen Möglichkeiten. Das ist der Irrtum derer, die meinen, Religion durch gutes Zureden unter die Leute bringen zu können. Wertüberzeugungen, vor allem auch der religiöse Glaube, entstehen durch ein Hingerissen-Sein, durch ein Überwältigt-Werden, das seine eigene Evidenz hat. Darauf hat neuerdings der in Erfurt lehrende Soziologe und Religionsphilosoph Hans Joas wieder hingewiesen. Der religiöse Glaube wird vom Gläubigen gerade nicht als Knebelung erfahren, sondern als ein tiefes und beglückendes „Zu-sich-Selbst-Kommen“. Die Erfahrungen einer gelingenden menschlichen Partnerschaft, Freundschaft oder Liebe, in denen ich ja auch in gewissem Sinne „mich überschreite“, sind dafür die nächsten Parallelen.

Eine seelsorgliche Folgerung aus diesen Überlegungen ziehe ich an dieser Stelle: Nicht religiös vorgeprägte Zeitgenossen brauchen Einstiegsportale, gleichsam „Beteiligungschancen“ an den Erfahrungen, die Christen (wie alle Menschen) machen, aber vom Glauben her (österlich) deuten. Diese Vermittlung kann durchaus auch heute gelingen. Dazu bedarf es freilich unter uns Christen der Bereitschaft, mit unseren eigenen Glaubensüberzeugungen „sprechend“ zu werden – in Wort und Lebensbeispiel, in Liturgie und Caritas.

Viktor Yelenski

Dr. Viktor Yelenki ist als Sozialwissenschaftler an der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Kiew tätig.

Zuerst sei der gebräuchlichste Begriff von Säkularisierung genannt, wie ihn der amerikanische Soziologe Peter L. Berger formuliert hat. Säkularisierung bezeichnet „den Prozess, durch den Bereiche der Gesellschaft sich aus der Herrschaft religiöser Symbole und Institutionen befreien“. Ich weise aber auch darauf hin, dass der Autor dieser Definition 1999 einräumte: „Die gesamte Literatur von Historikern und Sozialwissenschaftlern, ungenau als Säkularisierungstheorie bezeichnet, ist in ihrem Wesen falsch. In meinen früheren Arbeiten habe ich selbst zu dieser Literatur beigetragen.“ Anders gesagt: Die Ereignisse des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts stellen die These in Frage, dass Gesellschaften im Laufe der Modernisierung ihre religiöse Intensität immer mehr verlieren. Für Europa, das tatsächlich im Vergleich zu anderen Kontinenten eine große religiöse Skepsis erlebt, ist es jedoch das Wichtigste, dass der Rückgang der Religiosität von Gesellschaften (falls es einen solchen Rückgang überhaupt gibt) weder linear noch unumkehrbar ist. Im selben Europa finden wir Länder, in denen das religiöse Verhalten der Bevölkerung Ende des 20. Jahrhundert wesentlich konsequenter war als im 19. Jahrhundert, etwa in Irland.

Bei Erwägung der Herausforderungen der Säkularisierung für das moderne Europa ist deswegen über das Folgende nachzudenken: Die Säkularisierung trat nicht gleichmäßig in den verschiedenen Teilen Europas auf. Ziemlich oft können wir auf einen Rückgang der traditionellen Kirchlichkeit in Europa stoßen, der dem Rückgang der Religiosität oder dem Voranschreiten der Säkularisierung nicht entspricht. Laut den Ergebnissen der europäischen „Wertestudie“ (EVS) sind die Westeuropäer eher „unkirchlich“ als säkular. 60 Prozent von ihnen berichten über paranormale Erfahrungen. Auch der Anteil derjenigen, die auf die eine oder andere Weise mit alternativen religiösen Praktiken im Kontakt sind, scheint bedeutend. Es lässt sich nicht verneinen, dass der Mensch des 21. Jahrhunderts mystische Erfahrungen braucht und er sich mit etwas identifizieren möchte, was über den Rahmen der täglichen Erfahrungen hinausgeht.

Die Globalisierung, die Religionen und Kulturen aufeinander treffen lässt, führt oft zum offensichtlichen Streben, die Einzigartigkeit der eigenen Identität zu schützen, in deren Wurzeln oft auch religiöse Traditionen verortet sind. Es ist interessant, dass sogar in jenen Ländern, in denen religiöses Engagement sehr gering ist, viele die Religion als eine Komponente ihres Selbstverständnisses bezeichnen.

Die Kirche im Westen Europas hatte schon relativ lange die Möglichkeit, „nur“ Kirche zu sein. Sie braucht die Funktionen nicht mehr (zumindest kann sie darauf verzichten) zu erfüllen, die immer wichtig, vielleicht sogar äußerst wichtig für sie waren, die jedoch jetzt nicht spezifisch kirchlich sind. Der Wohlfahrtsstaat macht die kirchlichen sozialen Programme weniger aktuell als zum Beispiel in Afrika oder Asien. Es scheint mir, dass Westeuropa vielleicht nicht artikuliert, aber doch intuitiv von der Kirche eine größere Konzentration auf den vertikalen Dienst, ein größeres Charisma und stärkere Mystizität wünscht.

Und schließlich: Eine gegenseitige Bereicherung der religiösen Traditionen kann ein starkes Hindernis für das Fortschreiten der Säkularisierung werden: Der Westen benötigt zweifellos die östliche christliche Spiritualität, der Osten braucht den westlichen Rationalismus.

Aus dem Ukrainischen übersetzt von Alena Kharko.