Definitiv nicht nur ein Blumenstrauß

Der Gediminas-Turm in Vilnius

Die litauische Publizistin und Literaturübersetzerin Gabrielė Gailiūtė-Bernotienė lebt und arbeitet in Vilnius. Sie übersetzt Literatur, ist als Autorin und Podcasterin zu Kultur- und Religionsthemen tätig.

Zusammenfassung

Der Gediminas-Turm auf dem 142 Meter hohen Gediminas-Hügel ist bis heute ein Wahrzeichen der litauischen Hauptstadt Vilnius. Er ist der einzige erhaltene Eckturm der Anlage der Oberen Burg, in dem ein geschichtliches Museum über die Historie Auskunft gibt. Von der Aussichtsplattform des Turms eröffnet sich ein Rundblick über Vilnius. Für viele Litauer ist er vor allem ein patriotisches Symbol, um das sich viele Legenden ranken.

Leicht gemalt von Kinderhand

Der Gediminas-Turm in der litauischen Hauptstadt Vilnius hat als patriotisches Symbol einen großen Vorteil: Er ist für ein Kind sehr leicht zu zeichnen. Ein Quadrat oder ein Trapez mit der Silhouette einer „Krone“ obenauf, in den Farben Rot, Braun oder Orange, auf einem glockenförmigen grünen Hügel stehend, vor einem blauen Hintergrund für den Himmel mit der Sonne darin und optional auch mit weißen Wolken oder sogar einem Regenbogen. Und nicht zu vergessen die Flagge, gelb für die Sonne, grün für Felder und Wiesen und rot für unser Blut, wie es im Lied heißt.

Als ich ein Kind war, war es der letzte Schrei, patriotische Symbole zu zeichnen. Es waren die späten 1980er und frühen 1990er Jahre, die Zeit, als die Sowjetunion fiel und Litauen seine Unabhängigkeit wiedererlangte. Ich erinnere mich an eine Zeit des ständigen Hochgefühls und der Begeisterung, des allgegenwärtigen Eindrucks, dass etwas sehr Großes und Wichtiges passiert (und das war auch so).

Litauer zu sein, war die größte Ehre der Welt. Wir waren im Begriff, uns in das Goldene Zeitalter zu versetzen, in die märchenhafte Zeit der Großherzöge und ihrer Legenden. Oder zumindest würden wir die Republik Litauen so wiederherstellen, wie sie vor der deutschen und sowjetischen Besatzung war. Sie würde genauso perfekt und makellos sein, wie sie es gewesen war. Natürlich habe ich das Ganze mit der vereinfachenden Sichtweise einer Neunjährigen dargestellt, aber es lag wirklich eine kindliche Unschuld in der allgemeinen Stimmung, die ich immer noch ungern als „Naivität“ bezeichne.

Bezeichnenderweise war Vilnius für diese ethnisch romantische Selbstwahrnehmung ein kleines Problem, da die Stadt in der Zwischenkriegszeit nicht Teil der Republik Litauen war. In dieser Zeit war es zumeist von den Polen besetzt, was als große Beleidigung und Demütigung für die Nation empfunden wurde, und die entschlossenen Versprechen, es eines Tages zurückzuerobern, überlebten in den übermütigen Liedern jener Zeit.

Noch problematischer ist, dass es nach der Besetzung durch die Sowjets an Litauen zurückgegeben wurde. In einer klassischen Darstellung von falschen Behauptungen und Halbwahrheiten war der Umzug für die sowjetische Propaganda sehr nützlich. Sie behauptete, Litauen sei in Wirklichkeit nicht besetzt, sondern von allem Bösen „befreit“ worden, vor allem von den Nazi-deutschen und den Polen, die angeblich immer versucht hätten, jeden Ausdruck der litauischen Volkszugehörigkeit zu untergraben und zu zerstören. Die Wiedererlangung der Unabhängigkeit von den Sowjets mit Vilnius als Hauptstadt Litauens fühlte sich wie etwas Magisches an, ein wahr gewordener Traum, eine erfüllte Prophezeiung.

Die Legende vom eisernen Wolf

Der eiserne Wolf war die Prophezeiung. Großherzog Gediminas (1275 – 1341) war, so besagt die Legende, auf der Jagd in den bewaldeten Hügeln des zukünftigen Vilnius und schlief nach einem aufregenden Tag ein. In seinem Traum sah er einen eisernen Wolf auf einem der Hügel heulen. Der örtliche Einsiedler deutete seinen Traum dahingehend, dass er auf diesem Hügel eine Burg bauen und eine Stadt gründen müsse, deren Ruhm und Ehre wie das Heulen des Wolfes durch die Welt hallen würde.

Gediminas war tatsächlich der erste, der den Namen Vilnius schriftlich erwähnte und gilt somit als symbolischer Gründer der Stadt, obwohl es schon lange vor seiner Zeit eine Siedlung gab. Er mag die ursprüngliche Burg auf dem Hügel gebaut haben oder auch nicht, aber sie war aus Holz und brannte bald ab. Der noch erhaltene Turm stammt von einer gotischen Burg, die im 15. Jahrhundert von Vytautas Magnus (einer bedeutenden historischen Figur, um die sich viele Legenden ranken) erbaut wurde.

Ich bin in Vilnius aufgewachsen und kann mich nicht daran erinnern, wann ich die Legende vom eisernen Wolf zum ersten Mal gehört habe. Aber ich erinnere mich, dass ich zuerst die literarische Version kannte. Sie wurde vom sowjetisch-litauischen Schriftsteller Vladas Mozūriūnas in den 1950er Jahren geschrieben, sehr wahrscheinlich in dem bewussten Versuch, den Propagandamythos des großen Geschenks, das die Sowjets den Litauern mit der Rückgabe von Vilnius gemacht haben, noch zu verstärken.

Die buchfüllende, vollständig in Reimen verfasste Geschichte erzählt zunächst die Legende vom eisernen Wolf und führt sie dann fort: Als Gediminas mit dem Bau der Burg fortfuhr, wurde er unruhig, weil er dachte, dass die Götter zu einem so besonderen Anlass ein Opfer verlangen könnten. Seine Priester sagten ihm daraufhin, er müsse eine Mutter finden, die bereit sei, ihren Sohn zu opfern, der in der Baugrube stehen und auf den der Eckstein gewälzt werden solle. Der junge Mann wurde ausgewählt, aber er stritt sich mit den Priestern und ließ sie ein Rätsel lösen, um zu sehen, ob sie den Willen der Götter richtig interpretiert hatten. Die Priester bestanden den Test nicht, der junge Mann wurde entlassen, und die Bitte um das Opfer wurde auf ein Mädchen übertragen. Das Mädchen wurde gefunden und stellte sich bereitwillig in die Grube. Aber als der Stein rollte, traf er nur einen Blumenstrauß in ihren Händen und zermalmte ihn, während sie selbst unversehrt blieb.

Diese Geschichte wurde in einer Kinderzeitschrift nachgedruckt, vermutlich aufgrund eines mangelnden Urteilsvermögens. Sie bereitete mir bei der Lektüre als Kind buchstäblich Albträume. Dass die Götter erst ein Menschenopfer verlangen und dann einfach einen Blumenstrauß einfordern, klang gruselig. Die Bereitschaft der Mutter, ihren einzigen Sohn zu opfern, kam mir verrückt vor, genau wie das offenbar selbstmordgefährdete Mädchen. Aber vor allem die Idee selbst zu töten und zu sterben, nur um einen Turm zu bauen? Wie verrückt muss man sein?

Meine Reaktion hatte wahrscheinlich etwas mit den Menschen zu tun, die für unsere litauische Unabhängigkeit starben. Am 13. Januar 1991 eröffneten die sowjetischen Soldaten das Feuer und fuhren mit ihren Panzern in eine unbewaffnete Menschenmenge rund um den Fernsehturm. Die Idee der Demonstranten war, sich um mehrere wichtige Objekte in der Stadt zu versammeln, große Menschenmengen zu bilden und so die Soldaten zu blockieren. Was würden die sowjetischen Militärs tun, wenn wir sie nicht durchlassen? Uns erschießen? Genau das haben sie getan. 13 Menschen starben und werden immer noch zu Recht als Helden und Opfer für die große Sache unserer Freiheit verehrt. Aber keiner von ihnen war selbstmordgefährdet oder verrückt wie in der oben erzählten Geschichte.

Die letzten Worte von Loreta Asanavičiūtė im Krankenhaus, nachdem sie von einem Panzer überrollt wurde, waren wörtlich: „Doktor, werde ich leben?“ Sie war das einzige weibliche Todesopfer der blutigen Ereignisse in Vilnius.

Die Geschichte des Schriftstellers Mozūriūnas ist jedoch nicht die berühmteste literarische Darstellung des Gediminas-Turms. Dieser Text wäre nicht vollständig, wenn er nicht auf dieses Zitat zurückgreifen würde:

„Unausweichlich wirklich ist nur die alte Burg in der neuen Stadt: ein einsamer Turm, der aus den bewachsenen Abhängen des Berges herausragt, das phallische Symbol von Vilnius. Er verrät alle Geheimnisse. Der symbolische phallos von Vilnius: kurz, stumpf und hilflos. Organ der scheinbaren Macht, der längst unfähig ist, sich zu erregen. Ein roter dreistöckiger Turm, das phallische NICHTS, schamlos zur Schau getragen, Sinnbild der Ohnmacht von Vilnius. Das große Zeichen der entmannten Stadt, des entmannten Litauen, das auf allen Postkarten, in allen Fotobüchern, in allen Prospekten für Touristen prangt. Ein Zeichen perverser Schamlosigkeit: es wäre doch angebracht, seine Ohnmacht zu verbergen, sie nicht zuzugeben, mindestens so zu tun, als ob man etwas kann. Die Stadt aber hat längst alles verloren, selbst die Selbstachtung. Es blieb hier nur Lüge, Absurdität und Angst.“ Die Passage stammt aus dem Roman Vilnius Poker des berühmten verstorbenen litauischen Schriftstellers Ričardas Gavelis (1950 – 2002). Als eines der wenigen großen Werke, die in der düsteren Sowjetzeit ohne Aussicht auf Veröffentlichung geschrieben wurden, ist es wahrscheinlich die treffendste literarische Darstellung des Lebens unter den Sowjets. Dementsprechend ist es schrecklich, grausam, ekelhaft und völlig surreal.

Ein vorausschauender Roman

Tatsächlich habe ich einmal eine kleine Studie darüber durchgeführt, wie die englischsprachigen Leser darauf reagierten, als die englische Übersetzung herauskam, und erstaunlicherweise hielten die meisten von ihnen es für eine Art dystopische oder anderweitig fantastische Literatur. Heute gilt der Roman als eines der größten Werke der litauischen Literatur, doch als er 1989 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, stieß er nicht auf Begeisterung.

Das ikonoklastische Zitat ist ein typisches Beispiel für die Haltung von Gavelis gegenüber dem kindlichen, unschuldigen, völlig ethnozentrischen und rein ästhetischen Patriotismus, der für die neuen unabhängigen Litauer so wichtig war. Aber für die Menschen meiner Generation, die das schwankende Chaos der 1990er Jahre überlebten und um die Jahrhundertwende zu jungen Erwachsenen wurden, klang Gavelis wie ein weitsichtiger Prophet.

Viele von uns wollten sich eigentlich von ihrer Nation distanzieren, anstatt es als große Ehre zu empfinden, ihr anzugehören. Wir waren im Ausland unterwegs und fühlten uns rückständig und arm. Wir stellten fest, dass die Litauer bei weitem nicht die besten Menschen der Welt sind, sondern im Gegenteil gemein, deprimiert und sogar unmoralisch. Wir wollten europäisch und westlich sein, und unser Land fühlte sich wie eine dumme, kleine Schwester, die ihre Geschwister immer um Hilfe bittet und doch immer zurückbleibt.

Neues (nationales) Selbstbewusstsein

Auch diese desillusionierte Sichtweise war nicht objektiv richtig. Unser Land hat sich wirtschaftlich entwickelt und ist politisch gereift. Wir sind der NATO und der EU beigetreten. Wir wurden reich oder zumindest reicher als wir es je gewesen waren. Wir haben in vielerlei Hinsicht Mist gebaut, aber wenigstens waren wir nicht Belarus. Wir stellten diesen Vergleich immer häufiger an, als Scharen von Belarussen in unsere glänzenden Einkaufszentren kamen und wir hörten, dass immer mehr von ihnen in aller Stille nach Vilnius zogen, weg von Aleksandar Lukaschenkos Regime.

Und wir haben den kultartigen, sentimentalen Patriotismus der frühen Unabhängigkeit verloren und begonnen, ernsthaft über unsere Geschichte nachzudenken. Allmählich wurde es weniger wichtig, immer wieder die Größe unserer Nation zu betonen. Zumindest wurde den Behauptungen mit einer gesunden Selbstironie begegnet.

Der Gediminas-Turm geriet 2016 erneut in den Blickpunkt, als mehrere gefährliche Schlammlawinen Bedenken hinsichtlich der Stabilität des Hügels aufkommen ließen. Der Brexit fand statt, Präsident Donald Trump wurde in den USA gewählt, populistisches Gedankengut grassierte in ganz Europa. Die allgemeine Stimmung war mehr als reif für bitterböse Witze im Stil von Gavelis über die mögliche Zerstörung des nationalen Symbols. Die Arbeiten zur Beseitigung der Schäden erforderten jedoch archäologische Untersuchungen an einer bestimmten Stelle des Hügels, die zu einer wichtigen Entdeckung führten.

Die Gediminas-Burg wurde in den Kämpfen mit dem Russischen Reich im 17. und 18. Jahrhundert schwer beschädigt, und was von ihr übrig blieb, wurde zum Gefängnis. Hier wurden die Anführer des Aufstands von 1863, dem letzten Versuch der Völker des ehemaligen litauisch-polnischen Commonwealth, sich von der russischen Herrschaft zu befreien, gefangen genommen und schließlich hingerichtet. Der Aufstand war verloren, die Russen waren da, um zu bleiben. Die Zwischenkriegsrepublik Litauen war eine kurze Atempause, bevor die Russen als Sowjets mit aller Macht zurückkehrten.

Anfang 2019 war der komplizierte Prozess der Identifizierung der Überreste vorbei, und die Archäologen gingen an die Öffentlichkeit: Sie fanden Konstantinas Kalinauskas, Zigmantas Sierakauskas und andere Führer des Aufstands. Wir gaben ihnen im November 2019 ein Staatsbegräbnis, und wir schrieben ihre Namen auf ihre Grabsteine in allen drei Sprachen: Litauisch, Polnisch und Belarussisch. Die weiß-rot-weißen Flaggen der belarussischen Opposition gegen Lukaschenkos Regime waren bei der Beerdigung ebenso zahlreich wie die litauischen.

Der Aufständische Sierakauskas wurde anhand seines Eherings identifiziert, in den die Namen der beiden Ehepartner eingraviert waren. Vor kurzem verheiratet, erinnere ich mich, wie ich an meinem eigenen Ehering herumspielte und dachte, was für ein Trost es gewesen sein muss, dieses kleine Stück seiner Frau in seinem letzten Moment bei sich zu haben. Die aus den Geschichtsbüchern bekannten Namen wurden zu Menschen, die lebten, liebten und für eine große Sache starben. Der Gediminas-Turm war schließlich auf Menschenopfer angewiesen. Es war definitiv nicht nur ein Blumenstrauß.

Einer Art literarischer Logik folgend, erscheinen die Entdeckung und die Beerdigung wie ein Vorspiel für das, was danach kommt. Erstens die Wahlen in Belarus 2020, die Proteste und die Hoffnung, die „Kakerlake“, wie Lukaschenko hier liebevoll genannt wird, endlich zu stürzen. Dazu kam es nicht, aber die erfolgreiche Kandidatin der Opposition bei den Präsidentschaftswahlen in Belarus Swetlana Tichanowskaja fand mit ihren Kindern Zuflucht in Vilnius und ist bis heute hier. Und sie ist nicht die Einzige. Wir sind für die belarussische Opposition tatsächlich zu einer Art Heimstatt geworden.

Russland als Bedrohung

Und dann kam das Grauen der russischen Invasion in der Ukraine als eine Art endgültige Bestätigung. Die litauische Außenpolitik war schon immer mehr oder weniger konsequent: Russland ist eine Bedrohung, und man kann dem Regime nicht trauen. Ungeachtet legitimer wirtschaftlicher und politischer Interessen ist eine Abhängigkeit von Russland nicht wünschenswert. Jedes andere Land, das versucht, sich dem russischen Einfluss zu widersetzen, sollte unterstützt werden. Wir haben einen „Wir haben es euch ja gesagt“-Moment und genießen ihn ein wenig, aber die Bestätigung war offenbar auch für uns selbst wichtig.

Wir haben die ukrainischen Flüchtlinge sofort aufgenommen und stehen bis heute an der Spitze der Liste der Partner, die die Ukraine am meisten unterstützen, was finanzielle, militärische, humanitäre und politische Hilfe angeht. Und die litauischen Bürger sammelten innerhalb von drei Tagen fünf Millionen Euro, um eine Bayraktar-Drohne für die ukrainische Armee zu kaufen. Wir sind stolz, und ich prahle hier definitiv, aber wir haben auch ein Ziel und eine Identität als Nation (wieder)entdeckt.

Wie der Westen, der wir zu werden träumten, sahen wir uns als Zufluchtsort und als helfende Hand für unsere ehemaligen Landsleute in der Stunde der Not. Es gibt eindeutig ein Echo dieser kindlichen Vision von nationaler Größe, aber andererseits gibt es auch echte Menschen, die für große Ziele wie Freiheit und Unabhängigkeit sterben. Für all das steht auch der Gediminas-Turm als patriotisches Symbol ein.

Aus dem Englischen von Ira Lenz.