Der Einfluss der Politik auf das Privatleben – von der Wende 1989 bis in die Gegenwart

aus OWEP 3/2019  •  von Aneta Skiba

Aneta Skiba (geb. 1986) stammt aus Oberschlesien. Sie absolvierte ein Germanistikstudium und arbeitet gegenwärtig als Deutschlehrerin an einer bilingualen Montessori-Grundschule in Schlesien.

Aneta Skiba (Foto: privat)

Genau an das Jahr 1989 kann ich mich leider nicht erinnern. Ich wurde in diesem Jahr erst drei und fand das Spielen mit Nachbarskindern viel wichtiger als die großen Veränderungen, die damals in der Welt geschahen – obwohl mir deren Auswirkungen im späteren Leben bewusst wurden.

Wir lebten im kleinen Dorf Schierokau (ca. 2.500 Einwohner) in Oberschlesien. Ich wohnte mit meinen Eltern und Geschwistern sowie meinen Großeltern auf einem Bauernhof. Mein Vater arbeitete als Schreiner in Guttentag, mein Großvater war Metzger von Beruf. Meine Mutter und meine Großmutter kümmerten sich um das Haus und die Kinder. Ich liebte die sorgenlose Zeit. Mit ca. sechs Jahren, also bevor ich noch zur Schule ging, fing mein Opa an, mir die deutsche Sprache beizubringen, die bis 1989 in Oberschlesien zu lernen und zu benutzen nicht erlaubt war. Ich behielt noch in Erinnerung, dass wir auch nur einen Schwarz-Weiß-Fernseher in der Wohnung unserer Großeltern hatten, und irgendwie mit der Zeit kam es, dass wir auch Zugang zum bunten deutschen Fernsehen hatten. Aus der Sicht des Kindes fehlte es uns an nichts.

Diese Zeit hatte aber auch andere Facetten. Mein Vater fing an, immer mehr zu arbeiten, und seine komplette Urlaubszeit verbrachte er in Deutschland. Er arbeitete im Saarland als Aushilfe bei einem Bekannten, der eine Gärtnerei betrieb. Als er wieder nach Hause kam, haben wir natürlich viele Geschenke bekommen. Doch neben den materiellen Dingen veränderte sich etwas in unserer Familie. Die Beziehung zu meinem Vater wandelte sich schleichend. Die nächste Nachricht, die unsere Familie annehmen musste, war die Entscheidung meiner beiden Onkel, nach Deutschland (Nordrhein-Westfalen) auszuwandern. Nur bei großen Familienfeierlichkeiten konnte ich sie später noch treffen. Nachdem mein Vater sah, wie meine beiden Onkel ihr Leben in Deutschland gestalteten, versuchte er, auch meine Mutter davon zu überzeugen, nach Deutschland auszuwandern. Doch meine Mutter wollte es nicht – sie wollte bei ihren Eltern bleiben.

Als ich acht Jahre alt wurde, also 1994, kauften meine Eltern im gleichen Dorf ein Haus. Sie konnten es sich mittlerweile leisten. Mein Vater wollte auch nicht mehr auf einem Bauernhof arbeiten. Meine Großeltern konnten wiederum ihres Alters wegen alleine den Bauernhof nicht mehr weiter führen und mussten diese Tätigkeit aufgeben. Die Beziehung zwischen meinen Eltern und meinen Großeltern wurde immer schwieriger. Es tat mir als Kind leid.

Meine Mutter versuchte mit der Zeit, sich aus der finanziellen Dominanz meines Vaters zu lösen. Sie wollte auch finanziell unabhängig werden und probierte sich im beruflichen Leben aus. Das hat aber die Situation nur noch verschlimmert und führte letztendlich zum Scheitern der Ehe meiner Eltern und auf eine Art und Weise auch zum Scheitern der mir bekannten Werte.

Ich kann mich ganz genau an meine erste Reise nach Deutschland erinnern. Ich war 14 und es waren Winterferien in der Schule. Ich wollte mir unbedingt für 14 Tage dieses Land ansehen, dessen Sprache ich bereits acht Jahre lernte und welches so viele Veränderungen in unsere privaten Leben brachte. Ich fuhr gegen den Willen meiner Mutter zu meinen Vater nach Saarbrücken, um dort in der Gärtnerei auszuhelfen. Vor Ort stellte ich fest, wie großartig es ist, die Möglichkeit zu haben, die Menschen dort zu verstehen. Mir fiel aber gleichzeitig auf, dass die Menschen doch recht kühl und distanziert reagierten, nachdem sie er- fuhren, woher man kommt. Man spürte, dass sich das Wort „Vorurteil“ im Raum befand. Die zwei Wochen gingen schnell vorbei und ich kam mit gemischten Gefühlen wieder nach Hause.

Doch nach fünf Jahren folgte der nächste Aufenthalt in Deutschland (jetzt in Ludwigshafen). Danach das Germanistikstudium, welches mit vielen Ausflügen nach Deutschland verbunden war, und letztendlich noch vier Jahre in Hannover und Köln. Diese Reisen gaben mir einen tieferen Einblick in die Menschen, deren Weltanschauung, Werte und Lebensgestaltung. Es war für mich eine Zeit, in dem mein Leben in zwei verschiedenen Wertsystemen floss. Ich fühlte mich zerrissen.

Aus der Sicht meiner persönlichen Geschichte muss ich feststellen, dass der Einfluss der westlichen Werte nach der Wende eine Art Identitätsdilemma mit sich brachte. Die Zeit vor der Wende sowie kurz danach war in Bezug auf Werte, nach denen sich die Gesellschaft richtete, sehr fremdbestimmt. Nach der Wende kamen neue Werte zum Vorschein, mit denen sich die Gesellschaft erst auseinandersetzen musste. Die Bereiche des Gesellschaftslebens, in denen deutliche Werteänderungen vorkamen, beziehen sich auf Begriffe wie Arbeit, Geld, Familie, Bildung, Glaube.

Der Wert der Arbeit ist im Gesellschaftsleben wichtig in Bezug auf seine Gemeinnützigkeit. Während vor der Wende das Thema der Arbeitslosigkeit kaum ein Thema war, stieg die Arbeitslosenrate nach 1989 sehr, was Massenmigrationen aus ökonomischen Gründen als Folge hatte. Zusätzlich trug auch das Streben der Menschen nach Wohlstand, was in meiner Familiengeschichte deutlich zu sehen ist, zu den Migrationen bei.

Weiterhin änderte sich der Wert des Geldes, der sich auch in Bezug auf den steigenden Konsum der Gesellschaft nach 1989 in den Vorderrund schob. Obwohl ich nur von den Erzählungen meiner Mutter über lange Warteschlangen vor den Geschäften sowie leeren Regalen in den Läden berichten kann, ist der Zugang zu Waren verschiedener Preisklassen heutzutage gewährt. Es ist alles nur eine Frage des Preises und der finanziellen Möglichkeiten des Käufers.

Ein Wandel, der aus Perspektive meiner Lebensgeschichte sich nicht so positiv entwickelt hatte, ist die Sicht auf den Wert der Familie. Die Zahl der Scheidungen, alleinerziehenden Mütter, elternlosen Kinder nahm in den letzten Jahren in Polen enorm zu. Immer mehr Frauen entschieden sich für eine finanzielle Unabhängigkeit (Beispiel: meine Mutter). Einerseits bin ich für die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen, andererseits jedoch muss man sich auch über den Preis dieser Lage bewusst sein. Man sollte den Wert der Familie nicht unterschätzen.

Ein weiterer Aspekt, der vielseitigen Wechseln unterlag, war der Wert der Bildung. Der Zugang zur Bildung sowie die Vielfalt der Möglichkeiten verbreiteten sich nach der Wende wie nie zuvor. In der heutigen Zeit bieten die Schulen ein enormes Spektrum an Lernangeboten von Fremdsprachen inkl. Austauschseminaren im Ausland bis hin zum multimedialen Unterricht an Dorfschulen an. Vor 1989 war das undenkbar.

Zum Schluss wollte ich mich noch kurz mit dem Wert des Glaubens und dessen Wandel befassen. Polen gilt im Vergleich zu anderen europäischen Ländern als ein sehr katholisches Land. Ich erinnere mich auch an viele religiöse Sitten und Bräuche, die in unserer Familie gepflegt wurden. Glaube ist ein Wert, der meines Erachtens nicht so gravierenden Änderungen unterlag wie bei den zuvor beschriebenen Werten. Natürlich gab es Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, doch die Wurzeln dieses Wertes sind so tief in unsere Gesellschaft hineingewachsen, dass der Einfluss der westlichen Werte in diesem Bereich weniger präsent war.

Zusammenfassend bin ich der Meinung, dass die größte Herausforderung, vor der die heutige Jugend steht und mit der sie sich auseinandersetzen muss, die Frage nach der Zusammensetzung des eigenen Wertesystems ist, auf dem man sein Leben aufbauen möchte. Die Werte geben uns eine Art Orientierung, helfen Prioritäten zu setzen, Entscheidungen zu treffen und letzten Endes das Leben zu gestalten.