Der Mythos von Serbien als „ewiges Opfer“

aus OWEP 1/2022  •  von Thomas Roser

Thomas Roser, freier Journalist (geb. 1962), lebt und arbeitet seit 2007 in Belgrad.

Zusammenfassung

Fast zwei Wochen lang sorgte das zum nationalen Befreiungskampf stilisierte Tauziehen um die Australien-Reise des ungeimpften Tennis-Asses Novak Đoković in Serbien für Aufregung. Seine Ausweisung hat den Mythos von den Serben als ewiges Opfer der Weltpolitik neu belebt, es gab aber auch kritische Stimmen.

Mitten zur orthodoxen Weihnachtszeit bescherte eine vergebliche Reise ihres Tennisidols Novak Đoković den Serben zu Jahresbeginn die Wiederbelebung alter Mythen. Die Ausweisung des ungeimpften Tennisstars aus Australien hat in der serbischen Öffentlichkeit die Legende neu belebt, die Serben seien die ewigen Opfer der Weltpolitik.

Nicht nur die Familie von Đoković, sondern auch lokale Medien und Politiker stilisierten das Tauziehen um die Einreise des verhinderten Titelverteidigers der Australian Open zum Befreiungskampf für „Freiheit und Gerechtigkeit“. Die aufgebrachtesten Töne schlug Spielervater Srdjan Đoković an, der Proteste gegen das „Unrecht“ vor dem Parlament in Belgrad organisierte. Die Tenniserfolge seines Sohnes würden schon seit Jahren „viele Mächtige stören“, wetterte der Mann mit dem Megaphon. Der populäre „Nole“ werde daher „wie Jesus ans Kreuz geschlagen“. Sein Sohn solle „wie Serbien zerstört, auf die Knie gezwungen werden“. Doch „wie Serbien“ habe der 20fache Grandslam-Gewinner „niemals jemanden angegriffen, sondern sich immer nur verteidigt“, so der 61jährige. Er erinnerte auch an die NATO-Bombardierung Serbiens während des Kosovo-Kriegs 1999: „Sie wollten uns zu einer Genozid-Nation erklären. Und dann erschien Novak, der das Bild von uns Serben völlig verändert und uns den Stolz zurückgegeben hat.“

Der 20fache Grandslam-Sieger, der schon seit über sieben Jahren ununterbrochen an der Spitze der Weltrangliste thront, ist nicht nur der erfolgreichste, sondern auch der mit Abstand populärste Sportler des Landes. Mit politischen Aussagen hielt sich der 34jährige aber meist zurück: Serbische Nationalisten reagierten selbst erbost, als er bei der Fußball-WM 2018 öffentlich den ins Finale gelangten Kroaten die Daumen drückte. Auffällig hielt der esoterisch angehauchte Đoković auch zu den seit 2012 regierenden SNS-Machthabern stets eine gewisse Distanz: Im Gegensatz zu anderen Spitzensportlern schien er gemeinsame Fotos mit Staatschef Aleksandar Vučić stets zu vermeiden.

Umgekehrt sprang Vučić mehr als willig auf den Zug der von den Boulevardmedien kräftig geschürten Empörung auf. Von einer „politischen Hetze“ gegen Đoković sprach der nationalpopulistische Landesvater. Er sei nur der „Präsident eines kleinen Landes“, werde aber immer die Wahrheit sagen. „Ihr könnt Novak tagelang malträtieren, ihr könnte Tausende von Texten mit den schlimmsten Dingen über den besten Tennisspieler aller Zeiten schreiben. Aber wir werden für ihn kämpfen. Đoković wird immer in unseren Herzen sein.“ Auch Regierungschefin Ana Brnabić versicherte: „Ganz Serbien steht hinter Novak.“ Tatsächlich liegen die Sympathien der meisten Serben beim Tennisstar. Aber so schwarz-weiß wie von Medien und Politik gezeichnet, ist das Bild keineswegs.

An den Demonstrationen in Belgrad nahmen nur 100 bis 200 Menschen teil – nicht wenige davon waren Kameraträger. Das Gedränge vor den überfüllten Covid-Ambulanzen war bedeutend größer. Knapp die Hälfte der Serben ist zudem geimpft, ihr Verständnis für den Impfskeptiker Đoković eher begrenzt. Die Widersprüchlichkeiten um dessen angeblich ausgestandene Infektion und der Verdacht einer manipulierten Bescheinigung sorgte auch in Serbien für Kritik.

Entweder sei Đoković bewusst infiziert herumspaziert oder er habe einen gefälschten Test vorgelegt, so der Epidemiologe Zoran Radovanović. Die windelweichen Erklärungen des Tennisstars stießen auch bei einigen Medien auf Argwohn. Đoković habe gegen die Quarantäne-Bestimmungen „nicht zum Kauf von Brot und Milch, sondern für ein Interview und zum Posieren für einen Foto-Reporter“ verstoßen, schrieb das Wochenmagazin „NIN“: „Oder er war überhaupt nicht krank. In diesem Fall war sein Bescheid schlicht gefälscht.“

Der Kampf um den Titel bei den Australian Open wurde schließlich ohne den Rekordsieger geschlagen. Auf öffentliche Erklärungen zu seiner Abschiebung hat der ausgebremste Seriensieger nach seiner eher stillen Heimkehr verzichtet. Eher unfreiwillig ist Đoković zum internationalen Idol von Impfgegnern mutiert. Der Weltranglistenerste hat andere Sorgen.

Sein Sponsor Lacoste hat ein „Gespräch“ angekündigt. Die Regierungen in Frankreich und Spanien haben bereits verlauten lassen, dass nur vollständig geimpfte Spieler an den Turnieren in Paris und Madrid teilnehmen könnten. Zwar soll seiner Teilnahme in Wimbledon nichts im Wege stehen, doch nicht nur die Tageszeitung „Blic“ sieht die Karriere von Đoković am „Scheideweg“. Entweder werde sich Đoković impfen lassen müssen oder er müsse sich zeitweise zurückziehen – „und warten, bis die Pandemie vorüber geht“, so NIN.

Als „fundamentales Problem“ ihrer Landsleute macht derweil die Dramaturgin Biljana Srblanović auch im Fall Đoković aus, dass „einfache Wahrheiten“ geleugnet und eine „Sonderbehandlung“ erwartet werde. „Wir sind nicht Novak. Und die Serben sind nichts Besonderes, sondern gleich und genauso wie alle anderen. Die Welt hasst uns auch nicht, denn wir sind nicht wichtig. Aber wir hassen die Welt, weil wir denken, dass wir etwas Besonderes sind, aber dass das niemand anderes kapiert.“