Der Traum von „89“

aus OWEP 3/2019  •  von Natasza Stelmaszyk

Dr. Natasza Stelmaszyk (geb. 1968) wuchs in Poznań auf und lebt seit 1987 in Deutschland. Sie ist Literaturwissenschaftlerin, Kultur(ver)mittlerin und Sprachtrainerin für Polnisch sowie in Integrations- und Alphabetisierungskursen.

Dr. Natasza Stelmaszyk (Foto: privat)

Mitte der achtziger Jahre häufen sich die Gespräche meiner Eltern über die Zukunft. Später habe ich erfahren, dass es vor allem um meine Zukunft ging, um die Fragen, in welchem Land oder, besser gesagt, in welcher politischen Lage ich später leben soll. Damals ging ich in ein Lyzeum in Poznań mit humanistischer Ausrichtung und war bei den Pfadfindern aktiv. Eigentlich habe ich in der Zeit des alles regelnden Kommunismus davon Abstand gehalten, einer Gruppe anzugehören. Aber die Pfadfindergruppe in meiner Schule hatte es mir angetan – ihre Mitglieder haben eine Art „Untergrundarbeit“ betrieben, haben sich der Partei nie gebeugt und einige Sachen gemacht, die offiziell verboten waren. In der Schule gab es so etwas wie eine Art Solidarnośćbewegung, die durch provokante Aktionen auf sich aufmerksam machte. Oftmals lagen Flugblätter auf den Fensterbänken, kurz vor der großen Pause ausgelegt. Eines davon habe ich bis heute. Eines Tages hat jemand ein Kreuz als Zeichen der Unbeugsamkeit gegen das kommunistische Regime im Foyer der Schule aufgehängt. Der Schuldirektor war alles andere als einverstanden und ließ es entfernen – kurze Zeit später hing es wieder da. Das Ganze wiederholte sich so lange, bis die Schüler sich entschieden haben, jede große Pause im Foyer zu verbringen und die gesamte Zeit rund um das im Eingangsbereich hängende Kreuz zu stehen – schweigend. Wir nannten es „schweigende Pausen“. Fast alle waren dabei, der Schuldirektor ratlos. Was später passiert ist, weiß ich nicht mehr. Die Mitglieder der schulischen Untergrundorganisation haben die Schule beendet, das Kreuz ist dann verschwunden. Aber wir hatten dennoch gewonnen.

Die Sehnsucht nach der Freiheit hatte damals eben auch diesen Ausdruck. Ich war zu der damaligen Zeit noch nicht so weit, mich tatkräftig an einer Untergrundbewegung zu beteiligen. Die Schule, die bevorstehende Matura und das Pfadfinderdasein haben die Tage geordnet. Aber in der freien Zeit kamen immer wieder Träumereien in einer Art, die man eher Visualisierung nennen würde. In meinen gedanklichen Reisen habe ich mich mit Vorliebe in die „große Freiheit“ begeben. In vollem Ernst hatte ich in der Tagträumerei an ein offenes, freies Polen gedacht. Es war ein Land, das für sich steht und sein Dasein bewahrt und zugleich aber offen für die Welt ist, andere Menschen und Länder schätzt und selbst geschätzt wird. Vor allem aber waren in meinen Visionen die Grenzen in beide Richtungen offen, frei und quasi ausweislos begehbar, heute hier, morgen dort ... Es gab zum Glück von uns allen engagierte Menschen, die sich gegen die damaligen Verhältnisse so stark gewehrt haben, dass die Mauern und der Eiserne Vorhang dann tatsächlich gefallen sind. Das hätte jedoch Anfang oder auch noch Mitte der achtziger Jahre niemand vermutet, es war schlicht undenkbar. Wir waren sogar davon überzeugt, dass wenn es zu konkreten Freiheitsbewegungen kommen würde, dann niemals ohne Blutvergießen. Das am 13. Dezember 1981 ausgerufene Kriegsrecht hat der Kriegsgeneration und ihren Kindern und Enkeln das Blut in den Adern gefrieren lassen, ungute Erinnerungen und Ängste kamen damals hoch. Ich kann mich lebhaft daran erinnern, wie ich damals als Schulkind von meiner Mutter mit den Worten „Steh auf, wir haben Krieg“ geweckt worden bin – noch nie zuvor habe ich sie so erschrocken gesehen; mein Vater und ich brauchten lange, um sie zu beruhigen.

Irgendwann im Jahr 1985 oder 1986, als die Lebensverhältnisse immer schwieriger wurden, reifte in meinen Eltern der Entschluss zur Ausreise. Diese wurde Schritt für Schritt vorbereitet, in größter Verschwiegenheit – keiner in der weiteren Familie durfte davon erfahren. Heute darf man machen, was mal will, verreisen oder auch ausreisen, wann und wohin man es sich wünscht, und es jedem, den man trifft, großzügig erzählen. Ein Land – zwei Welten ... Die Emigration unserer Familie fand 1986 (mein Vater verlässt unerlaubterweise ein Touristenschiff in Hamburg) und 1987 (ich reise mit meiner Mutter „nur zum Besuch“ nach) statt. Die Geschichte dieser Emigration war exemplarisch für abertausende Polen, die später, Anfang des 21. Jahrhunderts von der Wissenschaft als „Emigration der achtziger Jahre“ untersucht worden ist.

Nach der Ankunft in Deutschland haben wir niemals gedacht, dass die Geschichte Polens so schnell eine solche Wende nehmen würde. 1989 sahen wir es dann im deutschen Fernsehen in den Nachrichten und Sondernachrichten, was uns verwundert, elektrisiert und förmlich an das TV-Gerät geklebt hat. Da tat sich etwas absolut Entscheidendes, aber auch Unglaubliches in Polen, in Ungarn, in der DDR. Wir sahen, wie sich vom Geburtsort der Solidarność, von Gdańsk aus, und dann von ganz Polen die Flamme der Freiheit entzündete und auf andere Länder übersprang. Der Fall der Berliner Mauer, des Eisernen Vorhangs und (zum Teil) der Blockaden in den Köpfen der Menschen im Osten und Westen Europas ist vor unseren Augen geschehen. Die ersten fast freien („fast“ war in dieser Situation völlig egal) Wahlen in Polen waren etwas, was wir familiär in die Kategorie der Wunder von 1989 zugeordnet haben. Wir waren froh und glücklich, aber wir waren auch vorsichtig mit unserem Enthusiasmus. Der Glaube daran, dass alles weiterhin friedlich verlaufen würde, war eher verhalten.

Für uns als Einwanderer in Deutschland hat sich von Amts wegen noch lange nichts geändert. Erst 2004, mit der Aufnahmen Polens in die EU und zugleich in den „Schengenraum“, sind alle Lasten von mir und meinen Eltern gefallen – wie ein schwerer Stein, der das Ausleben der Freiheit in vielen Facetten gebremst hat. Traum und Vision sind Wirklichkeit geworden. Von nun an wurden wir von den Behörden wie alle anderen Bürger behandelt und durften dorthin fahren, wohin wir wollten, und auch, so oft wir wollten, auch nach Polen. Hoffentlich bleibt es dabei, damit die Stimmen im Hinterkopf mit dem Stichwort „Polxit“ eine sich nie erfüllende „Vorahnung“ bleiben.

Heute schaue ich aus nächster Nähe darauf, was in Polen passiert, spreche mit den in Polen verbliebenen Familienangehörigen, Freunden, alten Nachbarn, zufällig getroffenen jungen und älteren Polen über das Polen von heute (und, ja, auch von damals). Dank der freien Medien – zumindest ist ein Teil frei – kann ich auch fast täglich verfolgen, was dort Wichtiges passiert. Ob ich nun will oder nicht, bleibe ich politisch und auch stark kulturell in Polen verwurzelt (Kultur und besonders die geliebte Literatur lassen sich ja auch von der Politik nicht trennen) und staune und wundere mich immer noch: über die wunderbare, lichtfrohe, rasante Entwicklung Polens zum Land der Freiheit, ja zum Vorbild – aber auch über das graue, ge- oder verschlossene, intolerante und den Andersdenkenden die Freiheit verweigernde Polen.

Ich fiebre manchmal, je nach Art der Forderung, mit Polen mit, wenn es wichtige Rechte bei der EU durchsetzen will. Ich nehme, wenn ich dort bin, an diversen Demonstrationen teil mit einer Lichtquelle, bilde mit tausenden anderen Bürgern von Poznań das O im Wort VETO, gehe mit einer weißen Rose auf den großen Platz und wundere mich, dass das (immer noch und schon wieder) in Polen und auch in vielen anderen Ländern Europas, in Deutschland, Ungarn usw., notwendig ist. Ich reagiere selbstbewusst auf Zeichen der Fremdenfeindlichkeit, der rechten und ungebildeten Dummheit (die immer mehr um sich greift) und auf herabsetzende Kommentare hier in Deutschland. Da, wo es nötig ist, ergreife ich das Wort, viel zu selten, aber immer wieder – weil ich weiß, wie es vor 1989 war und was „Freiheit“ heißt, und weil ich eine Europäerin und Polin bin, die gern in Deutschland lebt, die – wie ich es stets in den halbjährig fälligen Duldungsanträgen geschrieben habe – „in Deutschland einfach leben möchte“, in der Wahlheimat Nordrhein-Westfalen, und weil ich das Wort „Wolność“, „Freiheit“, mag.

Als ich nach einigen Jahren in Deutschland an der Universität lehren durfte, äußerten sich meine Kolleginnen und Kollegen oft bewundernd und lobend über die Entwicklung Polens (auch wenn ich immer noch vieles erklären musste). Heute, im Sommersemester 2019, wo ein politisch interessierter Student bekräftigt, dass die Teilnehmer des Seminars Polens Lyrik präsentieren müssten, weil es seiner Meinung nach wichtig sei, auch die gute Seite eines der heute „problematischsten“ Länder Europas zu zeigen, spüre ich wieder ein starkes Unbehagen und fühle, dass (immer noch und schon wieder) so viel zu tun bleibt ... dass Verbesserungen nicht von selbst kommen, dass die Leistung der letzten 30 Jahre wegen einiger unglücklich (und dazu noch von einer rechnerischen Minderheit) gewählter Politiker und einiger anderer Ewiggestriger in Gefahr ist und man alles fast von vorn beginnen muss. Ganz wichtig ist aber auch, dass man sich in der EU, in Deutschland und anderswo die Mühe macht, differenzierter auf die Polen als Menschen und auf das gesamte Nachbarland mit seiner noch recht jungen demokratischen Entwicklung zu schauen.