Die endlose Perspektive – der steinige Weg des Westbalkans in die Europäische Union

aus OWEP 1/2022  •  von Dušan Reljić

Dr. Dušan Reljić (geb.1956 in Belgrad) ist Südosteuropa-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und Leiter des Brüsseler Büros der Denkfabrik. Von 1996 bis 2001 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und später Leiter der Abteilung Medien und Demokratie am Europäischen Medieninstitut in Düsseldorf. Der frühere Journalist arbeitete Anfang der 1990er Jahre als Ressortleiter Ausland beim Nachrichtenmagazin „Vreme“ in Belgrad und war Mitgründer der unabhängigen serbischen Nachrichtenagentur „Beta“, bevor er einige Jahre für „Radio Free Europe“ arbeitete. – Der Beitrag stellt allein die Meinung des Autors dar.

Zusammenfassung

Ohne den EU-Beitritt aller Westbalkanstaaten ist dauerhafte Stabilität in Europa nicht erreichbar. Die EU zieht jedoch neue Mauern um die Region hoch und behandelt die stetig autoritärer werdenden Regierungen mit diplomatischem Süßholzraspeln, anstatt von ihnen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzufordern.

Zu den Standardwitzen bei den Tagungen der immer kleiner werdenden Gemeinschaft von Beobachtern der EU-Erweiterungspolitik gehört die Frage, wann Serbien wohl der Union beitreten wird. Sobald die Türkei den Vorsitz im Europäischen Rat hat, lautet die Antwort auf diesen Witz, der das Publikum immer wieder erheitert. Dabei gibt es wenig zu scherzen: Die Aussicht, dass die Europäische Union (EU) den entscheidenden Schritt zur dauerhaften Befriedung Südosteuropas geht und alle postjugoslawischen Staaten in ihren Kreis aufnimmt, ist derzeit so gering wie noch nie.

Die Westbalkanstaaten (Gestaltung und Copyright: Martin Vollnhals)

Serbien ist nicht nur der geografisch zentral gelegene, größte, bevölkerungsreichste und ökonomisch bedeutendste Staat im Westbalkan.1 Etwa die Hälfte der Wirtschaftsleistung der Region entfällt auf dieses Land – allerdings fahren die sechs Volkswirtschaften in der Region insgesamt weniger als die Slowakei ein. Darüber hinaus ist die postjugoslawische Geschichte seit 1991 über weite Teile nicht nur eine Geschichte der Konflikte der früheren „Jugoslawen“ untereinander, sondern auch der westlichen Konfrontationen mit Serbien. Ihr Höhepunkt war die NATO-Intervention 1999. Als Folge kam es zur Teilung Serbiens: Kosovo, die südliche Provinz des Landes, wurde nach dem Ende des Krieges unter UN-Verwaltung gestellt. Die dortige albanische Mehrheit erklärte sich 2008 für unabhängig, mit Duldung der westlichen Mächte. Genauso ist im zweiten schwelenden ethnopolitischen Konflikt in der Region das Handeln Serbiens ausschlaggebend: In Bosnien-Herzegowina spitzen sich die Gegensätze zwischen der dortigen serbischen Entität „Republika Srpska“ und der bosniakisch-kroatischen Föderation (aber auch innerhalb dieser zweiten Entität) fortwährend zu.

Heute geht es darum, die festgefahrenen Verhältnisse in der Region aufzulösen und belastungsfähige Grundlagen für die Zukunft zu errichten. Dafür führt kein Weg an Serbien vorbei: Notwendig ist eine demokratische und ökonomische Festigung, am besten erreichbar über die EU-Mitgliedschaft. Da aber ein EU-Beitritt für alle Westbalkanländer in absehbarer Zukunft nicht in Sicht ist, gewinnt die realistische Erwartung Oberhand, dass ein dauerhaft ungelöster Zustand in der Region bleiben wird – wie auf der Insel Zypern. Deswegen müsste das vorrangige Ziel der westlichen und auch der deutschen Politik in Südosteuropa sein, die Region zumindest davor zu bewahren, dass sie sozioökonomisch weiter zurückfällt und neue Konflikte erlebt. Stattdessen sollten Grundlagen für einen „Aufholspurt“ geschaffen werden. Dies ist die Voraussetzung für nachhaltige politische Reformen und demokratische Konsolidierung, politische Stabilisierung sowie möglicherweise den EU-Beitritt in fernerer Zukunft.

Die ewige Stunde Europas

Noch im Juni 1991, in den ersten Tagen des gewaltsamen Zerfalls Jugoslawiens, erklärte der damalige luxemburgische Außenminister Jacques Poos, der für eine Friedensmission der „Europäischen Gemeinschaft“ auf dem Flughafen von Ljubljana weilte: „Dies ist die Stunde Europas. Es ist nicht die Stunde der Amerikaner.“ Drei Jahrzehnte später kämpft die EU immer noch darum, im postjugoslawischen Raum diesen Beweis zu erbringen. Unentwegt bekräftigen die Staats- und Regierungschefs der Union immer wieder, dass die „Vollmitgliedschaft der westlichen Balkanstaaten eine geostrategische Investition in ein stabiles, starkes und geeintes Europa“ sei. Die Union sieht zudem noch eine „Schlüsselrolle“ für die Länder der Region in den globalen Wertschöpfungsketten, die die EU beliefern. „Langfristig wird dies auch zur strategischen Autonomie der EU beitragen“ steht es in den einschlägigen Brüsseler Verlautbarungen. Dennoch geben nicht wenige EU-Mitgliedstaaten zu, dass sie befürchten, dass „andere Akteure bereit sind, sich in die regionalen Angelegenheiten einzumischen, oft auf unsere Kosten“. Darüber hinaus befürchten einige Beobachter, dass sich die Aussichten für die strategische Autonomie der EU nach dem Austritt Großbritanniens und „dem denkbaren künftigen Beitritt kleiner Balkanstaaten mit geringem Potenzial, aber vollem Stimmrecht“ nicht verbessern werden.

Dieser Sinneswandel ist keine Offenbarung: Seit vielen Jahren ist erkennbar, dass die EU wegen ihrer leeren Versprechungen an Glaubwürdigkeit verliert. Einige Regierungen in der Region orientieren sich deshalb neu und sehen sich nach alternativen internationalen Partnern um. Dennoch geben die Brüsseler Institutionen weiterhin optimistische politische Dokumente über eine „glaubwürdige EU-Beitrittsperspektive“ für den westlichen Balkan heraus. Dabei hat die EU ihre Position nicht mit angemessenen finanziellen Mitteln ausgestattet, schon deshalb ist das Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Im Falle ihres wichtigsten Instruments für die Erweiterungspolitik in den westlichen Balkanstaaten und der Türkei, dem Instrument für Heranführungshilfe (IPA), hat sich die EU dafür entschieden, dessen Finanzierung von einem siebenjährigen Haushaltszyklus zum anderen zu verringern. Der Finanzrahmen für IPA III für den Zeitraum 2021-2027 wurde auf 12,6 Milliarden Euro (zu Preisen von 2018) festgelegt, was in Kaufkraft ausgedrückt ein Prozent weniger ist als das Volumen von IPA II. In den Jahren 2007-2013 verfügte IPA1 über ein Budget von rund 11,5 Milliarden Euro, das Nachfolgeprogramm IPA II für die Jahre 2014-2020 über 11,7 Milliarden Euro. Betrachtet man die Kaufkraft, bedeutet dies sogar einen Rückgang der Summe. Etwa die Hälfte der IPA I- und IPA II-Gelder ging an die Türkei, der Rest verteilte sich auf die „Südosteuropäischen Sechs“ (SEE6), wie die internationalen Finanzinstitutionen die Region nennen. Serbien bekam im Durchschnitt etwa 200 Millionen Euro jährlich aus diesem EU-Haushaltstitel.

EU-Beamte preisen, dass die westlichen Balkanländer im Rahmen von IPA III bis zu neun Milliarden Euro an EU-Zuschüssen über den Wirtschafts- und Investitionsplan erhalten werden. Wenn man bedenkt, dass das jährliche Handelsdefizit dieser sechs Volkswirtschaften mit der EU in den vergangenen zehn Jahren zwischen 7,5 und 9,7 Milliarden Euro lag, lässt sich ermessen, wie wenig großzügig diese Unterstützung tatsächlich ausfiel. Sie half der EU auch nicht dabei, ihre strategischen Ziele zu erreichen. Etwa drei Viertel des Handels der Region findet mit der EU statt (im Falle Serbiens etwa 60 Prozent), hauptsächlich mit Deutschland und Italien. Die meisten ausländischen Direktinvestitionen kommen aus der Union, und der größte Teil des Bankkapitals stammt von Banken in der EU. Es müssen jedoch auch zusätzliche finanzielle Aufwendungen berücksichtigt werden, wie die Rückzahlung von Krediten durch Banken und Regierungen in der EU, die Gewinn-Rückführung aus Investitionen von EU-Unternehmen und die hohen Kosten für staatliche Subventionen, um ausländische Investoren anzuziehen. Eine große Rolle spielt auch, dass viele Menschen aus der Region in die EU abwandern. In Wahrheit führen die Westbalkanstaaten jedes Jahr viel mehr Ressourcen an die EU ab, als sie von der Union erhalten. Das alles führt dazu, dass die Länder immer mehr Wirtschaftskraft einbüßen, schlecht regiert werden und unter Korruption und autoritärer Herrschaft leiden. Das gilt ganz besonders für Serbien unter seinem Alleinherrscher Aleksandar Vučić. Hier liegt eine der wichtigsten Ursachen dafür, dass die Staaten nicht auf EU-Niveau aufsteigen.

Die Mauer wird wieder hochgezogen

Die Region, so wie sie derzeit politisch und ökonomisch aufgestellt ist, kann dadurch nur weiter zurückfallen. Tatsächlich wird in den nächsten Jahren die „Entfernung“ zu den EU-Mitgliedern in Südosteuropa weiter zunehmen, weil für sie Gelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds und Mittel aus den EU-Strukturfonds ausgeschüttet werden. Die Dinge sähen anders aus, wenn die EU die SEE6 mit der gleichen Solidarität behandeln würde wie die wirtschaftlichen Nachzügler unter den EU-Mitgliedern, beispielsweise Rumänien und Bulgarien. Da sie von der EU das Kapital praktisch zum Nulltarif erhalten, wird ihre Angleichung an die Union entscheidend beschleunigt.

Unterschlagen wird, dass auch die SEE6 ihre Märkte für die EU geöffnet haben. Ihre Volkswirtschaften sind tief in die EU-Superstruktur auf dem Kontinent integriert, sogar mehr als im Falle einiger EU-Mitglieder. Trotz des Mantras über die „EU-Perspektive“ und ihres Kandidatenstatus (mit Ausnahme von Bosnien und Herzegowina und Kosovo, die „potenzielle Kandidaten“ sind) haben sie keinen Zugang zu den EU-Strukturfonds, die der Entwicklung dienen. Wesentlich höhere Investitionen in der SEE6-Region zur Verbesserung der Verkehrs- und sonstigen Infrastruktur, zum Schutz der Umwelt und anderer Sektoren kämen jedoch auch den umliegenden EU-Mitgliedern unmittelbar zugute. Die „Dichte“ der EU-Zuweisungen von Zuschüssen an die Mitgliedstaaten in Südosteuropa (Bulgarien, Kroatien, Griechenland, Ungarn, Rumänien und Slowenien) wird in den nächsten sieben Jahren im Vergleich zum westlichen Balkan bis zu elf Mal höher sein.

Neben der Auszahlung von Mitteln aus den Struktur- und anderen EU-Fonds werden die Unionsmitglieder erhebliche Zuweisungen aus dem Post-Pandemie-Wiederaufbaufonds erhalten. Pro Kopf der Bevölkerung erhalten die westlichen Balkanländer im Zeitraum 2021-2027 gerade einmal 500 Euro. Im gleichen Zeitraum erhält Griechenland 5.700 Euro und Kroatien fast 5.200 Euro pro Kopf der Bevölkerung. Infolgedessen wird die sozioökonomische Mauer zwischen den EU-Gebieten und den Nicht-Mitgliedern im Westbalkan noch höher werden und in absehbarer Zukunft unüberwindbar bleiben.

Überall in den postsozialistischen Regionen Europas erwarteten die Menschen eine wirtschaftliche Annäherung an den Rest des Kontinents, akzeptierten einen moderaten Anstieg der Ungleichheit und hofften auf gefestigte Demokratien im eigenen Land. Die Unterstützung für die Demokratie in Gesellschaften, die sich im „Übergang“ befinden, ist an den wirtschaftlichen Erfolg und das Einkommen des Einzelnen gebunden. Der Glaube, dass demokratische Regime einen solchen Wandel herbeiführen werden, ist allerdings inzwischen stark gesunken – so lassen sich auch die Rückschritte in der Demokratieentwicklung erklären sowie der Aufstieg des Populismus. Am stärksten ist das in den Staaten des Westbalkan sichtbar, wo die Folgen der postjugoslawischen Kriege zusätzlich nachwirken und Fortschritte bisher ohnehin dürftig waren. Die Menschen glauben immer weniger daran, dass die EU der Region das geben wird, was sie seit Jahrzehnten predigt.

Nach Berechnungen der Weltbank könnte die Region bei einem jährlichen Wachstum des Bruttoinlandproduktes von mehr als sechs Prozent in etwa 30 Jahren mit dem EU-Durchschnitt gleichziehen. In den vergangenen Jahren lag der Zuwachs etwa bei der Hälfte des Erforderlichen. Es liegt auf der Hand, dass sich die Region nicht allein aus dieser Lage befreien kann. Dazu reichen die eigenständige Kapitalakkumulation, die unzureichende Rechtsstaatlichkeit und der Mangel an guter Regierungsführung nicht aus. Die Bevölkerung hat das längst erkannt und entscheidet sich zunehmend dafür, der Region den Rücken zu kehren und auszuwandern. Zusammen mit den rückläufigen Geburtenraten trägt die Auswanderung entscheidend zum dramatischen Bevölkerungsrückgang zu. Dieser Massenexodus schwächt die Fähigkeit der Gesellschaften, sich zu modernisieren und zu konsolidieren.

Süßholzraspeln hilft nicht

Für die demokratischen und prowestlichen Kräfte in Serbien waren es schwere Rückschläge, als im Herbst 2021 bei ihren (getrennten) Besuchen die EU-Kommissionchefin Ursula von der Leyen und die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel die Reformbestrebungen und die Worttreue des dortigen Autokraten Vučić in höchsten Tönen lobten. So erleben ihn große Teile der serbischen Bevölkerung nicht, schrieb dazu der Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Michael Martens. Nach Berichten der internationalen Menschenrechtsorganisationen befindet sich Serbien, ähnlich wie die EU-Mitglieder Ungarn und Polen, schon längst auf dem Weg zu einer autoritären, rechtspopulistischen Herrschaftsform.

Eigentlich müssten die EU-Politiker deswegen ohne Umschweife die Verantwortlichen für die Verwerfungen in den Bereichen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit benennen, anstatt sie weiter zu hofieren. Ohne diplomatisches Süßholzraspeln sollten eindeutige politische Konditionen vor allem im Bereich guter Regierungsführung benannt werden. Ohne rechtsstaatliche Mindeststandards kann auch die ausgiebigste EU-Wirtschaftssolidarität nicht erfolgreich sein.

In Serbien zeigen Meinungsumfragen, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung einem EU-Beitritt positiv gegenüber steht. Im Vergleich: 2013 stimmte nur jeder Dritte Wahlberechtige in Kroatien dem EU-Beitritt zu. Solche Befragungen zeigen beispielhaft, dass die westlichen Balkanstaaten fest mit den EU-Gesellschaften verwoben sind. Diese Verflechtung ist tiefgreifend und kann nicht einfach durch China und andere Investoren ersetzt werden. Um ihre strategischen Ziele auf dem westlichen Balkan zu verwirklichen, müsste die Union daher ein mit ausreichenden Mitteln ausgestattetes Programm zur sozioökonomischen und ökologischen Angleichung der Region an die EU auflegen. Würde sich die Union dafür entscheiden, die SEE6 so zu behandeln, als wären sie bereits Teil der EU, könnte die geschätzte Finanzierungslast (ohne Inanspruchnahme der aktuellen post-Corona Wiederaufbauhilfen der EU) für die EU-Mitglieder zwischen 0,014 Prozent und 0,026 Prozent ihres jeweiligen Bruttonationaleinkommens betragen. Dies entspräche, nach Berechnungen von Experten der Universität Ljubljana, einem jährlichen Betrag zwischen 1,6 und 10,8 Euro pro Kopf. Dies wäre eine unbedeutende Belastung für die Union, aber eine spielverändernde „geostrategische“ Investition.


Fußnote:


  1. Der Begriff „Westbalkan“ ist seit 1998 gebräuchlich und bezeichnete zunächst alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens und Albanien. Seit dem EU-Beitritt von Slowenien (2004) und Kroatien (2013) werden diese Länder nicht mehr dazu gerechnet. Wenn heute der Begriff fällt, sind also folgende Staaten gemeint: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien. ↩︎