Die Türme Swanetiens
Zusammenfassung
Die Türme Swanetiens sind Weltkulturerbe. Sie sind die Überreste einer einzigartigen Verteidigungsstruktur aus dem frühen Mittelalter. Die Wehrtürme sollten ihre Bewohner vor Feinden und Naturkatastrophen schützen, waren aber auch Wachposten und Signaltürme. Heute sind sie ein Anziehungspunkt für den Tourismus in Georgien.
Raum der Hochkultur
Die im Nordwesten Georgiens gelegene Bergregion Swanetien ist bekannt für die besondere Architektur ihrer Dörfer. Man trifft dort auf die für Europa außergewöhnliche Situation, dass eine ganze Region, das sogenannte „Freie Swanetien“ zwischen den Dorfgemeinschaften Latali und Uschguli, nie unter Lehnsherrschaft stand. Die Bewohner dieser Dorfgemeinschaften konnten sich selbst in der Zeit der Sowjetunion ein eigenes Rechtssystem erhalten.
Swanetien ist trotz seiner Randlage auch ein Raum der Hochkultur, da es sowohl in der Hochphase als auch in der mit dem 13. Jahrhundert beginnenden Phase des Verfalls des georgischen Königtums als Schutz- und Rückzugsraum für Angehörige des georgischen Adels in Zeiten des Krieges gegen vordringende Heere der Mongolen, Perser und Osmanen gedient hatte. So wurde Swanetien zur „Schatzkammer Georgiens“ und seine für Besucher verschlossenen Kirchen beherbergen bis heute wertvolle Wandmalereien, Ikonen und andere religiöse und weltliche Gegenstände.
Diese lange und ereignisreiche Geschichte sowohl am Rande als auch im Zentrum der großen Politik der Kaukasusregion und das damit einhergehende tief eingeschriebene Selbstverständnis der Swanen als Bewohner eines besonderen Kulturraumes hat dazu geführt, dass der in der Zeit der Sowjetunion betriebenen Modernisierung durchaus Grenzen gesetzt waren.
Der Dorfgemeinschaft Uschguli verdankt Georgien eine seiner drei Erwähnungen als UNESCO-Welterbe. Die mittelalterliche Architektur mit ihren Wehrtürmen und Turmhäusern findet sich jedoch in allen Dörfern des früheren Freien Swanetiens noch in großer Zahl.
Die Türme Swanetiens gehören zu einer Reihe von Festungsbauten, die die Nordgrenze Georgiens seit dem Mittelalter schützten. Sie liegen jeweils in Verlängerung der Pässe und Handelswege, die den großen Kaukasus überqueren. Im 12. Jahrhundert errichtete man in Uschguli zusätzlich ein Kastell und eine Burg, in der auch georgische Truppen stationiert waren – hiervon sind heute nur noch jeweils ein Turm und wenige Mauerreste erhalten. Die massiven Türme dienten im von Lawinen bedrohten Norden seit jeher auch als letzter Zufluchtsort für ihre Bewohner.
An den meisten der etwa 500 noch stehenden Türme Oberswanetiens findet man Wehr-Erker und sogenannte Pechnasen. Über diesen sitzt ein Dachstuhl aus Holzbalken, der ein Giebeldach formt. So entsteht der Eindruck, als säße ein kleines Haus auf dem sich nach oben aus statischen Gründen leicht bogenförmig verjüngenden Turmbau auf. Die Dächer sind in der Regel mit Schieferplatten gedeckt. Weniger mächtige, aber ebenso hohe Türme erfüllten Überwachungsfunktionen, ihre Grundfläche bietet aber zu wenig Raum zum Wohnen. Das Innere der vier- bis fünfgeschossigen Türme mit einer durchschnittlichen äußeren Grundfläche von fünf mal fünf Metern wurde als Speicher und Wohnraum auf Zeit mit Kochstellen genutzt. Das Erdgeschoss und bei manchen mächtigen Türmen auch das aufsitzende erste Geschoss offenbaren eine weitere bauliche Besonderheit. Sie enthalten gemauerte Spitzboden-gewölbedecken, die den Eindruck erwecken, als befinde man sich in einem kleinen Haus. Hierdurch werden die gewaltigen Kräfte der schweren Bauwerke auf die ungefähr einen Meter starken, an manchen Türmen noch dickeren Außenmauern und in das Fundament abgeleitet, was die Standfestigkeit der Wehrtürme zusätzlich erhöht.
Manche Türme enthalten innen laufende, verdeckte Steintreppen, die im Verteidigungsfall verschlossen werden konnten und das Erdgeschoss von den Obergeschossen abtrennten. Bei anderen ist das erste Geschoss nur durch eine einziehbare Holzleiter von außen erreichbar. Auch im Inneren finden sich dort, wo die verschiedenen Gebäude aneinander lehnen, Verteidigungselemente wie durch querliegende Balken versperrbare, massive Türen.
Der Begriff des „Freien Swanetiens“ wurde von der zaristischen Verwaltung für die offiziell seit 1853 angeschlossene Region verwendet. Bereits 1847 hatten sich etliche Dörfer dem Zaren unterworfen. Andere weigerten sich wohl auch deswegen, sich dem russischen Rechtssystem zu unterstellen, weil mit der russischen Politik, die Russland auch als zivilisatorisches Projekt verstand, eine Christianisierung im Sinne der russischen Orthodoxie verbunden war. Dies führte vielerorts zu Widerstand, weil das swanische Christentum stark mit dem traditionellen Gewohnheitsrecht verbunden war.
Folgen der Sowjetisierung
Die Sowjetisierung Swanetiens begann planmäßig erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Unabhängig davon, wie man diese letztendlich bewerten mag – sie war von enormem Umfang und mit gewaltigen Kosten verbunden. Einerseits brachte die Sowjetisierung Swanetiens eine Verbesserung der Lebensumstände mit sich, andererseits forderte sie aber auch eine Entwertung der jahrhundertealten Lebensvorstellungen.
Über die genaue Zahl der Türme in Swanetien vor der Sowjetzeit existieren keine Aufzeichnungen. Auf Grundlage historischer Fotografien lässt sich zumindest annehmen, dass deren Zahl früher deutlich größer gewesen sein muss. Vielerorts wurden sie eingerissen, um ihr Steinmaterial für den Bau von Verwaltungsgebäuden, Gemeinschaftsställen und Schulen zu verwenden.
Während die traditionelle Architektur der Bergdörfer Swanetiens einen starken Festungscharakter hatte, indem beispielsweise die Wohnhäuser sich direkt an die Türme anlehnen und durch verschließbare, nach innen gerichtete Verbindungselemente mit diesen zusammengeschlossen sind. Liegen zumindest zwei Gebäude, bestehend aus Turm und Chot mit Machubi und Darbazi aneinander, spricht man im allgemeinen von einer swanischen Festung.
Das wichtigste Element der Architektur der Sowjetzeit sind die Balkon-anbauten, deren Errichtung mit einer Erhöhung der Gebäude verbunden war, in denen die Menschen lebten. Durch den Ausbau des ersten Geschosses wurden Mensch und Tier getrennt: Die Wohnräume wanderten in den ersten Stock. Wo die Tiere noch im selben Gebäude untergebracht blieben, wurde das Erdgeschoss zu einem reinen Stall. Bereits der traditionelle Hausbau kannte bauliche Erweiterungen in Reihe, das heißt ein neuer Gebäudeteil wurde an die bestehenden Gebäude angebaut.
Das in der Dorfgemeinschaft Uschguli ausgezeichnete UNESCO-Welterbe umfasst in einzelnen Monumenten und Gebäudegruppen von Türmen, Kirchen, Wohnbauten und Ställen ausschließlich den Ortsteil Tschashaschi mit einer Fläche von 1,09 Hektar. Dazu kommen 19,16 Hektar Pufferzone, worin die weiteren Ortsteile Murkmeli, Tschwibiani und Schibiani mit einzelnen besonderen Gebäuden und der landwirtschaftlich genutzten Fläche einbezogen sind.
Nach Einschätzung der UNESCO-Kommission repräsentiert die gesamte Dorfgemeinschaft einen Kulturraum, in dem sich die Architektur mittelalterlichen Ursprungs auf einzigartige Weise mit einer beeindruckenden, authentischen Berglandschaft verbinde und sich dank traditioneller Formen der Landnutzung bis heute erhalten habe. Diese sei eng verbunden mit weiteren authentischen Merkmalen traditionellen swanischen Lebens und garantiere den Erhalt der bestehenden Mensch-Umwelt-Beziehung. Besonders hervorgehoben wird die Beschränkung auf lokales Baumaterial und traditionelle Handwerkstechniken – hierbei sind mit insgesamt 200 gezählten Gebäuden mittelalterlichen Ursprungs auch die weiteren Ortsteile Uschgulis einbezogen.
Der Einfluss des Tourismus
Seit der Präsidentschaft Micheil Saakaschwilis (2003 bis 2013) setzen alle Regierungen Georgiens auf den Tourismus zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Seitdem wurden ausländische Direktinvestitionen durch Steuererleichterungen gefördert und der Arbeitsmarkt flexibilisiert im Rahmen einer radikalen Wirtschaftsliberalisierung. Die Besteuerung von Kleinunternehmen wurde de facto abgeschafft, und Georgien gehörte fortan zu den Ländern mit den niedrigsten Steuersätzen der Welt. Indem zugleich alle wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen auf ein Minimum reduziert wurden, musste die stark verarmte Gesellschaft die Hauptverantwortung für die eigene Entwicklung übernehmen.
Von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der touristischen Marke Georgien ist das Weltkulturerbe des Landes wie der georgische polyphone Gesang, die historischen Kirchen von Mzcheta, die Klosteranlage Gelati und eben das Dorf Tschashaschi aus der Dorfgemeinschaft Uschguli. Vierzehn weitere historische Stätten stehen auf der Warteliste der UNESCO.
Wirtschaftsliberalisierung mit ambivalenten Folgen
Vor dem Hintergrund der durch den Staat initiierten Wirtschaftsliberalisierung bei gleichzeitigem Rückzug aus der Sozialversorgung blieb den Bewohnern Swanetiens ebenso wie Georgiern in anderen Landesteilen nichts anderes übrig, als zu touristischen Kleinunternehmern zu werden. Nachdem Swanetien seit etwa 2010 für den Tourismus geöffnet worden war, kam es durch die zusätzlichen Verdienstmöglichkeiten zu einer Revitalisierung der Dörfer. Die Folge war allerdings auch ein völlig ungeregeltes Bauen, zumal der Staat keinerlei Unterstützung beim Erhalt des kulturellen Erbes bot. Nach nur wenigen Jahren touristischer Entwicklung stand die Region mit 190.000 Besuchern (2019) vor enormen sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen.
Die Erwähnung Swanetiens als Weltkulturerbe Georgiens hängt letztlich vom baulichen Zustand nur eines Dorfes und dem Erhalt der es umgebenden bergbäuerlichen Kulturlandschaft ab. Letztere aber verändert sich ebenfalls, da mit dem zunehmenden Tourismus die Zahl der ganzjährigen Bewohner zurückgeht. So bezeichnete das International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) im November 2021 den Welterbe-Status von Oberswanetien erstmal als gefährdet.
Wie knapp das Geld in der Dorfgemeinschaft ist, die Touristen aus der ganzen Welt anzieht, zeigte sich bereits im August 2019, als die Einwohner Uschgulis aus Protest wegen des Einsturzes eines weiteren Turmes die Straße von Mestia nach Uschguli für mehrere Stunden blockierten.
Die Familien können ihr kulturelles Erbe aus eigenen Mitteln nicht erhalten. Vom Staat kommt bislang – mit Ausnahme der Anfangsjahre der Saakaschwili-Regierung – keine finanzielle Unterstützung hierfür, da auch ihm die Steuereinnahmen fehlen. Die UNESCO schließlich fördert den Erhalt kulturellen Erbes nicht finanziell, während die Auflagen für eine denkmalgerechte Sanierung hoch sind.
Hoffnung auf steigende Besucherzahlen
Da die Covid-Krise zu einem vorübergehenden Einbruch der Besucherzahlen in den vergangenen beiden Jahren führte, können gegenwärtig viele Kleininvestoren ihre Kredite nicht zurückzahlen. Für 2020 erhofft man sich einen Wiederanstieg der Besucherzahlen, nicht zuletzt deshalb, weil Georgien von 2020 bis 2023 Partnerland der Internationalen Tourismusmesse in Berlin (ITB) ist.
Die Dörfer Swanetiens stehen vor der Herausforderung, sozial, ökonomisch und ökologisch tragfähige Managementsysteme zu entwickeln, die langfristig die Interessen aller Beteiligter berücksichtigen und marktorientierte Perspektiven für Ackerbau und Viehwirtschaft bieten, andernfalls werden auch die Türme nicht erhalten bleiben.