Himmelstürmende Menschenwerke
Zusammenfassung
Das Phänomen «Turm» ist so alt wie die Menschheit selbst. Türme können Ausdruck menschlicher Hybris sein, wie es schon die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel darstellt, oder aber praktische Funktionen haben. In der russischen Kulturgeschichte lässt sich ein ambivalentes Verhältnis zu Türmen und überhaupt zu technischen Neuerungen beobachten. Verschiedene Projekte von Turmbauten in der sowjetischen Zeit, von denen manche nie realisiert wurden, zeigen den Versuch, die Überlegenheit des kommunistischen Systems herauszustellen.
Die Rolle von Freund und Feind
Seit jeher bauen Menschen Türme, um zu sehen oder um gesehen zu werden. Der militärische Turmbau begründet damit im Sinne des Staatsrechtlers und Philosophen Carl Schmitts das Politische. Schmitt hatte „das Politische“ definiert als jenes menschliche Urteilsfeld, das zwischen Freund und Feind unterscheidet – so wie die Ethik zwischen Gut und Böse oder die Ästhetik zwischen Schön und Hässlich. Wer in das Gesichtsfeld des Spähers auf dem Turm gerät, ist ein potenzieller Feind. Dabei ist die Informationslage asymmetrisch. Wer gesehen wird, muss sich dem Sehenden auf dem Turm gegenüber als Freund ausweisen, wenn er nicht als Feind behandelt werden will.
Die politische Funktion des Turms erfüllt sich auf einer horizontalen Ebene. Der erhöhte Standpunkt des Beobachters auf dem Turm dient der Erweiterung des Gesichtsfelds in alle Himmelsrichtungen, aber nicht nach oben. Neben der politischen Funktion gibt es zudem eine religiöse Funktion des Turmes, in der die Vertikale in den Vordergrund rückt. Paradigmatisch zeigt sich dieser Aspekt im Motiv des Turmbaus zu Babel. Die nur neun Verse kurze Erzählung findet sich im 1. Buch Mose und ist in der Frühzeit der Menschheit angesiedelt. Die Menschen sprechen noch alle in einer Sprache und wollen einen Turm bauen, dessen Spitze an den Himmel reicht, „auf dass wir uns einen Namen machen“. Gott gebietet diesem Treiben ein Ende und verwirrt die Sprache der Menschen.
Der Turmbau zu Babel ist mithin der Inbegriff der menschlichen Hybris. Der Turm dient gewissermaßen als vertikale Straße, auf der sich der Mensch zu Gott aufmacht.
Die himmlische Gastfreundschaft soll aber nicht von den Menschen definiert werden. Gott setzt die Trennung von Menschlichem und Göttlichem nicht durch eine physische Zerstörung des Turms durch, sondern durch die nachhaltige Störung der menschlichen Kommunikation. Der Drang nach oben wird also durch eine Verkürzung der Verständigungsreichweite gestoppt.
Türme in der russischen Kulturgeschichte
In der russischen Kulturgeschichte lassen sich ambivalente Rezeptionen des Turmbaus zu Babel beobachten. Der Schriftsteller Fjodor Dostojewski besuchte 1862 London, wo er den berühmten Kristallpalast der Ersten Weltausstellung besichtigte.
Ein Zeitgenosse lobte den Bau als „bisher unerreichten Raumeffekt, eine erweiterte Perspektive, eine bisher unbekannte allgemeine Leichtigkeit mit märchenhafter Strahlkraft“. In seinen Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke (1862) zeichnet Dostojewski hingegen ein düsteres Bild dieses architektonischen Wurfs des britischen Architekten Joseph Paxton.
Schon das Veranstaltungsformat der Weltausstellung erregt seinen Unwillen: „Man blickt auf diese Hunderttausende, auf diese Millionen von Menschen, die gehorsam von allen Enden des Erdballs herbeiströmen. Menschen, die sich, alle mit derselben Absicht gekommen, leise, beharrlich und schweigend in diesem kolossalen Palast zusammen-drängen; und man spürt, dass sich hier etwas Endgültiges vollzogen hat. Das ist ein biblisches Bild, etwas von Babylon, eine Prophezeiung aus der Apokalypse, die sich hier vor aller Augen vollzieht.“
Noch zwei Jahre später hält es Dostojewski für nötig, am Kristallpalast herumzunörgeln. Der „homme révolté“ der Aufzeichnungen aus dem Untergrund (1864) träumt davon, diesem Bauwerk „die Zunge rauszustrecken“.
Die Aufzeichnungen aus dem Untergrund waren eine polemische Replik auf Nikolaj Tschernyschewskis sozialutopischen Roman Was tun? (1863). Tschernyschewski hatte in seinem Text nach Ideen des französischen Frühsozialisten Charles Fourier eine antikapitalistische Vision eines harmonischen Zusammenlebens entworfen, das sich in einem großen Glas- und Stahlgebäude nach dem Muster des Londoner Kristallpalastes abspielen sollte. Was also bei Tschernyschewski uneingeschränkte Begeisterung hervorruft, weckt in Dostojewski tiefstes Misstrauen.
Tschernyschewski will die Menschen zu einem rationalen Ideal führen. Der Turmbau zu Babel ist bei ihm eine positive Vision: Wenn die Menschen in einem gemeinsamen Effort den Himmel stürmen (der für Tschernyschewski ohnehin leer ist), dann zeigt sich darin die höhere Bestimmung der Menschheit, die sich selbst auf gerechte und auch ästhetisch ansprechende Weise organisieren kann. Im Gegensatz dazu erblickt Dostojewski im Turmbau zu Babel jene Ursünde, die er in der berühmten Großinquisitorlegende aus den Brüdern Karamasow (1880) der römisch-katholischen Kirche vorwirft. Der Großinquisitor schiebt sich mit seinem Heilsmanagement an die Stelle Gottes und maßt sich an, selbst menschliche Sünden zu vergeben. Gottesfurcht ist aus Dostojewskis Sicht die erste Bedingung moralisch guten Handelns. Der Kristallpalast ist für ihn das Mahnmal einer gottvergessenen Technikbegeisterung, die sich ihre eigenen Idole schafft.
Ein Turm, der polarisiert
Der Eiffelturm, der 1889 für die Pariser Weltausstellung erbaut wurde, stellte sogar den Londoner Glaspalast in den Schatten. Gerade der himmelstürmende Aspekt des Bauwerks erregte jedoch den Ärger zahlreicher Intellektueller. Im Jahr 1887 unterzeichneten 300 Schriftsteller und Künstler, unter ihnen Alexandre Dumas, Guy de Maupassant und Charles Gounod einen offenen Brief an den Bürgermeister der Stadt Paris. Sie bezeichneten den „lächerlichen Turm“ als „sinnlos und monströs“. Er dominiere das Stadtbild wie ein „gigantischer Fabrikschornstein“. Begeistert waren hingegen die Modernisten: Der französische Dichter Guillaume Apollinaire verfasste ein Kalligramm in der Form des Eiffelturms, Marc Chagall, Henri Rousseau und Robert Delaunay legten ihre abstrakten künstlerischen Visionen des Bauwerks vor.
Der Futurist Wladimir Majakowski forderte den Eiffelturm in einem Gedicht von 1923 eifersüchtig auf, ihm „mit seinen vier kräftigen Pfoten“ nach Sowjetrussland zu folgen. Für Majakowski stand der Eiffelturm am falschen Platz: Im bürgerlich-dekadenten Paris war das Bauwerk nur auftrumpfende Dekoration. Im ersten sozialistischen Staat der Welt hingegen würde der Eiffelturm ein wahres Denkmal der aufstrebenden Ingenieurskunst darstellen.
Überhaupt war die frühe Sowjetkultur von Türmen besessen. Der russische Künstler Wladimir Tatlin entwarf sein berühmtes „Denkmal der III. Internationale“ (1919) offensichtlich nach dem Vorbild von Pieter Bruegels Gemälde „Turmbau zu Babel“.
Beide Türme sind geneigt und verfügen über Spiralbänder, die sich verengend in die Höhe winden. Tatlins Turm wurde nie gebaut – die angepeilte Höhe von 400 Metern wäre auch technisch nicht machbar gewesen. 1922 entstand der Moskauer Funkturm des bedeutenden Ingenieurs Wladimir Schuchow. Der Funkturm wurde für den Komintern-Sender gebaut, diente also just einem Anti-Babel-Projekt. Die Komintern-Sendungen sollten alle Proletarier vereinigen. Die Sprache des sozialistischen Aufbaus und der revolutionären Umgestaltung des Lebens wurde zum Ersatz für einen schweigenden Gott, der sich weder zum Elend der Arbeiter noch zur ungerechten Ständeordnung der zaristischen Gesellschaft geäußert hatte.
Das Projekt des „Sowjetpalastes“
Noch deutlicher wurde das Motiv des Turmbaus zu Babylon bei den grandios gescheiterten Plänen zum Bau eines Sowjetpalastes. 1931 wurde die Erlöserkirche am Ufer der Moskwa gesprengt. Die monumentale Kathedrale, die an den russischen Sieg über Napoleon erinnern sollte, war erst 1883 nach über 50 Jahren Bauzeit fertiggestellt worden. Die Herausforderung der russischen Orthodoxie durch den geplanten Sowjetpalast zeigte sich nicht nur in der blasphemischen Wahl der Baustelle. Das Siegerprojekt des Architekten Boris Iofan sah einen Turm mit der Gesamthöhe von 415 Metern vor. Der oberste Teil des Turms wäre eine kolossale Lenin-Statue gewesen, die selbst eine Größe von 100 Metern erreicht hätte. Diese Dimensionen erklärten sich daraus, dass der Sowjetpalast erklärtermaßen das größte Gebäude der Welt werden sollte. Die zu schlagenden Konkurrenten verblieben unter der Marke von 400 Metern: Der Eiffelturm in Paris erreichte eine Höhe von 330 Metern, das Empire State Building in New York 381 Meter. Gerade die vertikale Dominante schien Iofan den Sieg im Architekturwettbewerb gesichert zu haben. Auch Le Corbusier hatte sich mit einer Eingabe an der Ausschreibung beteiligt. In seinem modernistischen Projekt schlug er einen ausgewogen dimensionierten Gebäudekomplex mit geschwungenen Formen vor, der nur sehr bedingt in die Höhe strebte.
Iofans größenwahnsinniges Projekt des Sowjetpalasts erhob den Revolutionsführer zu einem Quasi-Gott, der im Himmel dem Sowjetvolk den Weg in eine glückliche Zukunft wies. Im Gegensatz zum alten Gott, der gemeinsam mit dem Zaren – seinem Stellvertreter auf Erden – gestürzt worden war, zeigte sich Lenin den Menschen und sprach durch Stalin zu ihnen. Dieser Anspruch der Parteiführung verdichtete sich Ende der 1930er Jahre in der Losung: „Stalin – das ist Lenin heute.“
Gleichzeitig verkörperte Iofans Sowjetpalast auch in aller Deutlichkeit die diktatorische Wende des Bolschewismus. Während Tatlins spiralförmig aufsteigender Turm noch die Repräsentation der Massen durch die Parteispitze symbolisiert hatte, wurde nun klar, dass der Revolutionsgott Lenin von oben herab herrschte. Der Zweite Weltkrieg machte allerdings Iofans ambitionierte Pläne zunichte. Nach 1945 versuchte man, das Projekt zunächst durch eine Redimensionierung zu retten: Die Gesamthöhe hätte dabei auf 270 Meter reduziert werden sollen. Allerdings änderte sich nach dem Krieg der Architekturgeschmack.
Stalin bevorzugte nun den „Zuckerbäckerstil“, in dem in den Jahren 1947 bis 1957 sieben hohe Gebäude im Moskauer Stadtzentrum errichtet wurden. Die wichtigsten davon sind der Neubau der Lomonossow-Universität, das Außenministerium und das Hotel „Leningradskaja“.
Die Ironie der Geschichte – oder möglicherweise das Eingreifen des eifersüchtig über sein exklusives Wolkendomizil wachenden Herrn – wollte es, dass nur das Fundament des Sowjetpalasts erstellt wurde. 1960 wurde es in ein öffentliches Schwimmbad verwandelt. Immerhin war das Schwimmbecken das größte der Welt.
Türme im postsowjetischen Russland
Der aufstrebende Gestus der Sowjetkultur hatte seinen architektonischen Ausdruck im Turmbau gefunden. Das änderte sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Die 1990er Jahre wurden in Russland in Metaphern des Niedergangs, des Chaos und des Abgrunds wahrgenommen. Präsident Boris Jelzin hatte zwar mit seinem Widerstand gegen den Augustputsch 1991 ein enormes politisches Kapital angehäuft. Allerdings blieb sein ikonischer Auftritt auf einem Panzer in der Moskauer Innenstadt seine einzige nachhaltige, politische Leistung. Deshalb zog er sich in Innenräume zurück, die er nun aufwändig restaurierte. Er stellte die Prunksäle des Großen Kremlpalastes, die unter der Sowjetherrschaft ausgeräumt worden waren, wieder her.
Das neue Selbstbewusstsein des postsowjetischen Russlands zeigte sich indessen bald im neuen Stadtteil „Moscow City“, in dem seit 2000 zahlreiche, bis zu 330 Meter hohe Wolkenkratzer entstanden sind. Diese glitzernden Glas- und Stahlkonstruktionen erinnern an den Londoner Kristallpalast, allerdings mit einem in die Höhe gedrehten Hauptvektor. Es ist bezeichnend, dass sich in den Türmen der „Moscow City“ nicht der Staat, sondern die Wirtschaft einmietet.
Der russische Staat, der seine Feinde sehen will, braucht im 21. Jahrhundert keine Türme mehr. Mittlerweile lässt sich der öffentliche Raum einfacher und billiger mit Videokameras überwachen, von denen es in Moskau mehr als 200.000 gibt. Die Dominanz der Vertikalen im autoritär regierten öffentlichen Raum hat sich in eine Omnipräsenz einzelner Augen verwandelt, die keinen Schlaf brauchen. Die schon immer geltende Sozialkontrolle ist dadurch um eine vierte Dimension erweitert worden – das Bewusstsein, dass man nicht mehr selbst wahrnehmen kann, wann man überwacht wird und wann nicht. Die autoritäre politische Ordnung in Russland funktioniert heute nicht mehr nur nach dem stalinistischen Prinzip „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“. Zusätzlich erhält sie eine quasi-religiöse Allmacht: Wie das Auge Gottes sieht der Kreml, ohne selbst gesehen zu werden.