Jenseits der Berliner Mauer: Menschenwürde?

aus OWEP 3/2019  •  von Konstantin Sigow

Konstantin Sigow (geb. 1962) ist seit 1992 Direktor des European Humanities Research Centre der „Kiev-Mohyla Academy“ (Ukraine) und dort auch Professor im Culture Studies Department.

Was war bis 1989 die Logik in der UdSSR, wie wir sie in Erinnerung haben? Je weiter man sich östlich der Berliner Mauer befand, desto größer waren die Chancen auf Rechtlosigkeit und Erniedrigung des Menschen. Die Widerstandspunkte gegen den Trend des homo sovieticus erlaubten uns eine besondere Erfahrung: Wenn der Mensch irgendeine „Würde“ besitzt, dann ist es, dass sie niemand ihm wegnehmen kann; nur er allein kann sie abgeben, und er kann „nein“ sagen. Weswegen flohen – unter Lebensgefahr – Menschen auf die westliche Seite der Mauer? Es war ihr Suchen nach einem Raum menschlicher Würde. Die Motive konnte man als unterschiedlich bezeichnen, aber unter dem Strich suchten die Menschen Freiheit und ein Leben, das des Menschen würdig ist. Insbesondere wegen dieser Fluchtbewegungen aus der „Zone der Unwürde“ wurde die Mauer in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 errichtet. Einen grandiosen Festungsbau bildeten zwei Mauern mit einer Höhe von 3,6 Metern und einer Länge von 155 Kilometern, die durch ein Niemandsland voneinander getrennt waren und unter der Bewachung von 14.000 Soldaten mit Maschinengewehren standen.

Die Mauer gegen den Westen bauten jene, die daran gewöhnt waren, einen jeden Feind des Sowjetsystems als „Faschisten“ zu bezeichnen und sich selbst – ohne falsche Bescheidenheit – als „Antifaschisten“. Die Mauer schnitt nicht nur Berlin in zwei voneinander isolierte Teile. Die Mauer war ein sinnbildlich verwirklichtes Monument für das von George Orwell beschriebene „Doppeldenken“. Vom Westen aus attackierte sie niemand und sie schützte auch niemanden vor den „Feinden“, gegen die sie gerichtet war. Die Mauer versperrte den „eigenen“ Menschen den Weg, jenen, die die Lüge der Sowjetführung nicht mehr hören noch aushalten konnten, sie ließ nicht zu, das Lager zu verlassen, das von seiner eigenen Lüge belagert wurde.

Drei Jahre vor dem Fall der Mauer in Berlin stürzte eine andere Lügenwand ein – mit ihr versuchte die Sowjetmacht, die Katastrophe von Tschernobyl zu verstecken. Die Explosion im Tschernobyler Atomkraftwerk am 26. April 1986 führte zur größten Emission von Radioaktivität in der Geschichte der Kernenergie. Fünf Tage lang versuchten westliche Radiostationen darüber zu informieren, sie wurden in der UdSSR unterdrückt, und mit munterer Lüge jagte man die Menschen in Kyjiw und in anderen Städten zu den 1. Mai-Demonstrationen auf die Straße. Aber am 2. Mai befiel die Ukraine und Weißrussland eine Panik, als die Menschen erfuhren, dass die sowjetische Nomenklatura ihre Familien evakuierte. Millionen von Menschen verloren auf Anweisung des Kremls das Recht auf Leben und auf die Wahrheit über die Lebensgefahr für ihre Nächsten. Viele Menschen verloren ihre Zukunft, und sie verloren ihre Würde, was in der UdSSR schon lange nichts Neues war. Neu war, dass Millionen von Menschen von diesem Betrug erfuhren, und nicht nur einige hundert Dissidenten. So bewegte sich diese Nachricht auf der anschwellenden Welle der „Glasnost“, die letztendlich sowohl die Mauer als auch die UdSSR hinwegfegte.

Aber die sowjetische Routine des Staatsmonopols auf die Lüge überlebte alle Metamorphosen der 1990er Jahre und alle westlichen Illusionen über eine Beendigung des „Kalten Krieges“ und der Konfrontation von Ost und West.

Der russische Historiker Alexander Kojre beschrieb die totalitaristische Lüge der Stalinisten als eine Logik von Untergrundkämpfern, die die Staatsmacht übernommen hatten. Im engen Kreis der „eigenen“ Leute entscheidet man das Szenarium der Spezialoperationen und das Sortiment der Masken, die den außenstehenden Beobachtern gezeigt werden sollten, damit sie durch Loyalitätsgesten in die Irre geführt werden. Die Logik der Agenten der Geheimdienste, die von den neuesten Technologien noch verstärkt wird, übertrifft in nachsowjetischer Zeit frühere Maßstäbe der Propaganda.

Im Westen will man nicht begreifen, dass für die Nachfolger der Bolschewiki beliebige Ideen Waffen sind, die zur Desorientierung des Feindes und nicht zum Ausdruck irgendwelcher Überzeugungen verwendet werden. Zum Beispiel verhält man sich im Kreml zu solchen Konstruktionen wie den „traditionellen Werten“ genauso, wie man sich über die Dauer von 28 Jahren gegenüber der Berliner Mauer verhalten hat. Welche Werterhetorik hinderte daran, den Regimekritiker Boris Nemzow 2015 direkt an der Kremlmauer zu ermorden und Jahr für Jahr die Blumen zu vernichten, die die Menschen an den Ort seines Todes bringen?

Aber für die Erinnerung an die Menschenwürde gibt es auf den neosowjetischen Erinnerungs- und Kulturterritorien keinen Platz. Das schockiert die Gleichgesinnten Boris Nemzows oder die Mitbürger des in Russland inhaftierten Filmregisseurs Oleg Senzow schon lange nicht mehr.

Ein Schock war die Weigerung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 24. Juni 2014, eine Diskussion über die Untersuchung der Katastrophe des Boeing-Flugs MH 17 durchzuführen. Das unbequeme Thema erwies sich für die Deputierten als Tabu. Das Thema des Todes von vier Deutschen, vier Belgiern, zehn Briten, 192 Holländern und vieler anderer? Was denken diese Deputierten über die Menschenrechte und über ihren Ursprung – die menschliche Würde? Was hat sie dazu gebracht, damit einverstanden zu sein, dass die Europäer ihr Recht auf Leben verlieren? Welches Verhältnis haben diese Menschen (und ihre Wähler) nicht zur Rhetorik des Jubiläums 1989-2019, sondern zur realhistorischen Zerstörung der Berliner Mauer und des zynischen Systems, das sie errichtete und fast 30 Jahre lang erhielt?

Europa hat in den vergangenen drei Jahrzehnten die tiefe Bedeutung des Erdbebens von 1989 noch nicht erkannt. Eigentlich sind wir heute aufgerufen, seinen Sinn wirklich zu erkennen. „Es brachte die Bewohner Westeuropas in eine neue Rolle, indem es ihnen die Verantwortung für den Zustand ihres ganzen Kontinents auferlegte“ (Luuk van Middelaar). Aber mit dem Bewusstsein dieser Verantwortlichkeit sind heute zu viele überfordert.

Es wäre ein großer Fehler, sich von den Folgen der sowjetischen anthropologischen Katastrophe abzuwenden. Das führte bereits zu einer neostalinistischen Revanche, einem Krieg, zwei Flugstunden von Berlin entfernt, zur Annexion der Krim und einem offenen Bruch des internationalen Rechts und des Paradigmas der Menschenrechte. Nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern auch die Bürger benachbarter Länder zu verderben – das ist die neue Ambition des homo sovieticus.

Das Erkennen des dornigen Weges vom homo sovieticus *zum *homo dignus und der scharfe Zickzackkurs auf diesem historischen Gebiet beginnt gerade erst. Anne-Marie Pelletier bemerkt dazu: „Der homo dignus ist dem entstellenden Blick unerreichbar, der die Welt auf der Grundlage der Feindseligkeit gegenüber dem anderen, der grenzenlosen Selbstbestätigung, des Zwangs zur Lüge wahrnimmt.“

Ein enorm wichtiger Impuls, zu dem der dreißigjährige Fall der Berliner Mauer unsere Gedanken lenken kann, könnte es sein, dass man damit beginnt, die Aufmerksamkeit unserer Zeitgenossen auf das Ethos der Menschenwürde als Leitmotiv unserer Zeit zu richten (ungeachtet der umgebenden Kakophonie, so paradox das auch klingen mag).

Deutsch von Friedemann Kluge.