„Kleiner Eiffelturm“ als Zeugnis tschechischen Selbstbewusstseins
Zusammenfassung
Der Aussichtsturm auf dem Petřín-Hügel oberhalb der Moldau in Prag erinnert an den Pariser Eiffelturm. Erbaut wurde er 1891 und bot erstmals eine Fernsicht über Prag. Als der Aussichtsturm stand, wurde er gleich zum Publikumsmagneten, daran hat sich bis heute nichts geändert. Kilian Kirchgeßner hat mit der Historikerin Jaroslava Nováková den Turm besucht.
Ausdruck wirtschaftlicher und kultureller Stärke
Es ist gedrängt voll auf den Stufen, die spiralförmig um den Turm gewunden sind und bis hinauf auf die Aussichtsplattform führen. 299 Stufen sind es bis nach ganz oben, und gerade macht sich eine tschechische Schulklasse an den Aufstieg, es wird gekichert und gekreischt. „Wussten Sie eigentlich“, fragt Jaroslava Nováková mit Blick auf das Gedränge, „dass dieser Turm zu den zehn meistbesuchten Sehenswürdigkeiten bei uns in Prag gehört?“
Jaroslava Nováková ist Historikerin, eine Dame um die 60 und ausgewiesene Kennerin der Prager Geschichte. Sie arbeitet bei der Prager Tourismus-Behörde, die den Aussichtsturm betreibt. Wenn sie erzählt, fließt beides zusammen: die touristenumlagerte Gegenwart des Aussichtsturms und seine Baugeschichte rund um das Eröffnungsjahr 1891, die in eine der bemerkenswertesten Epochen der jüngeren tschechischen Geschichte fiel. Es war die Phase der Nationalbewegung, in der sich das Bewusstsein der Tschechen innerhalb der Habsburger Monarchie für das Eigene, für das spezifisch Tschechische schärfte. „Dieser ganze Prozess damals im 19. Jahrhundert zielte auf eine wirtschaftliche, aber auch kulturelle Stärke“, sagt Historikerin Nováková: „Und damit einher geht der Bedarf, schöne neue Bauwerke zu errichten. In der gleichen Zeit wie der Aussichtsturm wurde das Nationalmuseum am Wenzelsplatz gebaut und sogar schon einige Jahre früher das Nationaltheater.“ Repräsentative, beeindruckende Gebäude als Ausweis der kulturellen Eigenständigkeit – das war damals ein leitender Gedanke. Und als der Aussichtsturm dann stand, wurde er gleich zum Publikumsmagneten; daran hat sich bis in die Gegenwart nichts geändert.
Kurz vor dem Bau des Prager Turms fand in Paris die Weltausstellung des Jahres 1889 statt. Eine gewaltige Messe war es, inmitten des unaufhaltsamen technischen Fortschritts und des Glaubens an die unbezwingbare Kraft der Moderne. Der Eiffelturm in Paris wurde für diese Weltausstellung gebaut – und wer schon einmal seine gewagte Konstruktion aus Eisenträgern bestaunt hat, kann sich vorstellen, wie gewaltig dann erst die Wirkung zu seiner Entstehungszeit gewesen sein muss. Eine tschechische Delegation jedenfalls war auch vor Ort, und ihre Mitglieder waren so angetan vom Eiffelturm, dass sie umgehend eine Nachbildung in Prag ins Werk setzten.
„Man darf sich aber unseren Prager Turm nicht als Reproduktion des Eiffelturms vorstellen“, sagt Nováková, auch wenn – das muss sie bestätigen! – die Anmutung wegen der Eisenkonstruktion eine ganz ähnliche ist. Der Eiffelturm aber hat einen viereckigen Grundriss, das Pendant in Prag einen achteckigen. Der Eiffelturm ist 330 Meter hoch, der Prager nur 58,70 Meter. Obwohl die Höhe, aus der die Besucher über die Stadt schauen, exakt gleich ist – diese Parallele zumindest lässt sich bei allen Unterschieden nicht leugnen.
Als Standort für den Aussichtsturm nämlich wählten die Prager den Petřín-Hügel, eine Art Hausberg von Prag. Zu Deutsch heißt er nach der historischen Kapelle in unmittelbarer Nähe des Aussichtsturms Laurenziberg. Er ist Teil der Hügelkette, die die im Moldautal gelegene Stadt umschließt. Und weil das Baugrundstück auf dem Petřín selbst schon 324 Meter über dem Meeresspiegel liegt, konnte der Aussichtsturm niedriger sein als in Paris, wo der Eiffelturm in einer Ebene steht – und trotzdem mit der Besucherplattform die gleiche Höhe erreichen.
Die Prager Delegation, die in Paris den Eiffelturm bestaunte, gehörte zum "Klub českých turistů", eine Art tschechischer Wanderverein ist das, den es bis heute gibt. Damals war es ein neuer Verein: „Solche tschechischen Verbände konnten sich erst ab den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts bilden“, sagt Nováková mit Blick auf die strengen Gesetze in der Monarchie – aber dann entstanden zeitgleich etliche Vereine, die allesamt das Land prägten. Neben dem Wanderverein war es etwa der Turnverein Sokol, der patriotische Gesangsverein Hlahol oder der Literatenzirkel Svatobor. „Sie alle hängen eng mit der Entstehung einer modernen tschechischen Nation zusammen“, sagt Nováková.
Aufbruchstimmung
Ein Heimatgefühl, eine Aufbruchstimmung prägte diese Jahre, und der Aussichtsturm auf dem Petřín sollte zum sichtbaren Ausdruck dieser entfesselten Kräfte werden.
Die Stadt Prag stellte das Baugrundstück zur Verfügung, der Architekt Vratislav Pasovský plante den Turm, und die Ingenieure František Prášil und Julius Souček aus dem Böhmisch-Mährischen Maschinenwerk tüftelten die Konstruktion aus. Zeitgleich ging der Klub českých turistů als Urheber der Idee auf Geldsammlung unter den wohlhabenden tschechischen Bürgern der Stadt. „Sie hatten ein starkes Argument, mit dem sie damals warben“, sagt Nováková: „Die Prager hatten aus ihrer Stadt nämlich noch nie eine Fernsicht gehabt. Selbst von den höchsten Kirchtürmen aus ging der Blick maximal bis zu den Hügeln, die die Stadt umgeben.“
Die Initiatoren verkauften die Anteilsscheine also mit dem Slogan, dass die Prager künftig bis ins Riesengebirge schauen könnten – eine Vorstellung, die alles bisher Dagewesene sprengte. „Anders als heute waren Aussichtstürme damals ja eine Rarität, eine wirkliche Besonderheit“, sagt Historikerin Nováková. Und dann nickt sie zustimmend mit dem Kopf: „Ihr Versprechen haben die Initiatoren gehalten. Bei guten Sichtverhältnissen kann man vom Turm aus tatsächlich 160 Kilometer weit ins Land blicken.“
Spektakulär war aber allein schon der Bau: Die Eisenkonstruktion war damals eine technische Neuheit; die 175 Tonnen Stahl werden von Nieten zusammengehalten, die Handwerker in glühend heißem Zustand einbauten. „Nun konnte man aber nicht auf den verschiedenen Ebenen des Turms Feuer entfachen, um dort die Nieten an Ort und Stelle zu erhitzen“, so Nováková. Es gab also ein großes Feuer am Boden, und von dort aus wurden die Nieten emporgeschleudert und oben von den Arbeitern mit großen Zangen aufgefangen.
Wunder der Prager Ingenieurskunst
Unter den Pragern war der Turm allein deshalb schon zu seinen Entstehungszeiten eine Attraktion: Regelmäßig bildeten sich Menschentrauben rund um den Bauzaun; die Schaulustigen bestaunten dieses Wunder der tschechischen Ingenieurskunst. Und an Anziehungskraft hatte der Turm auch nach seiner Fertigstellung nichts eingebüßt: Ab dem ersten Tag strömten die Besucher auf den Petřín, um ihre Stadt mit neuen Augen zu sehen.
Ein durchschlagender Erfolg wurde auch der Anlass, für den der Aussichtsturm damals konstruiert wurde: die „jubilejní zemská výstava“ im Jahr 1891. Eine Art Leistungsschau der böhmischen Industrie war das, veranstaltet zum 100. Jahrestag der ersten Ausstellung dieser Art.
Der Aussichtsturm sollte allen Besuchern die Überlegenheit der einheimischen Industrie vor Augen führen – so ähnlich, wie das bei der Weltausstellung in Paris mit dem Eiffelturm ja auch gedacht war. Die Prager Ausstellung verlief glanzvoll, nahm aber auch schon eine Entwicklung der dann folgenden Jahre vorweg: Es kam zu einem Auseinanderbrechen der Unternehmer aus Böhmen und Mähren, und zwar entlang ethnischer Linien. Viele deutschsprachige Unternehmer boykottierten die Ausstellung – das waren erste Vorboten der aufbrechenden Nationalitätenkonflikte.
Dass ganz oben, auf dem höchsten Punkt des Turms, eine stilisierte Krone angebracht wurde, war damals wohl ein Zugeständnis an die Monarchie. In 20 Metern Höhe entstand eine überdachte Aussichtsterrasse mit einem Wendelgang, im Erdgeschoss ein steinernes Restaurant. Schon zur Entstehungszeit führte ein Aufzug für sechs Personen auf den Aussichtsturm herauf. Der Schacht verläuft genau in der Mitte des Turms; um ihn herum wendeln sich spiralförmig die beiden Treppen in die Höhe, von denen je eine für den Auf- und eine für den Abstieg verwendet wird. Der Fahrstuhl war damals für sich genommen eine Attraktion; angetrieben wurde er zunächst mit Gas, später mit Strom. Im Jahr 1938 kam es zu einem Kurzschluss, und die Aufzugskabine ging in Flammen auf. Die Besucher konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen, aber der obere Teil des Aussichtsturms wurde beschädigt und musste teilweise umgebaut werden.
Ab dem Jahr 1953 wurde der Aufzug dann ganz stillgelegt. Der Aussichts- wurde zu einem Fernsehturm umgewandelt, und der Aufzugsschacht wurde benötigt, um die Kabel zu den Antennen zu führen. Dass die Königskrone den Antennen weichen musste, passte ohnehin gut in die Zeit des beginnenden Kommunismus. In den Folgejahren verfiel der Aussichtsturm so stark, dass er 1980 sicherheitshalber geschlossen werden musste. 1991, zu seinem 100. Geburtstag, wurde er nach provisorischen Renovierungen wieder in Betrieb genommen und weitere zehn Jahre später generalüberholt. Seitdem ist er im Dauerbetrieb – ganz so, wie es sich die Erbauer damals gedacht hatten.
Tatsächlich lohnt sich der Blick auch heute noch – nicht nur für Touristen, sondern selbst für diejenigen, die Prag schon ausgezeichnet kennen. „Von hier oben sieht man Details, die man von nirgendwo anders aus erkennen kann“, sagt die Prag-Kennerin.
Sie steht jetzt oben auf der Aussichtsplattform, die mit Glasfenstern vor dem Wind geschützt ist, und dreht die Runde, die sie immer dreht, wenn sie hier oben steht. Im Nordwesten fängt sie an: Da liegt das Prämonstratenser-Kloster Strahov mit seiner gewaltigen Barockbibliothek und der Klosteranlage, die so verwinkelt ist, dass sie sich nur vom Aussichtsturm aus komplett erfassen lässt. Nováková muss nur ein paar Schritte gehen, um den besten Blick auf die Prager Burg zu bekommen: Die gesamte Anlage mitsamt Reithalle und sämtlichen Innenhöfen lässt sich von hier aus bewundern. Und die Nikolaus-Kirche, die mächtige Dominante der Kleinseite, wirkt vom Aussichtsturm aus so klein und unscheinbar.
Wenn die Historikerin über den Aussichtsturm nachdenkt, gerät sie auch nach jahrelanger Beschäftigung mit seiner Geschichte immer wieder ins Staunen. „Stellen Sie sich vor“, sagt sie dann, „die Bauarbeiten begannen im März 1891, und schon im Juli war der Turm fertig“, sagt sie. Vier Monate Bauzeit für einen Turm von fast 60 Metern Höhe – dieser tschechische Rekord dürfte bis heute ungebrochen sein.