Reflexionen zu meiner Herkunft aus der ehemaligen DDR

aus OWEP 3/2019  •  von Susanne Albani

Susanne Albani studierte „Kultur und Geschichte Mittel- und Osteuropas“ an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und an der Uniwersytet Warszawski in Warschau. Als Jugendbildungsreferentin arbeitet sie derzeit im Bereich historisch-politische Bildung in der Heimbildungsstätte Villa Fohrde, Brandenburg.

Das Bewusstsein über die Wende ist schleichend in mein Leben getreten. Ich kann mich heute nicht mehr an den einen Moment erinnern, an dem mir bewusst geworden wäre, dass ich mit meiner Familie aus einem Land komme, das es heute nicht mehr gibt.

Susanne Albani (Foto: privat)

Meine Großfamilie kommt aus Sachsen und 1986 wurde ich in der Nähe von Chemnitz, damals Karl-Marx-Stadt geboren, in der ich fortan aufwuchs. Entgegen der Großfamilie meines Vaters, die alle in der DDR lebten, wohnten die vier Schwestern meiner Großmutter mütterlicherseits in der Bundesrepublik. Der Kontakt zu wenigstens einer dieser Großtanten war sehr eng und so kamen nicht nur Westpakete, sondern ab und an auch Besuche der Verwandtschaft aus dem Westen zu uns. Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, war Pfarrer. Aus diesem Grund wurde er teilweise von der Stasi überwacht und seine sechs Kinder erlebten Schikanen, wie beispielsweise die Verweigerung des Zugangs zu Abitur und Studium. Auch meine Großeltern väterlicherseits waren als Leitung kirchlicher Heime für Menschen mit Behinderungen der Kirche eng verbunden. Die dadurch resultierende kritische Einstellung meiner Familie gegenüber der ideologischen und politischen Ausrichtung der DDR durch die SED-Parteiführung prägte somit letztlich auch meine Sicht auf die DDR: Während so mancher Unterhaltung zwischen meinen Eltern und meinen älteren Geschwistern, Jahrgang 1980 und 1982, geisterten bereits Anfang der Neunziger Jahre Begriffe wie „Perestrojka“, „Glasnost“ und „Treuhand“ in meinem Kopf herum, bevor ich deren Bedeutung richtig verstehen konnte.

Die Erzählungen meiner Eltern umgab etwas Faszinierendes und gleichermaßen Beklemmendes. Neben den bereits erwähnten Schikanen in Bezug auf Bildungs- und Berufschancen ging es dabei oft um Entbehrungen wie die Einschränkung der Reise- und Meinungsfreiheit. Neben Märchenfilmen und Büchern war es vor allem Musik, die aus der Zeit der DDR auch in mein Leben trat. Und auch die Erzählungen meiner Großeltern füllten mein Bild von der DDR, wie sie trotz vieler Entbehrungen ihr Leben gemeistert hatten, durch Erfindungsreichtum, gegenseitiger Hilfe und abenteuerlich anmutenden Aktionen zur Beschaffung rarer Produkte wie Baumaterialien. All diese Geschichten vermischten sich zu einem Gefühl der Bewunderung darüber, wie meine Familie ihr Leben in diesem Land gemeistert hatte, das so anders schien als das Leben nach der Wende.

Zu den Erzählungen aus der Familie gesellten sich durch Schule, Spiel- und Dokumentarfilme, Ausstellungen und Bücher in meiner Jugend nach und nach immer mehr Wissen um den Alltag, aber auch die Verfolgungen und Grausamkeiten in der DDR.

Nicht unerheblich für mein Bild von der DDR waren auch die Besuche im ehemaligen Westen Anfang und Mitte der Neunziger Jahre und der Kontakt mit den Dingen, denen ich dort begegnete: Einfamilienhäusersiedlungen mit glatt geteerten Straßen, Minnie Mouse T-Shirt und Pumarucksack.

Die Reaktionen der Menschen im ehemaligen Westen, die teils Unverständnis und Ratlosigkeit über unsere Herkunft ausdrückten, vermittelten mir ein gewisses Gefühl von Unterschiedlichkeit und ja, auch Rückständigkeit. Als ich älter wurde empfand ich teils ein diffuses Gefühl der Scham und auch den Wunsch, nicht mit den Bildern der Medien in Verbindung gebracht werden zu wollen, in denen eine Herkunft aus Ostdeutschland mit etwas Rückständigem assoziiert wurde.

Tatsächlich war die Wende ein großer Segen für mich und meine Familie. Meine Eltern profitierten nach Jahrzehnten der Bevormundung, der Entbehrungen und des „Eingesperrtseins“ von den neu gewonnenen Freiheiten: sie schickten uns Kinder auf eine 1991 neu gegründete reformpädagogische Schule, fuhren jährlich im Sommer mit uns ins Ausland, unterstützten euphorisch unsere längeren Auslandsaufenthalte und beteiligten sich an jeder parlamentarischen Wahl. Die Errungenschaften eines mehr freiheitlich-demokratischen Staates – ideell wie materiell – wurden stets als etwas Besonderes betrachtet, dem man mit Dankbarkeit begegnet. Gleichzeitig wurden mit Rückblick auf das Erlebte die vielschichtigen Erfahrungen in der DDR als etwas Wertvolles bewahrt und auch die Ansicht, dass es positive Dinge gab wie etwa die gemeinsame Grundschule bis zur 8. Klasse, die geringere Ausrichtung auf materielle Dinge, der Zusammenhalt innerhalb der Kirche und intellektuellen Kreisen, die in Opposition zum Staat standen.

Der Blick auf meine Herkunft aus der DDR entwickelte sich für mich seit dem Abitur stetig zu etwas positivem. Dazu trug das zunehmend ehrliche Interesse von Freunden aus dem „Westen“ an meiner Herkunft bei sowie meine Tätigkeit als studentische Hilfskraft in der Berliner Ausstellung des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit und dort gestellten Fragen durch Besucher aus aller Welt.

Hierdurch wandelte sich mein Gefühl, aus einem rückständigen Teil Deutschland zu stammen: aus dem früheren Bedürfnis, sich rechtfertigen und die eigene Herkunft erklären zu müssen, entwickelte sich das Bewusstsein, mit der eigenen Familiengeschichte Teil eines besonderen Abschnitts europäischer Geschichte zu sein.

Die Gewissheit in zwei deutschen Staaten gelebt zu haben empfinde ich heute als Bereicherung. Meine Bewunderung und mein Respekt gelten dem Mut und der Energie derjenigen, die bis zur Wende friedlich für Freiheit und Demokratie gekämpft haben. Und das Wissen darum, dass ich einer Familie entstamme, die erlebt hat, was es heißt, nicht in materieller und politischer Sorglosigkeit aufgewachsen zu sein, besitzt gerade vor dem Hintergrund heutiger Herausforderungen der Bewahrung freiheitlich-demokratischer Werte einen besonderen Stellenwert für mich.