Serbiens Dominator

Autoritär gestricktes Politchamäleon: Die vielen Häutungen des Aleksandar Vučić
aus OWEP 1/2022  •  von Thomas Roser

Thomas Roser, freier Journalist (geb. 1962), lebt und arbeitet seit 2007 in Belgrad.

Zusammenfassung

Seit knapp einem Jahrzehnt teilt Aleksandar Vučić in Serbien die Karten aus. Doch je länger er die Geschicke beim EU-Anwärter lenkt, desto stärker scheiden sich am mächtigsten Mann im Balkanstaat die Geister.

Das Bildnis des Manns mit der Hornbrille ist in Serbien allgegenwärtig. Nicht nur zu Wahlkampfzeiten füllen die Fotos und Verlautbarungen von Aleksandar Vučić Titelseiten und Webportale. Egal, ob als Minister, Premier oder Präsident: Unablässig flimmern schon seit Jahren die Sonderpressekonferenzen und Monologe des mitteilungsfreudigen Dauerwahlkämpfers über die TV-Schirme. Seit knapp einem Jahrzehnt teilt der Chef der nationalpopulistischen Fortschrittspartei (SNS) in Serbien die Karten aus. Doch je länger er die Geschicke im Balkanstaat lenkt, desto stärker scheiden sich am mächtigsten Mann des Landes die Geister.

Die Anhänger des machtbewussten Präsidenten feiern ihn als genialen Staatenlenker, der – ähnlich wie sein russischer Amtskollege Wladimir Putin – seinem am Boden liegenden Land mit entschlossener Führung zu neuer Blüte verholfen habe. Seine Gegner kritisieren ihn hingegen als selbstverliebten Parteifürsten, der nichts mit demokratischen Werten gemein habe: Sie werfen ihm autoritäre Neigungen, die Gängelung der Presse, Aushebelung der Gewaltenteilung, Korruption und Machtmissbrauch vor.

Sie kenne keinen anderen Menschen, der sich so sehr für Serbien und seine Partei einsetze wie Vucic, preist beispielsweise Regierungschefin Ana Brnabic ihr Vorbild: „Wer klug ist, schaut, hört und lernt von ihm: In der Politik gibt es keinen besseren Lehrer auf der Welt als Aleksandar Vucic.“ Der Präsident sei der „letzte freie Leader in Europa, der jedem sagen kann, was er denkt“, feiert ihn Innenminister Aleksandar Vulin. Der einflußreiche SNS-Parlamentarier Wladimir Djukanovic sieht bei dem gefeierten Parteibugbild gar höhere Mächte am Werk: „Seine Autorität kommt von Gott – und vom Volk“.

Kritiker empfinden den allgewaltigen Staats- und Parteichef hingegen als eher irdische Heimsuchung. Als „oberflächlich, hochmütig und kleinbürgerlich“, umschreibt der frühere Diplomat und Publizist Milan St. Protic den Charakter des Manns, der in Serbien kaum jemand kaltlässt. Der derzeitige Präsident müsse „sich ständig beweisen, dass er etwas Wichtiges ist und das von ihm etwas abhängt“. Sein „Minderwertigkeitskomplex“ werde vor allem bei seinem Umgang mit „der großen Welt“ sichtbar wie bei Treffen mit Politikern wie Wladimir Putin, Xi Jingping, Angela Merkel, Donald Trump oder Joe Biden: „Seine Unterwürfigkeit bringt einen buchstäblich zum Kotzen.“

Sicher ist, dass Vučić polarisiert: Der 1,98 Meter große Hobby-Basketballer sticht nicht nur körperlich aus Serbiens Politikergilde hervor. Ob zunächst in der ultranationalistischen SRS des Kriegsverbrechers Vojislav Seselj oder später in der von ihr abgespaltenen SNS: Seit fast drei Jahrzehnten tummelt sich der erst 51jährige Politikveteran auf dem Belgrader Politparkett – und hat dieses in vielerlei Hinsicht nachhaltig mitgeprägt.

1970 als Sohn eines Ökonoms und einer TV-Journalistin geboren wuchs der glühende Fan von Roter Stern Belgrad in der Zeit zunehmender Spannungen im Vielvölkerstaat auf: Bei den später zum Vorboten der Jugoslawien-Kriege stilisierten Krawallen beim Fußballderby zwischen Dinamo Zagreb und Roter Stern im Mai 1990 war auch Jura-Student Vučić im Maksimir-Stadion zugegen.

Im blutigen Jahrzehnt der Jugoslawienkriege der 90er Jahre sollte der junge Nationalist seine politische Sozialisation erfahren. Zu Beginn des Bosnienkriegs (1992-1995) versuchte sich der Journalistensohn für kurze Zeit als TV-Reporter beim serbischen Propagandasender „Kanal S“ in Pale. Mit General Ratko Mladić soll er damals Blitzschach gespielt und Serbenführer Radovan Karadzic interviewt haben. Doch schon 1993 schlug der Jurist die politische Laufbahn ein: Nach seinem Beitritt zu Seseljs SRS 1993 begann der steile Aufstieg des ehrgeizigen Jungpolitikers in Belgrad.

1993 wurde Vučić erstmals ins Parlament gewählt – und profilierte sich bald als besonders hasserfüllter Prophet des großserbischen Nationalismus. „Für jeden getöteten Serben werden wir 100 Muslims töten“, verkündete der Scharfmacher kurz nach dem an über 8000 muslimischen Bosniaken im ostbosnischen Srebrenica begangenen Völkermord am 20.Juli 1995 im Parlament.

Mit 24 Jahren übernahm Vučić 1995 den Posten des SRS-Generalsekretärs. Im März 1998 wurde er unter Serbiens damaligen Autokraten Slobodan Milosevic zum Informationsminister ernannt und machte sich während des Kosovo-Kriegs 1999 auch international als rigider Presse-Gängler einen Namen. Missliebige Medien wurden mit hohen Geldstrafen überzogen, die Zensur und der Druck auf die Presse verschärft, ausländische Medienvertreter des Landes verwiesen.

Die später bekundete Reue über seinen nationalistischen Kriegseskapaden waren Vučić in den ersten Nachwende-Jahren kaum anzumerken. So beklebte er 2007 die Straßenschilder des dem 2003 ermordeten Reformpremier Zoran Djindjic gewidmenten Boulevard öffentlich mit „Ratko-Mladić-Boulevard“-Aufklebern. Selbst kurz vor seiner Lossagung von der SRS führte er im Juli 2008 noch die wütenden Proteste nach der Verhaftung von Radovan Karadzic in Belgrad an.

Es war der parteiinterne Streit um das Assoziierungsabkommen mit der EU, der Vučić im September 2008 zu einer ersten politischen Häutung veranlasste. Der stellvertretende Parteichef Tomislav Nikolic hatte im Parlament zum Ärger des vor dem UN-Tribunal stehenden Parteichefs Seselj dafür gestimmt – und wurde aus der SRS ausgeschlossen. Vučić schlug sich wenige Tage später auf die Seite des Partei-Dissidenten: Gemeinsam mit Nikolic hob der in einer Blitzmetamophose vom EU-Gegner zum EU-Apostel mutierte Vučić im Oktober 2008 die SNS aus der Taufe.

Das Setzen auf die europäische Karte zahlte sich aus. Bei den Parlamentswahlen im Mai 2012 wurde die SNS vor der Demokratischen Partei (DS) die stärkste Kraft, während die SRS aus dem Parlament purzelte. Zwei Wochen später gewann Nikolic die Präsidentschaftswahl. Der Machtwechsel war vollzogen. Vučić übernahm die Parteiführung – und wurde zum stärksten Mann im Staat.

Ob als Vize-Premier, Regierungschef oder Präsident: An den Schalthebeln der Macht hat sich Vučić als sehr wandlungsfähiges und scharf kalkulierendes Politchamäleon erwiesen. Die Unterstützung des Westens sicherte er sich mit mehr Gesprächsbereitschaft gegenüber dem Kosovo. Der Papiererfolg des bis heute nicht vollständig umgesetzten Brüsseler Abkommen von 2013 öffnete Serbien den Weg zum Auftakt der EU-Beitrittsverhandlungen – und seiner SNS die assoziierte Aufnahme in die Parteienfamilie der christdemokratische EVP. „Vučić liefert“, war das geflügelte Diplomatenwort in Belgrad in den ersten Jahren der SNS-Regentschaft: Großzügig sahen die EU-Partner lange über die autoritären Tendenzen in seinem faktischen Einparteienstaat hinweg.

Innenpolitisch bescherte Vučić die Verhaftung von Delta-Chef Miroslav Miskovic Ende 2012 einen nachhaltigen Anstieg seiner Popularitätswerte. Der monatelangen Inhaftierung des damals reichsten Serben wegen des Verdachts der Korruption ist bis heute zwar keine Verurteilung gefolgt. Doch der von den regierungsnahen Medien kräftig verklärte Nimbus von Vučić als unerschrockener Kämpfer gegen die Oligarchenmacht war geschaffen.

Ausländischen Investoren rollt Vučić mit großzügigen Staatssubventionen und einer neoliberalen Wirtschaftspolitik ohne größere Auflagen den roten Teppich aus. Regelmäßig pflegt Serbiens Dominator mit Max-Weber-Zitaten über das vorbildliche Arbeitsethos der Deutschen zu schwadronieren. Doch bei der Absicherung seiner Position orientiert sich der gerne auf seine „Freundschaft“ mit der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel berufende Machtpolitiker vor allen an autoritären Vorbildern wie Viktor Orbán, Recip Tayyip Erdoğan oder Wladimir Putin. Von Jugoslawiens Staatenlenker Josip Broz Tito wiederum scheint seine Schaukelpolitik zwischen Ost und West abgekupfert zu sein.

Ähnlich wie der ungarische Ex-Dissident Orbán bleibt auch sein rechtspopulistischer Gesinnungsfreund Vučić in gewisser Weise ein Kind seiner sozialistischen Jugendzeit: Statt auf demokratische Prinzipien wie Gewaltenteilung, Rechtsstaat und Pressefreiheit setzt der im Sozialismus groß gewordene Kontrollfanat vor allem auf einen starken Parteistaat.

Als Serbiens „goldenes Zeitalter“ preist der Liebhaber des pathetischen Selbstlobs seine eigene Ära. TV-Duellen mit Oppositionspolitikern geht Vučić grundsätzlich aus dem Weg. Stattdessen setzt der Meister des Selbstinterviews lieber auf endlose Monologe bei ihm gewogenen TV-Sendern. Die regierungsnahen Medien nutzt er nicht nur zur Werbung in eigener Sache, sondern auch für gezielte Schmutzkampagnen gegen regierungskritische Publizisten oder Bürgerrechtsaktivisten.

Besonders empfindlich reagiert der dünnhäutige Familienvater in zweiter Ehe auf kritische Berichte über Angehörige wie seinen in Hooligankreisen verkehrenden Sohn Danilo oder seinen als geschäftstüchtiger SNS-Pate geltenden Bruder Andrej. Von Attentats- bis Mordplänen gegen ihn und seine Familie bis zu vermeintlichen Putschabsichten reichen die Vorwürfe, denen sich kritische Journalisten und Oppositionelle regelmäßig ausgesetzt sehen.

Manchmal treibt sein Drang zur Selbstdarstellung in Serbiens weitgehend gleichgeschalteten Medienwald auch bizarre Blüten. So zierte kurz vor den Präsidentschaftswahlen 2017 die Titelblätter aller führenden Zeitungen dieselbe Wahlreklame für Vucic: Von einem „nordkoreanischen Szenario“ sprach angesichts der uniformierten Aufmacher an den Kiosken entgeistert der frühere Präsident Boris Tadić.

Wie von George Orwell inszeniert wirkte auch der „Online-Wahlkampf“ von Vučić vor der Parlamentswahl 2020: Immer wieder unterbrach hohl scheppernder Applaus seiner Anhänger auf hunderten von Bildschirmen den präsidialen Redefluß. Vučić sei „der fähigste Manipulator, den Serbien jemals hatte“, zollte ihm einmal sein einstiges SRS-Idol Seselj Respekt: „Aber er übertreibt. Er ist überall: Stellen Sie die Waschmaschine an, dreht sich Vucic. Stellen Sie das Bügeleisen hat, dampft schon wieder er.“

Als Hoffnungsträger oder gar „Reformator“ wird der SNS-Chef nach einem Jahrzehnt an der Macht angesichts der demokratischen Defizite in Serbien selbst von lange kritiklosen EU-Partnern kaum mehr gefeiert. Hatte sich Vučić in seinen ersten SNS-Jahren erstaunlich offen zu den in Srebrenica begangenen Verbrechen, dem Scheitern der großserbischen Ideologie, den Verdiensten des ermordeten Reformpremiers Djindjic oder dem faktischen Verlust des Kosovo geäußert, sind selbstkritische Töne über Serbiens düstere Kriegsvergangenheit von ihm kaum mehr zu hören. Stattdessen scheint der SNS-Chef das zeitweise übergestreifte Friedensschaffell längst wieder gegen den vertrauten Nationalistenpelz getauscht zu haben.

Gegenüber den einstigen Kriegsgegnern schlagen Vučić und seine Regierungslautsprecher vermehrt großserbische Kriegsaufrechnungen statt versöhnungsgesinnter Töne an. Frühere Kriegsverbrecher werden in Serbien erneut gefeiert. Selbst in Belgrad tauchen mit offensichtlicher Billigung und dem Schutz der SNS-Machthaber Mauergemälde zu Ehren von Ratko Mladić auf. Wer Großserbien geschaffen habe, verfüge „nicht über die Kapazitäten für den Frieden“, sieht der Publizist Nenad Kulacin SNS-Chef Vučić noch stets in der Kontinuität der 90er Jahre: „Serbien ist nicht bereit, über die eigenen Kriegsverbrechen zu sprechen, weil die Leute aus den 90er Jahren dafür nicht über das demokratische und menschliche Potenzial verfügen.“