Unheilbarer Optimist, oder: Wie ich die politische Wende 1989 erlebte und was daraus geworden ist

aus OWEP 3/2019  •  von Pavel Mikluščák

Prof. Dr. Pavel Mikluscák (geb. 1961) hat in Bratislava, Freiburg/Breisgau und Olomouc Katholische Theologie studiert (mit Promotion und Habilitation) und ist seit 2004 Professor für Katholische Dogmatik, Ökumenische Theologie und Interreligiöses Lernen an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems.

Beginn des Wende-Jahres 1989: keine Gedanken an eine olitische Wende im Land

Ich war damals seit mehr als drei Jahren junger Kaplan in einer außergewöhnlich aktiven Kirchengemeinde in der Nordslowakei. Am Mittwoch gab es einen gut besuchten Gottesdienst für Jugendliche. Jeden Freitag kamen im Schnitt 300 Kinder zur Messe, die für sie und mit ihnen vorbereitet wurde. Vier Sonntagsgottesdienste waren überfüllt. Vor dem ersten (Herz-Jesu-)Freitag im Monat verbrachten mein Chef, der Dechant, und ich mehrere Stunden im Beichtstuhl. 20 Stunden Religionsunterricht wöchentlich gehörten dazu. Kirchliche Jugendarbeit wurde getragen durch Laien. Kirchliche Bewegungen, allen voran „Licht und Leben“, waren eher im Untergrund wirkende Kräfte. In einigen „Klosterzellen im Geheimen“ lebten Ordensschwestern in Zivil. Alles in allem bot sich ein Bild von buntem kirchlichen Leben an. Es lief zwar unter der Aufsicht der staatlichen Bezirksbehörde. Wir wussten, dass wir durch die örtliche Geheimpolizei beobachtet wurden. Aber Gemeindepriester und Laien hielten zusammen und hielten aus, auch wenn unser Engagement seitens des Regimes nur innerhalb der Kirchenmauern geduldet war.

Sommer 1989: keine Ahnung über das Ende des kommunistischen Regimes

Wir hörten von Perestrojka und Gorbatschow in der Sowjetunion. Für unser alltägliches Leben bedeutete das jedoch wenig. Die Besuche der Geheimpolizei beim Dechanten, den sie immer wieder unter Druck setzte, hörten nicht auf. Er hielt seinen Rücken hin, damit ich möglichst ungebremst meinen Einsatz in der Gemeinde wahrnehmen konnte. Es kamen aber die ersten Anzeichen eines Burnouts bei mir. Die steigende Unlust konnte ich wie durch ein Wunder überwinden. Ich entdeckte nämlich zufällig in meinem Bücherregal ein Heftchen mit einem Artikel von Walter Kasper „Kirche, wohin?“ Ich las ihn und sah wiederum Sinn der kräfteraubenden Arbeit. Daraufhin verfasste ich einen kurzen Dankbrief an den Dogmatikprofessor in Tübingen, nicht ahnend, dass er unlängst zum Bischof ernannt worden war. Zwei Wochen später kam die Antwort aus Rottenburg. Kasper bot mir ein Stipendium für das Doktoratsstudium in Deutschland an. Ich konnte nur traurig lächeln. Ich sehnte mich seit eh und je danach, im Westen studieren zu dürfen. Es war aber unter dem Druck der Kommunisten undenkbar.

November 1989: kleine Hoffnung auf den Umbruch

Ich saß am späten Abend in meinem Zimmer im Pfarrhaus und hatte Angst. Vor zwei Tagen kamen nämlich Bekannte aus der Stadt, die meinten, man müsse sich den Demonstrationen anschließen, die in Prag begonnen hatten und sich nun im Land verbreiteten. Man sollte auch im Namen der katholischen Kirche als gesellschaftliche Kraft auf dem Hauptplatz der Stadt eine Rede halten. Eigentlich ging es um mein erstes Auftreten in der Öffentlichkeit. Ich empfand mich nie als einen Helden, eher umgekehrt, und ich wusste, es ist ein risikoreiches Unternehmen: Wenn jetzt die Geheimpolizei definitiv eingreift? Als anschließend mitten in der Nacht jemand an der Tür des Pfarrhauses läutete, sah ich mich schon im Gefängnis. Es kam aber anders.

Dezember 1989: langsam aus dem Ghetto in die Freiheit

Äußerlich gesehen hat sich das kirchliche Gemeindeleben durch die politische Wende nicht sonderlich verändert. Tastend sind wir in die Öffentlichkeit gegangen. Was vorher im Untergrund stattfand, wurde nun zunehmend als Normalfall präsentiert und durchgeführt. Einige kirchliche Veranstaltungen wurden auf der Stadtebene angeboten. Der politische Umbruch wurde mir eigentlich erst dann wirklich bewusst, als ich zur österreichischen Pastoraltagung nach Wien fuhr. Es war wie im Traum, keinen Eisernen Vorhang erleben zu müssen und frei nach Westeuropa reisen zu dürfen. Dieses überwältigende Gefühl der Befreiung setzte sich bald fort, als das zugesagte Stipendium Realität wurde und ich mit der Dissertation an der Freiburger Universität begann. (Exkurs: Im August 1991 war ich während der Semesterferien aus Deutschland zu Besuch zu Hause, als es in Moskau zum Putschversuch kam. Die alte Zeit der Kommunisten war plötzlich wieder spürbar. Ich packte meine Sachen und fuhr so schnell wie möglich weg. Erst beim Überschreiten der Grenze Richtung Wien hat sich die Angst gelegt.)

Heute 2019: Freiheit ist Alltag

Meiner Dissertation gab ich einen programmatischen Titel: „Einheit in Freiheit“. Er fasst nämlich zusammen: Ich darf als freier Bürger in der demokratischen Gesellschaft leben und als freier Christ in der freien Kirche meinen Glauben bekennen. Selbst angesichts der Mängel in der Gesellschaft gestehe ich, dass die mit der politischen Wende verbundenen Hoffnungen nicht enttäuscht wurden. Die freie Selbstbestimmung wird heute als selbstverständlich angesehen. Die Erwartungen an die Kirche nach dem Umbruch lassen einiges offen, besonders hinsichtlich ihrer hierarchischen Leitung. Die neue Generation der Christinnen und Christen zeigt aber ein klares Selbstbewusstsein, dass sie sich als Salz der Erde und als Trägerinnen und Träger von „Evangelii gaudium“ verstehen. Darin sehe ich die Zeichen der Zeit, die mich inspirieren, „unheilbarer Optimist“ zu sein.