Von der DDR über das vereinte Deutschland nach Europa

aus OWEP 3/2019  •  von Dieter Segert

Dieter Segert (geb. 1952), geboren und aufgewachsen in der DDR, war bis 2017 Professor der Politikwissenschaft an der Universität Wien. Sein jüngstes Buch „Transformation und politische Linke – eine ostdeutsche Perspektive“ erschien 2019 im VSA-Verlag. – Die Fragen stellte Michael Albus.

Wie haben Sie den Umbruch, die „Wende“, erlebt?

Unter „Wende“ definiere ich den Zeitraum vom Herbst 1989 bis zur deutschen Einheit, also das „41. Jahr“ der DDR. Es war eine aufregende, emotional anstrengende Zeit. Ich verstand mich als Reformsozialist. Am Beginn der Periode wurde ich erstmals öffentlich aktiv, setzte mich für eine Reform der SED und der DDR ein. Ab dem Frühjahr konzentrierte ich mich wieder auf akademische Belange, beteiligte mich am demokratischen Umbau der Humboldt-Universität und versuchte, in der DDR die Politikwissenschaft als akademische Disziplin mitaufzubauen. Das „41. Jahr“ der DDR war eine Zeit der überraschenden Wendungen, es weitete meinen Horizont. Ich musste dann schnell und viel über die Geschichte des benachbarten deutschen Staates lernen, dessen Institutionen der DDR-Gesellschaft übergestülpt wurden. Westdeutsche Freunde halfen mir beim Hineinwachsen in diese teilweise fremde Kultur. Auch die eigene Geschichte begriff ich auf neue Weise.

Wurden Ihre Hoffnungen und Erwartungen erfüllt?

Obwohl meine zentrale Hoffnung auf eine erneuerte, wirklich demokratische DDR enttäuscht wurde, gewann ich durch die „Wende“ auch persönlich viel: produktive Arbeit in einer Disziplin, die ich nicht studiert hatte, die mich später aus Berlin nach Prag, danach ins Rheinland auf das Feld der politischen Bildung und schließlich nach Österreich führte. In meinen Publikationen analysierte und interpretierte ich die Geschichte des staatssozialistischen Osteuropa und dessen ambivalentes Erbe.

Zu den Erfolgen gehört auch, dass ich mich selbst aus den früheren dogmatischen Fixierungen befreien konnte. Befreien nicht zuletzt von einem überheblichen Atheismus, durch den ich mich klüger dünkte als Menschen, die Gott brauchten. Ich lernte dadurch seither Menschen kennen und schätzen, die auf ihren Glauben gestützt gesellschaftlich aktiv und solidarisch mit anderen sind. Wir respektieren uns gegenseitig. Zu meinen frustrierenden Erfahrungen gehört der neoliberale Abweg der Sozialdemokratie. Dieser trug dazu bei, dass der europäische und deutsche Sozialstaat seine Versprechungen kaum mehr einlösen kann. Eine politische Gemeinschaft, die fast tatenlos zusieht, wie ein Drittel oder die Hälfte der jungen Menschen keine Chance auf eine bezahlte Beschäftigung hat, kann für sich nicht das Prädikat „sozial“ oder „solidarisch“ beanspruchen.

Überrascht wurde ich von der geringen Bereitschaft der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft, sich zu verändern, zu lernen. Der Verzicht auf die Verfassungsdebatte nach der deutschen Einheit war ein klarer Beleg dafür. Jede Berufsgruppe verteidigte ihre althergebrachten Institutionen und ignorierte die teilweise besseren Lösungen der DDR im Bereich der Kinderbetreuung, des Bildungs- und des Gesundheitswesens. Durch falsche Entscheidungen der Treuhandgesellschaft wurden zukunftsfähige ostdeutsche Unternehmen beseitigt. Und eine kritische Debatte darüber steht noch immer aus.

Auch eine stabile Friedensordnung entstand nicht. Russland blieb der Feind. Ein grundlegender Fehler ist die Überheblichkeit des „alten Westens“: Man meint, eine überlegene Werteordnung zu besitzen, an die sich Russland anpassen müsse, um voranzukommen. Neugier auf andere Werte ist nicht unsere Stärke. Der „neue Westen“ (die osteuropäischen EU-Mitglieder) trug auch zur beschriebenen Situation bei, weil dessen politische Elite eine irrationale Feindschaft gegenüber der alten Hegemonialmacht entwickelt hat, welcher sie alle Übel der alten Ordnung in die Schuhe schoben, anstatt die eigene Geschichte ernsthaft aufzuarbeiten.

Was muss sich in unserem Land 30 Jahre danach noch ändern?

Was ist eigentlich mein Land? Ich lebe in Österreich, bin aber dort nicht Staatsbürger. Ich bin Deutscher, fühle mich besonders mit den ostdeutschen Bundesländern verbunden, und leide deshalb am dortigen Aufstieg einer rechtsnationalen Partei. Mein gesellschaftlicher Horizont wird durch die Europäische Union bestimmt, die sich aber in einer Krise befindet.

Wie kann sich etwas in der richtigen Richtung ändern? Ohne Engagement der Vielen wird das nichts. Aber unsere Demokratie steckt in der Krise. Aus jener herauszukommen, wäre die wichtigste Aufgabe. Was ist dazu zu tun? Politisches Engagement benötigt soziale Sicherheit. Wer Zukunftsangst hat, wem das Wasser bis zum Hals steht, hat keine Kraft für eigenes politisches Tun. Soziale Sicherheit für die Vielen und ihr dadurch ermöglichtes politisches Engagement sind die beiden Voraussetzungen einer Bewältigung der Zukunftsaufgaben in meinem Land ebenso wie in Europa.