Wie ich die Wende erlebte ...

aus OWEP 3/2019  •  von Lars Tschirschwitz

Lars Tschirschwitz (geb. 1980) ist in Güstrow und Sternberg aufgewachsen und arbeitet nach dem Studium der Politikwissenschaft und Geschichte in Rostock heute im Bereich der politischen Bildung.

Meine Eltern schauten immer Nachrichten. Meine ältere Schwester und ich häufig auch, aber meist nur, um vor dem Schlafen gehen noch möglichst lang ferngesehen zu haben. Ich bemerkte im Laufe des Jahres 1989, dass etwas sehr Grundsätzliches passierte. Es hatte im Sommer mit Berichten über Menschen begonnen, die ihre Autos an irgendeiner Grenze stehen ließen und hastig in eine Richtung liefen. Es ging weiter mit Bildern von Menschen, die sich in den Straßen bekannter Städte der DDR versammelten. Am Tag nach dem Mauerfall betrat ich unsere Schule. Im Foyer lief ein Junge an mir vorbei, riss die Arme in die Luft, rief: „Die Mauer ist weg!“ und verschwand in einem Gang zu meiner Rechten. Im Unterricht blieben einige Stühle leer. Manche Mitschüler und ihre Familien kehrten nach einer Woche zurück, manche nie wieder. Meinen Eltern schien in dieser Zeit jedenfalls nicht zum Jubeln zumute zu sein. Beide waren in der Partei, ihre Zukunft war, wie ich später verstand, höchst ungewiss.

Eines Abends saß ich im Schneidersitz vor dem kleinen Tisch, von dem aus unser kleiner Schwarz-Weiß-Fernseher über die aktuellsten Ereignisse Auskunft gab. Mittlerweile war ich ehrlich interessiert. Hinter mir auf der Couch saßen meine Eltern. Ein Mann namens Hans Modrow hatte inzwischen die Führungsrolle in der Regierung übernommen, gegen die sich der Protest der Demonstranten in immer mehr Städten richtete. Aber Modrow wurde als relevante Größe gehandelt, soviel bekam ich mit. Er verwendete das Wort „Wiedervereinigung“, offenbar als eine realistische Perspektive für die nähere Zukunft. Ich glaubte sofort zu verstehen, wendete mich aber sicherheitshalber zu meinen Eltern um und fragte vorsichtig euphorisch: „Heißt das, wir können uns bald all die Dinge kaufen, die wir immer in der Werbung sehen?”

Wir fuhren erst im Frühjahr 1990 das erste Mal „rüber“. Mit dem Zug, denn ein Auto hatten wir nicht. Vielleicht war es Stolz, vielleicht mecklenburgische Sturheit, vielleicht Scham, dass meine Eltern so lange gezögert hatten. Sie waren sich einig, dass erst mal „die Anderen“ fahren sollten, deren Verhalten ihnen würdelos erschien. Unser Ziel war Hamburg, die Stadt, aus der meine Großmutter stammte und in der nach wie vor ein Teil der Familie lebte. Empfangen wurden wir von Verwandten aus der Kriegsgeneration. Sie hatten eine helle Freude daran, mir in Unmengen alle möglichen Speisen, Getränke und Süßigkeiten aufzutischen. Orangen, verschiedene Säfte und Schokoladen, Eiscrème, Pizza, Kotelett, Joghurt und noch einiges andere hatte ich entweder noch nie oder wenigstens noch nie in dieser Fülle verzehrt. Ich aß und trank alles und mir wurde schlecht.

Unter meinen Freunden gehörte zu den begehrtesten Produkten zeitweilig Coca-Cola. Wer etwas auf sich hielt, trank demonstrativ dieses Markenzeichen des American way of life, der uns damals unter diesem Label nicht bekannt war. Während der Währungsunion, als man mit DDR-Geld bezahlen konnte und sein Wechselgeld in D-Mark erhielt, war die braune Limo erstmals ganz offiziell zu erwerben. Die Preise waren in DDR-Währung ausgewiesen, 3,30 Mark für eine Dose zu entrichten. Noch wenige Monate zuvor hatten wir von unserem Taschengeld regelmäßig Streuselschnecken gekauft, die bei jedem Bäcker immer schon 10 Pfennige gekostet hatten – eine Währung, mit der wir kalkulieren konnten. Eine Dose Cola entsprach 33 Streuselschnecken! Meine Freunde und ich beschlossen, diesen astronomischen Betrag nicht zu bezahlen, sondern der Cola anders habhaft zu werden. Im Laden umkreisten wir die Beute und einer nach dem anderen verließ das Geschäft. Ich nahm all meinen Mut zusammen, passte einen günstigen Augenblick ab und ging dann ebenfalls wieder nach draußen. Wir posierten sichtlich stolz mit den gerade ergaunerten Trophäen und löschten unseren Durst.

In der Schule gab es keinen Fahnenappell mehr und bald auch keine Noten mehr für „Betragen“. Zu Hause hatten die Eltern ganz andere Sorgen als ein nicht aufgeräumtes Kinderzimmer.

In Gesprächen mit Altersgenossen blicke ich gelegentlich auf dieses anarchische Grundrauschen der frühen neunziger Jahre zurück. Viele erinnern sich gern an diese Zeit, in der wir zugleich die Schwelle zur Pubertät passierten. Wie gefährlich dies andererseits werden konnte, zeigte sich in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und weniger bekannten Orten. Als im Zuge des NSU-Prozesses vor einigen Jahren Bilder von Mundlos und Böhnhardt auf Demos Mitte der neunziger Jahre publik wurden, wirkten deren hassverzerrte Gesichter auf mich seltsam vertraut. Ich frage mich, was eigentlich aus den jungen Nazis aus unserer Stadt damals geworden ist und wie nah sie wohl Netzwerken der Terrorbande standen. Die meisten führen heute ein bürgerliches Leben, einige sind in andere (kriminelle) Szenen diffundiert und mindestens einer hat kommunalpolitische „Karriere“ als Stadtvertreter der NPD gemacht.

All das scheint heute weit weg. Debatten über vermeintliche oder tatsächliche Unterschiede von Ost und West, die gegenwärtig wieder geführt werden, erinnern aber daran, dass es erst eine Generation her ist. Als Historiker würde ich diese Phase gern in 100 Jahren untersuchen.