Zehn Tage, die „meine“ Welt erschütterten

aus OWEP 3/2019  •  von Petr Křížek

Dr. Petr Křížek (geb. 1971) ist Theologe und führt ein Reisebüro in Prag mit dem Schwerpunkt „Christliche Bildungsreisen“.

Szene 1

Dr. Petr Křížek (Foto: privat)

Auf dem Kalender steht 8. November 1989. Es ist ein Mittwoch, 14.21 Uhr. Ort: Hauptbahnhof München, Bahnsteig Nr. 23. Ich stehe am Fenster eines aus Prag kommenden Zuges. Aus dem Fenster sehe ich einem Mädchen entgegen, welches auf dem Bahnsteig dem Zug entgegen schreitet. Ich weiß in dem Augenblick nicht warum, aber ich weiß, das Mädchen muss eine Tschechin sein. Mit mir im Zug sind noch etwa 20 weitere Jugendliche aus meiner Prager Heimatpfarrei von Lhotka. Auf Einladung der Ackermann-Gemeinde, eines katholischen Vereins der aus der Tschechoslowakei nach dem Krieg vertriebenen Sudetendeutschen half, dürfen wir nach Rom weiterfahren und dort an der Heiligsprechung der seligen Agnes von Böhmen teilnehmen. Ein großer Wunsch geht in Erfüllung. Der Papst darf nicht in die Tschechoslowakei kommen – dafür dürfen zum ersten Mal 10.000 Tschechen und Slowaken in die freie Welt zu der Heiligsprechung nach Rom ausreisen. Ich, damals 18 Jahre alt und gerade sieben Wochen als Student an der Technischen Hochschule in Prag eingeschrieben, war einer von diesen 10.000. Nach dem Ausstieg aus dem Zug erfahre ich, dass eine andere Jugendgruppe – ebenfalls aus Prag, aber aus einer anderen Pfarrei – mit einem früheren Zug nach München kam und sich uns anschließt. Das Mädchen von dem Bahnsteig gehörte zu dieser Gruppe, sie hieß Terezka und war in der Tat eine Tschechin.

Szene 2

Es ist 10. November 1989, ein Freitagmorgen. Ich sitze in einem Bus vor der Kirche Santa Maria Maggiore in Rom. Der Bus ist voll von unseren sudetendeutschen Mitpilgern. Auf einmal, ganz unerwartet, fangen sie an, sich zu umarmen, zu weinen und zu jubeln. Die Nachricht über den Fall der Berliner Mauer hat uns erreicht. Ich verstehe damals nicht, was los ist und was es für sie, aber auch für mich und für die ganze Welt bedeutet. Aber diesen Augenblick vergesse ich nie im Leben.

Szene 3

Es ist Sonntagvormittag, der 12. November 1989. Ich nehme am Gottesdienst im Petersdom teil, in dessen Verlauf Prinzessin Agnes aus dem Haus der Přemysliden – eine Zeitgenossin des hl. Franz von Assisi – heiliggesprochen wird. Eine alte böhmische Legende erzählt: Wenn die Gebeine von Agnes gefunden werden, wird der Friede in das Land zurückkehren. Damals weiß ich noch nicht, dass früher die Existenz von Gebeinen die Voraussetzung für die Heiligsprechung einer Person darstellte. Apropos: Neben mir in der Kirche steht die Terezka.

Szene 4

Es ist wieder ein Mittwoch, der 15. November 1989, gerade eine Woche haben wir auf der Reise nach Rom verbracht. Nun sitzen wir im Coupé des Zuges nach Prag. In Polen ist die erste freie Wahl mit einer totalen Niederlage der Kommunisten ausgegangen, in Berlin ist die Mauer gefallen, in Sopron bereits im August das Paneuropäische Picknick abgehalten worden. Nur bei uns zu Hause – in der Tschechoslowakei – scheint sich nichts ändern zu wollen. Ich weiß, dass mein älterer Bruder, der mit mir im Coupé sitzt, zwei Eintrittskarten für die Vorstellung der Oper „Verkaufte Braut“ im Prager Nationaltheater für den kommenden Sonntag, den 19. November, um 14.00 Uhr von meinen Eltern geschenkt bekommen hat. Sie meinten, er sei schon genügend alt, um eine ernste Bekanntschaft zu haben. Ich weiß aber auch, dass er keinen Bedarf für diese zwei Eintrittskarten hat. „Martin, würdest du mir die zwei Karten überlassen?“ „Ja“ lautete die Antwort. „Terezka, dürfte ich dich am Sonntag ins Theater einladen?“ „Ja“ lautete die Antwort.

Szene 5

Seit zwei Tagen bin ich wieder zurück in Prag. Es ist der 17. November 1989, 16.00 Uhr, und ich stehe im Prager Univiertel auf einer offiziell zugelassenen Demonstration zum 50. Jahrestag der Schließung der tschechischen Hochschulen durch das NS-Regime. Ich erfuhr davon morgens auf der Uni – es soll eine Demonstration auch gegen das Regime sein –, zum ersten Mal gemeinsam von den unabhängigen Studenten und dem sozialistischen Jugendverband organisiert. Ich kann meinen Augen und meinen Ohren nicht glauben. Um mich herum stehen Tausende, die Redner sprechen absolut frei, der Ruf nach der Freiheit ist sehr laut. Bin ich wirklich in Prag? Gegen 17.00 Uhr ist das offizielle Ende der Demonstration auf dem Vyšehrad. Dort leben meine Großeltern; ich setze mich ab, um ihnen über die Romreise zu berichten, und ahne nicht, dass die Demonstranten sich später weiter ins Zentrum auf den Weg machen und kurz vor dem Wenzelsplatz brutal von der Polizei auseinandergetrieben werden.

Szene 6

Samstag, 18. November 1989. Per Telefon erfahre ich von meinem besten Freund, der auf der Demonstration geblieben ist, was am Abend alles geschah. Er spricht über Brutalität, Blut und ist deutlich erschüttert. Beim abendlichen Hören des westlichen Rundfunks erfahren wir zu Hause, dass am Vortag angeblich ein Student zu Tode geprügelt worden ist. Die Nachricht, die sich später als Falschmeldung erweisen sollte, bedeutet den letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte ...

Szene 7

Sonntag, 19. November, 10.00 Uhr. Vom Ambo meiner Heimatpfarrei spricht der sonst in politischen Fragen eher zurückhaltende Pfarrer Vladimir Rudolf: „Ein System, das seine jungen Menschen zu Tode prügelt, hat kein Recht auf Existenz.“ Auch dieses hat sich in mein Gedächtnis intensiv eingeschrieben. Wie geht es wohl weiter ...?

Szene 8

Der gleiche Tag, 13.30 Uhr. „Wo ist denn die Terezka?“ Seit zehn Minuten warte ich unten am Wenzelsplatz, in 30 Minuten soll die Theatervorstellung anfangen. Da kommt sie schon, schnell laufen wir die paar hundert Meter zum Nationaltheater, setzen uns auf die Polsterstühle, sprechen über das Geschehene und warten den Anfang der Vorstellung ab. Allerdings – anstelle der Ouvertüre kommen alle Schauspieler auf die Bühne, teilen den Theaterbesuchern mit, dass sie alle ab sofort aus Protest gegen die brutale Niederschlagung der Freitagsdemonstration in den Streik treten, und laden alle dazu ein, aufzustehen und die Nationalhymne gemeinsam zu singen. Das kann man nicht vergessen: Das volle Nationaltheater, ein Symbolgebäude für jeden Tschechen, singt vereint und einstimmig die Nationalhymne. Die Wende ist da ... Wir verlassen das Gebäude, Terezka legt die Rose, die ich ihr vorher geschenkt habe, auf die Stelle, wo der Student zu Tode geprügelt worden sein soll und wo inzwischen Hunderte von Kerzen brennen. Wir gehen weiter zum Wenzelsplatz und sind Zeugen einer ersten Demonstration. Der Ruf nach Freiheit ist nicht zu überhören. Wir verabreden uns für den nächsten Tag zur für 16.00 Uhr auf dem Wenzelsplatz geplanten Demonstration.

Szene 9

Die nächsten Tage verbringen wir gemeinsam jeden Tag bei den großen Demonstrationen– bis das Regime fällt und die Freiheit ihren Sieg feiert.

Szene 10 (Nachtrag)

Es ist Sonntag, 30. Juni 2019, 21.40 Uhr. Ich sitze in meinem Prager Büro. Schon vor einem Monat sollte ich diesen Beitrag abgeben. Heute klappt es nun endlich. Zu Hause warten auf mich Terezka, seit 25 Jahren meine geliebte Frau, und unsere drei „Kinder“ – 22, 20 und 17 Jahre alt. Sie sind heute ganz natürlich – Europäer. Aber dafür bräuchte ich weitere „4.000 Zeichen“. Es bleibt mir daher nur ein Einziges – ein Dank, der etwa so lauten könnte:

„Großer und liebender Gott, ich danke dir für die Gabe der Freiheit, die Du uns durch den Einsatz vieler Menschen im Osten und im Westen geschenkt hast. Es ist eine Gabe, die wir nie genügend schätzen können. Sicher, die Freiheit bringt auch neue und nicht wenige Probleme mit sich. Ich bin jedoch fest davon überzeugt, dass du uns Europäer auch heute mit diesen neuen Problemen nicht im Stich lässt – so wie du das auch 1989 nicht getan hast. Amen!“