Die Ukraine und Europa: die Unausweichlichkeit einer gemeinsamen Existenz

aus OWEP 1/2016  •  von Serhij Zhadan

Serhij V. Zhadan (geb. 1974 in Starobilsk) ist ein ukrainischer Schriftsteller, Dichter und Übersetzer. Er gehört zu den wichtigsten literarischen Stimmen seiner Generation in der Ukraine. Zuletzt sind von ihm erschienen „Die Erfindung des Jazz im Donbass“ (Roman, 2012) sowie „Mesopotamien“ (Roman, 2015)

Zusammenfassung

Der Schriftsteller Serhij Zhadan blickt in seinem Text zunächst auf die Ursachen des Ukraine-Konflikts vor zwei Jahren zurück. Er schreibt über das neue Bewusstsein von Werten, zu welchem der Konflikt in großen Teilen der ukrainischen Bevölkerung geführt hat, und problematisiert das Verhältnis der Ukraine zu Europa, das von Missfallen, aber auch von zu großen Erwartungen geprägt ist.

Vor zwei Jahren fing alles wegen Europa an.1 Die Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union (EU) durch den damaligen Präsidenten wurde formal zum Auslöser der Massenproteste, die für ihn dann mit Machtverlust und der Flucht ins Nachbarland endeten. Von da an begann für uns eine ganz neue Geschichte; eine blutige und schwierige, der das Streben des Landes nach Veränderung zugrunde lag. Diese Geschichte dauert bis heute an, und wie sie enden wird, hängt in erster Linie von uns selbst ab. Aber auch von Europa, egal ob es sich dessen bewusst ist oder nicht.

Ich glaube, damals – vor zwei Jahren – konnte sich niemand vorstellen, wie diese Geschichte der Nicht-Unterzeichnung ausgeht und wie wichtig den Ukrainern die Möglichkeit der freien Wahl ist; der europäischen Wahl, wie wir sagen. Natürlich geht es nicht nur um diese Nicht-Unterzeichnung – die europäische Integration allein hätte die Ukrainer nicht dazu bringen können, der unnachgiebigen Staatsmaschine zu widerstehen; aber auf jeden Fall begann die ukrainische Revolution mit der Europafrage. Und so sind zwei Jahre vergangen, wir haben ein völlig anderes Land mit völlig anderen Problemen und vieles wird heute ganz anders wahrgenommen und verstanden. Auch kann man die heutigen Probleme kaum mit denen von vor zwei Jahren vergleichen – damals ging es um Autoritarismus und das Fehlen von Demokratie, heute – um Leben und Tod.

Von Worten zu Werten

Was fand in diesen beiden Jahren statt? Ein unendlich schwerer Revolutionswinter mit massenhaften Erschießungen von Demonstrierenden in Kiew; die Annexion der Krim, russische Söldner im Donbass, der Beginn der Kampfhandlungen. Schon anderthalb Jahre dauert der Krieg im Land. Ein richtiger Krieg, der offiziell aber „Anti-Terror-Operation“ genannt wird. Für viele Ukrainer hat sich alles verändert – das Bewusstwerden ihrer Staatszugehörigkeit, das Gefühl der eigenen Freiheit und der Freiheit ihres Landes. Für viele von uns wurden Dinge lebenswichtig, über die wir früher, vor dem Krieg, einfach nicht geredet hatten: Unabhängigkeit, Patriotismus, der politische Standpunkt – all das, was im heutigen Europa wohl zum Wortschatz eines Politikers gehört, ist für viele Ukrainer Alltagslexik geworden, die täglich verwendet wird. Aber wirklich – wer spricht im heutigen Europa von Patriotismus? Vielleicht Historiker. Und auch sie wie über etwas hoffnungslos Veraltetes und auf suspekte Weise nicht mehr Aktuelles. Stattdessen hat sich herausgestellt, dass die Frage der Freiheit keineswegs nur in die Geschichtsbücher gehört und dass Unabhängigkeit bei weitem keine Abstraktion ist – an ihr muss jeden Tag gearbeitet werden, sie braucht täglich Exklusivität und unmittelbare Teilhabe. Viele Dinge, die vor dem Krieg pathetisch und unangebracht klangen, erlangten unter den Bedingungen der Okkupation plötzlich ihre ursprüngliche Bedeutung zurück. Und in dieser Situation erinnert gerade die Ukraine die europäische Gemeinschaft an die Wichtigkeit und Brisanz vieler vergessener Begriffe und Bedeutungen. Und das ist es, was sich tatsächlich in den Beziehungen zwischen der Ukraine und Europa geändert hat. Tatsächlich, man beginnt, die Wichtigkeit und Unaustauschbarkeit der eigenen Freiheit wie auch der Freiheit der Gesellschaft allgemein besonders deutlich dann zu spüren, wenn Gefahr besteht, dieser Freiheit beraubt zu werden. Die meisten Wörter erhalten erst dann ihre direkte Bedeutung, wenn das Recht, sie auszusprechen, mit dem Leben von Bürgern bezahlt werden muss. Hier in der Ukraine sind wir alle ernster geworden und möchten, dass dieser Ernst nicht unbemerkt bleibt.

Wo steht die Ukraine heute?

Was hat sich noch geändert? Die Anwesenheit der Ukraine als Staat auf der Landkarte Europas. Europa war gezwungen, seine Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was dort in diesem komischen Land passiert, das sich irgendwo am Rand seiner, Europas, Interessen befindet. Irgendwo am Rand, irgendwo dort, wo alles endet. Meiner tiefen Überzeugung nach hat sich auch die Position der Europäer gegenüber der Ukraine geändert. Denn, seien wir ehrlich – bis zu den Ereignissen des Winters 2013/14 wurde unser Land im breiten Bewusstsein der Europäer – wenn überhaupt – dann nur mit Korruption und dem ganzen anderen Sortiment postsowjetischer Realien assoziiert: Armut, Verbrechen, soziale Abhängigkeit und so weiter. Und plötzlich stellte sich heraus, dass man dieser Reihe von Charakteristiken auch das Streben der Ukrainer nach Veränderung anfügen muss, den Unwillen, sich mit einer verfestigten Situation abzufinden, das Streben nach einem normalen Leben. Plötzlich stellte sich heraus, dass nun, wenn es um die europäische Zukunft geht, auch die Ukraine erwähnt werden muss und man sie von nun an nicht mehr einfach ignorieren kann; einen allzu hohen Preis haben die Ukrainer für ihre Wahl bezahlt; allzu viel Blut wurde für eben diese Zukunft vergossen.

Auch der Bewegungsvektor der Gesellschaft hat sich geändert und das ist wahrscheinlich das Wichtigste. Es geht nicht so sehr um unterzeichnete Abkommen oder deklarative Erklärungen von Politikern. Es geht um etwas anderes – in diesen anderthalb Jahren hat Russland alles daran gesetzt, um die Ukraine zu verlieren. Auch wenn es paradox klingt, aber gerade damit, dass unser nördlicher Nachbar gegen alle angebrachten Regeln und Gesetze die Ukraine unbedingt in seiner Einflusssphäre halten wollte, hat er die Ukrainer von sich abgestoßen. Einem Aggressor zu vertrauen ist einfach nicht schlau. Natürlich folgt in dieser Situation die pro-europäische Orientierung der Ukraine direkt aus der Überlebensfrage. Und auch wenn diese Orientierung auf den ersten Blick nicht gradlinig verfolgt wird, ist sie ganz sicher unumkehrbar.

Die Ukraine durchlebt gegenwärtig außergewöhnlich gewaltige und wichtige Prozesse. Allerdings gelangen diese Prozesse nicht immer an die Oberfläche, sie sind nicht sofort wahrnehmbar. Alle sprechen ja über das Fehlen von Reformen, die unbezwingbare Korruption in der Regierung sowie über soziale und wirtschaftliche Mängel, die keineswegs verschwunden sind. Das ist alles so und stimmt, aber ich würde trotzdem über die Richtung der Bewegung reden, für die sich das Land vor zwei Jahren entschieden hat und in die es sich trotz der äußeren und inneren Faktoren, trotz aller Probleme, bewegt. Für mich ist es eindeutig, dass die Ukraine Europa gewählt hat; unter Druck, jedenfalls nicht aus freien Stücken. Aber die Wahl selbst ist gemacht und alle müssen sie als gegeben betrachten – unsere östlichen wie auch unsere westlichen Nachbarn.

Die Ukraine und Europa – ein schwieriges Verhältnis

Und hier gibt es noch einen äußerst interessanten und wichtigen Punkt; die Änderung der ukrainischen Einstellung zu Europa. Denn trotz aller außenpolitischen Prozesse war sie nie simpel und einheitlich. Für viele Ukrainer war die Frage der europäischen Integration selbst auf dem Majdan nicht die wichtigste und ist es bis heute nicht geworden. Europa löst nicht nur Entzückung aus, Europa enttäuscht und ruft Ressentiments hervor. Seit dem Winter, in dem die Ukrainer auf die Straße gingen, um gegen das Regime Janukowitsch zu protestieren, rufen Europa und die Europäer sehr scharfe und widersprüchliche Gefühle hervor. Manche Ukrainer sind geneigt, dieses imaginierte Europa der Unentschiedenheit und Ungradlinigkeit zu beschuldigen, manche schimpfen über Doppelstandards der europäischen Politik, manche verfolgen mit Argusaugen jede Erklärung und Geste der westlichen Politiker und erkennen in allen ihren Entscheidungen doppelte Böden und gegen unser Land gerichtete verdeckte Interessen. Eine solche scharfe und nervöse Reaktion ist vollkommen verständlich – denn in jedem Fall tragen unsere westlichen Partner heute in vollem Maße für die Ereignisse in der Ukraine Verantwortung; zumindest deshalb, weil sie die ganze Zeit in die Entwicklungen in der Ukraine eingebunden waren. Seit der Verhängung der Sanktionen gegen Russland und den Minsker Vereinbarungen hörte Europa auf, nur ein Beobachter in diesem Krieg zu sein. Es ist in jedem Fall ein Teilnehmer dieser dramatischen Geschichte.

Die Ukrainer möchten in den Europäern Verbündete sehen; dass man mit ihnen auf einer Ebene spricht, dass man nicht irgendwelche Spielchen hinter ihrem Rücken spielt, dass man sie einbezieht. Dieser Wunsch ist verständlich und Europa muss ihn beachten. Und hier ist es sehr wichtig, dass neben den vollkommen gerechtfertigten Forderungen und Auflagen für Reformen und die Beseitigung der Korruption auch der Wunsch sichtbar wird, Stimmen aus der Ukraine anzuhören. Denn die Ukraine besteht nicht nur aus korrupten Politikern und Oligarchen mit krimineller Vergangenheit, sondern vor allem aus einer jungen Gesellschaft, die versucht, sich von ihrer sowjetischen Vergangenheit loszureißen und ihre eigene Zukunft zu entscheiden. Und diese Gesellschaft braucht nicht nur Kredite und Investitionen, sondern ist auch an gleichberechtigter vollwertiger Kommunikation interessiert – also sich nicht nur Ratschläge und Tadel anzuhören, sondern auch von sich aus etwas anbieten zu können.

Wenn Europa die Ukraine als vollwertigen Partner akzeptieren möchte, wird es gezwungen sein, seine Haltung gegenüber diesem neuen Mitglied des gesamteuropäischen Raumes zu ändern. Und je früher das passiert, je früher sich die Beziehungen zwischen Europa und der Ukraine hin zu einem gleichberechtigten Dialog und Austausch wandeln, desto einfacher können wir die in solchen Fällen unausweichlichen Missverständnisse und Schwierigkeiten vermeiden.

Der Anfang vom Ende – oder das Ende eines Neuanfangs?

Wir alle befinden uns gegenwärtig am Anfang eines langen und schwierigen Weges. Für uns beginnt alles erst. Und wie man sich leicht denken kann, werden gerade mit der europäischen Wahl weitere Änderungen unserer ukrainischen Realien verbunden sein. Man kann auch voraussetzen, dass sich die Einstellung der Ukrainer zu Europa wie auch die der Europäer zur Ukraine ändern wird. Natürlich müssen wir das Misstrauen zueinander und die veralteten Stereotype überwinden. Natürlich muss die Ukraine nicht einfach nur ihre außenpolitische Orientierung ändern – sie muss auch die Grundregeln der Funktionsweise ihrer Gesellschaft in Hinblick auf die gemeinsame Existenz im gesamteuropäischen Raum anpassen. Selbstverständlich müssen wir uns gegenseitig unterstützen und in engem Kontakt bleiben. Und genauso selbstverständlich wird die europäische Integration für die Ukraine nicht einfach und ohne Probleme bleiben. Aber in jedem Falle müssen wir diesen Weg gehen.

Übrigens: Neben Misstrauen und Missfallen gibt es noch eine weitere nicht weniger schädliche Sache in der Haltung und Wahrnehmung der Ukrainer Europa gegenüber: maßlose Erwartungen. Wir müssen akzeptieren, dass die Idealisierung der europäischen Realität durch einen Teil der Ukrainer genauso fehl am Platz ist wie eine vollständige Ablehnung derselben. Idealismus schadet, er führt dahin, dass man die Verantwortung für die eigenen Probleme auf andere schiebt und es ablehnt, selbst die eigene Zukunft zu gestalten. Die Ukraine ist erst dabei, das echte Europa zu entdecken – mit all seinen Widersprüchen und inneren Problemen, verworrenen Fragen und Antworten, die nicht gegeben werden. Und noch einmal: Je mehr wir über einander wissen, desto offener werden wir in unserer Kommunikation, desto einfacher und durchführbarer wird der Prozess des Bezwingens unserer Widersprüche. Ich glaube, dass wir mehr als genügend Möglichkeiten haben werden, über die für uns wichtigen Dinge zu reden. Das Wichtigste ist, keine Angst vor unangenehmen Fragen zu haben. Und dass wir bereit sind, aufrichtige Antworten zu bekommen.

Aus dem Ukrainischen übersetzt von Jakob Mischke.


Fußnote:


  1. Ausführliche Informationen über die Ereignisse in der Ukraine und darüber hinaus über das ukrainisch-russische Verhältnis bieten die Ausgaben „Ukraine? – Ukraine!“ und „Russland: Bedrohung oder Partner?“ der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven; es handelt sich um die Ausgaben 15 (2014), H. 4, und 16 (2015), H. 3. ↩︎