„Frauenhandel und Prostitution sind die letzte Bastion des Patriarchats.“ Ein Gespräch mit Schwester Lea Ackermann

aus OWEP 2/2015  •  von Michael Albus

Das Interview mit Schwester Lea führte Michael Albus.

Im Oktober 1985 gründete Dr. Lea Ackermann, Mitglied der Gemeinschaft der Missionsschwestern unserer Lieben Frau von Afrika („Weiße Schwestern“), in Kenia SOLWODI („SOLidarity with WOmen in DIstress“, Solidarität mit Frauen in Not) als Hilfsprojekt für Frauen, die aus Armut zur Prostitution gezwungen waren. Bis heute unterstützt SOLWODI diese Frauen beim Ausstieg aus der Prostitution und bei der Entwicklung neuer Zukunftsperspektiven, auch für ihre Kinder. In Deutschland rief Schwester Lea SOLWODI im Oktober 1987 ins Leben.

Hierzulande ist SOLWODI eine Anlaufstelle für ausländische Frauen und Mädchen, die in Deutschland in Not geraten sind. SOLWODI bietet individuelle Beratungs- und Hilfsangebote. Unabhängig von der Situation hilft SOLWODI anonym, kostenlos und überkonfessionell.

Schwester Lea, wie beschreiben Sie aus Ihrer Sicht die aktuelle Situation zum Thema „Frauenhandel und Prostitution“ in Deutschland und in Europa?

Deutschland hat sich zu einem Schwerpunkt in Sachen Sexhandel entwickelt. Wir sind, wie DER SPIEGEL einmal schrieb, zum „Bordell Europas“ geworden.

Sr. Dr. Lea Ackermann (Foto: Renovabis-Archiv)

Wir haben Gesetze geschaffen, die den Bordellbetreibern in die Hände spielen. Ein Beispiel: Die Stadt Saarbrücken wollte kein Großbordell haben. Aber es gibt eine Bauordnung, der sich die Stadt ganz einfach nicht widersetzen konnte. Ähnlich ist es in Burbach. Augsburg ist derzeit deswegen vor Gericht. Weder die Stadträte, noch die Bürger und Bürgerinnen dort wollen ein Bordell. Der Betreiber ist aber inzwischen so selbstbewusst, dass er davon überzeugt ist, den Prozess zu gewinnen. Und dann will er die Stadt wegen Geschäftsschädigung verklagen. Auch wenn es, wie zu hoffen ist, nicht so weit kommen wird: Ich finde es ungeheuerlich, dass die Stadt und die Bürgerinnen und Bürger überhaupt kein Mitspracherecht mehr haben – weil eben unsere Gesetzeslage so ist. Das Gesetz von 2002 ist die pure Katastrophe. Es hat den Bordellbetreibern nur Vorteile gebracht. Es hat dazu geführt, dass man einfach sagen kann: Prostitution ist ein Beruf wie jeder andere. Aber das ist Prostitution nicht. Sie ist Missbrauch von Schwächeren.

Viele der Frauen, die missbraucht werden, kommen aus Mittel- und Osteuropa.

Mittel- und Osteuropa ist der Schwerpunkt. Die meisten missbrauchten Frauen kommen von dorther. Natürlich kommen auch Frauen aus Afrika und Asien. Aber besonders schlimm ist die Situation in Mittel- und Osteuropa. Da kommt sehr vieles an Gründen und Ursachen zusammen: zum Beispiel die Arbeitssituation. Aber auch das Faktum, dass die alten Werte nicht mehr gelten. Ein Polizeibeamter sagte mir einmal: „Die produzieren für den Markt!“

Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems dort hat am Ende ja auch dem Kapitalismus einen Schub gegeben. Und Frauenhandel und Prostitution sind eben auch ein kapitalistisches Problem. Was tut SOLWODI, Ihre Organisation, in dieser Situation konkret?

Die Frauen kommen zu uns, weil andere Frauen, denen wir geholfen haben, ihnen Hoffnung machen, dass sie bei uns Hilfe finden können. Und die Polizei bringt diese Frauen zu uns. Das sind die beiden Hauptquellen.

Ein Beispiel: Anfang des letzten Jahres hat die Polizei ein fünfzehnjähriges Mädchen zu uns gebracht. An dem Tag, an dem sie zu uns kam, wurde sie 15 Jahre alt. Sie stammte aus einem osteuropäischen Kinderheim. Die Täter haben sie dort im Alter von 12 Jahren rausgeholt und drei Jahre in Deutschland angeboten. Sie bekamen den Prozess gemacht und wurden zu je einem Jahr und vier Monaten Haft auf Bewährung (!) verurteilt. Und die Richterin meinte, dass das Mädchen ja auch zeitweilig „mitgespielt“ hätte – als Kind! Da habe ich gesagt: „Macht den Schluss-Strich! Kein Kauf von Sex!“

Man soll nicht immer auf die Frauen schauen, ob sie sich aufreizend anziehen oder andere Gründe gegen sie geltend machen. Ich bin schon dafür, dass sich Frauen angemessen kleiden. Aber entscheidend ist: Man darf und kann Frauen nicht kaufen! Das darf nicht sein!

Gibt es für SOLWODI so etwas wie Erfolg?

Erfolg ist für uns, wenn wir mit den Frauen ins Gespräch kommen, wenn wir mit ihnen zusammen herausfinden, was sie gerne machen wollen, wenn wir sie in einer Schule oder in einer Ausbildung unterbringen. Aber das ist nicht so einfach. Und manches läuft nicht glatt.

Wir hatten vor zwei Monaten eine junge Frau hier, die sieben Jahre in der Prostitution war. Sie sagte zu mir: „Schwester Lea, ich wollte eigentlich immer nur in die Schule gehen, ich wollte etwas lernen und einen Beruf ergreifen“. Da bin ich selber mit ihr herumgezogen und habe schließlich einen Platz in einer Schule für sie bekommen können. Und eine halbe Stelle bekam sie in einer Gärtnerei, damit sie sich ein wenig Geld dazu verdienen konnte. Sie war überglücklich. Dann ging sie drei Tage zur Schule, erledigte mit Freude ihre Hausaufgaben. Und dann passierte es wieder, sie hörte Stimmen, die sie beschimpften als „Hure“, Schlampe“, als „Prosti“. Sie kam und sagte: „Ich kann nicht dorthin gehen, da sind wieder die Stimmen.“ Dann haben wir sie wieder dort herausgenommen und zu einem Arzt gebracht. Es kommt bei traumatisierten Frauen, bei Frauen, die gegen ihren Willen in der Prostitution festgehalten werden, häufig vor, dass sie Stimmen hören. Zwei Tage später hat sie einen Selbstmordversuch gemacht. Sie wurde Gott sei Dank noch rechtzeitig entdeckt. Nun ist sie in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie.

Das ist ungeheuerlich! Kinder und Mädchen werden ganz bewusst kaputt gemacht. Und unsere Politik rührt sich in dieser Frage kaum oder gar nicht. Ich kann es nicht fassen!

Woran liegt es, dass nach Ihrer Auffassung Politikerinnen und Politiker nicht angemessen reagieren?

Sie wissen nicht, wie die Situation wirklich ist. Ein Beispiel: Die Frauenministerin Manuela Schwesig wollte sich ein Bild der Lage machen. Sie hat eine Expertengruppe zusammengerufen, in der auch die Bordellbetreiber vertreten waren. Dass es da nicht viel zu diskutieren gab, ist klar.

Wir haben im Jahre 2014 mit der Aktion „Macht den Schluss-STRICH!“ begonnen, haben inzwischen 24.000 Unterschriften gesammelt und wollten sie der Ministerin übergeben. Das ging nicht. Sie hatte keine Zeit, mit uns darüber zu reden. Und vermutlich auch kein Interesse. Denn die Prostitution ist eine Branche, die dem Staat sehr viel Geld einbringt.

Weit verbreitet ist ja das Argument: Frauenhandel und Prostitution gab und gibt es schon seit Menschengedenken. Prostitution ist „das älteste Gewerbe der Welt“, da solle man nicht so zartfühlend sein.

Das ärgert mich ganz besonders! – Wir haben ein Gesetz gemacht, dass Mord verbietet. Aber es gibt immer noch Mord. Also sagen wir: Es braucht kein Gesetz. Dasselbe gilt für andere Verbrechen. Zum Beispiel auch für Diebstahl.

Frauen wurden immer missbraucht. Das Ganze hat immer auch mit Machtmissbrauch zu tun. Es spielt in einem Bereich des Lebens, in dem Frauen und Kinder, der Mensch überhaupt, am Verletzlichsten sind. Da kann man am Meisten verwunden und schaden. Mit dem, was kostbar ist, muss man gut umgehen. Es macht mich wütend, dass man immer nur auf die Frauen schaut und sie für die Verführerinnen hält. Dieser „Mythos“ wird endlos wiederholt. Aber er wird durch Wiederholung nicht wahrer.

Verletzung von Frauen, auch von Kindern, geschieht durch Männer. Hat sich die Männergesellschaft in diesem Punkt weiter entwickelt?

Schon vor einigen Jahren hat sich in Deutschland eine Gruppe „Männer gegen Männer-Gewalt“1 zusammengefunden. Dann gibt es in Frankreich eine Gruppe „Zéromacho“2, die auch bei uns in Deutschland mit einigen Wenigen aktiv ist. Das ist ein guter Weg, auf dem Männer über ihre Sexualität nachdenken und sagen: Nein, so sind wir nicht und so brauchen wir nicht zu sein! Es ist gut, wenn nun auch Männer darüber sprechen und nicht nur Frauen untereinander. Und es ist gut, wenn darüber respektvoll geredet wird, zum Beispiel schon im schulischen Unterricht. Vielleicht wird dadurch ganz langsam ein anderer Umgang mit Frauen möglich.

Welche Rolle spielen denn, ohne in billige Polemik zu verfallen, die Kirchen, vor allem die katholische? Sie ist ja, wie sie sich aktuell darstellt, immer noch ein Männerbund. Meine Erfahrung ist: Die Frauen werden in diesem Männerbund zwar verbal anständiger behandelt als früher, aber die Fakten, zum Beispiel in vielen Gemeinden, sind im Wesentlichen immer noch die alten.

Es gibt keine wirklichen Argumente gegen die Gleichbehandlung von Frauen in der katholischen Kirche, dass sie zum Beispiel zu allen Ämtern zugelassen werden. Ich könnte jetzt, schon fast ironisch, sagen: Die Klerikalisierung der Kirche ist so weit fortgeschritten, dass es auch nicht mehr viel bringt, wenn Frauen da jetzt noch hineinkommen. Aber dennoch wäre es, wenn es geschähe, ein Ernstnehmen, eine Aufwertung der Frauen, die absolut notwendig ist.

Das Problem zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird auch in dieser Frage noch lange bleiben. Männer in der Kirche sind auch nicht anders als Männer außerhalb der Institution. Sie sind nicht einfach schon besser, weil sie eine Weihe haben.

Man kann schon den Anspruch haben, dass sie sich mehr anstrengen, besser mit all ihren Fehlern umzugehen. Das ist ja die Herausforderung jedes Menschen, dem, was wichtig und wertvoll ist, bei sich selber zum Durchbruch zu verhelfen. In jedem Menschen gibt es Gutes und Böses. Die Frage ist, was man „füttert“, was man stärkt, was man wachsen lässt in sich und was nicht.

SOLWODI hat 2014 – Sie sprachen schon davon – die Aktion „Macht den Schluss-STRICH! Kein Sexkauf in Deutschland!“ ausgerufen. Was heißt es für Sie und SOLWODI konkret, Schluss mit dem STRICH zu machen, einen Schlussstrich unter den STRICH zu machen?

Für uns heißt das konkret: Wir wollen die Politikerinnen und Politiker dazu anregen, ein Gesetz zu machen, dass den Kauf von Sex unter Strafe stellt. Es kommt nicht auf eine hohe Strafe an. Auf ein Umdenken kommt es an! Stellen Sie sich vor: Ein Mann bekommt dafür einen Strafzettel wie beim Falschparken. Wenn ein solcher Strafzettel in eine normale Familie kommt, bekommt der Mann seine erste Lektion im Nachdenken über sich.

Frauenhandel und Prostitution sind die letzte Bastion des Patriarchats. Es darf und kann nicht ohne Folgen bleiben, dass man Frauen kaufen kann. Da liegt der tiefste Punkt: Wenn man der Auffassung ist, dass der, der Frauen kaufen kann, auch das Sagen hat, wird die Frau zur Ware degradiert.

In den nordischen Ländern wird das schon so praktiziert, wie wir es vorschlagen. Und dadurch hat sich dort in der althergebrachten und herrschenden Männermentalität und in der öffentlichen Meinung, dass die Frau nicht etwas ist, das zu „haben“ ist, schon etwas zum Besseren verändert.

Das Europäische Parlament hat eine solche Praxis empfohlen. Als Rat gegeben – leider nicht als Verpflichtung, das ist ein wenig schade. Aber es hat auch darauf hingewiesen, dass das der einzig mögliche Weg ist, um langfristig das Problem einer Lösung näher zu bringen. Das wird das Problem nicht grundsätzlich beseitigen. Aber ein anderes Nachdenken wird dadurch angeregt. Das ist ein Anfang, um dem Frauenhandel und der Prostitution, dieser menschenverachtenden Form von Gewalt, zu begegnen.


Fußnoten: