Lernen aus 1918: Bedingungen der Demokratie

aus OWEP 1/2018  •  von Dieter Segert

Prof. Dr. i. R. Dieter Segert war Professor für Politikwissenschaft (Osteuropastudien) an der Wiener Universität und in Berlin (Humboldt-Universität).

Zusammenfassung

Die Niederlage der Mittelmächte 1918 bildete eine tiefe Zäsur in der Entwicklung Europas, dessen heutige politische Gestalt weitgehend auf die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg zurückgeht. Viele politische und gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland, in den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns, in der heutigen Türkei und auch im heutigen Russland (das Zarenreich war bereits 1917 zusammengebrochen) haben aber, wie aus dem folgenden Beitrag deutlich wird, eine lange Vorgeschichte im Rahmen der Modernisierungen des 19. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund zeichnet der Autor eine Linie der mittel- und osteuropäischen Geschichte vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die Gegenwart, die er trotz aller weiteren Brüche im 20. Jahrhundert als stetigen demokratischen Lernprozess deutet.

1918 war für Westeuropa ein Wendejahr. Osteuropas Umbruch begann schon ein Jahr früher, im März (Februar) 1917. Im großen Krieg, der seit 1914 tobte, trat die Zerrüttung traditioneller Formen der Herrschaft nachdrücklich zutage, sodass nach ihm vier große Imperien zerbrachen und sich der Nationalstaat als neue politische Herrschaftsform nunmehr auch am Rand Europas etablierte. Das war der Anfang des „kurzen 20. Jahrhunderts“ (Eric Hobsbawm), ein Jahrhundert der politischen Gewalt und des mühsamen Aufstiegs der Demokratie.

Das moderne Mittel- und Osteuropa begann mit diesem Zusammenbruch von vier alten Imperien: des Osmanischen Reichs, der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, des zaristischen Russlands und des Deutschen Kaiserreichs. Das ist eine politikwissenschaftliche These.1 Sie stützt sich auf eine bestimmte Interpretation der Grundlagen dieses Werdens. Das neue Osteuropa bekam seine politisch-staatliche Gestalt in den Pariser Vorortverträgen. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, hier vor allem Frankreich und Großbritannien, zogen Grenzen, die sich als erstaunlich stabil erwiesen. Sie sind (mit einigen Ausnahmen) heute noch anerkannt. Trianon, der Vertrag mit Ungarn, ist eine Ausnahme, der von Sèvres mit der Türkei die andere. Träger der Stabilität jener Nachkriegsordnung waren die aus Nationalbewegungen und Friedensschlüssen entstandenen neuen Nationalstaaten.

Um die Stabilität der neuen Ordnung besser verstehen zu können, muss zumindest noch auf einen grundlegenden sozialen Wandlungsprozess verwiesen werden, der schon über hundert Jahre früher begann: die Modernisierung der europäischen Gesellschaften. In diesen umfassenden Wandlungsprozessen entstand eine neue Art der Produktion, in der Bildung einen höheren Stellenwert hatte, eine gewandelte Sozialstruktur und Lebensweise, eine andere Beziehung zwischen staatlicher Ordnung und Bürgern. Die industrielle Revolution prägte die umfassende Änderung der Wirtschafts- und Lebensweise der Menschen. Eine weitere Revolution, die Französische von 1789, hatte mit ihrer Idee sozialer und politischer Gleichheit auch in anderen Teilen des alten Kontinents nationale Bewegungen angestoßen, die in den multiethnischen Imperien Konflikte erzeugten, an denen jene zerbrachen. Die Idee der nationalen Selbstbestimmung der Völker war es, die die Grenzziehungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs legitimierte.

Damit sind die entscheidenden Kräfte des europäischen Wandels, der 1918 einsetzte, genannt. Wie hat sich der Untergang der großen Imperien Europas vollzogen und warum haben sich seine Zerfallsprodukte, die neuen Nationalstaaten, im Großen und Ganzen als beständig erwiesen?

Von Russland zur Sowjetunion und zurück

Natürlich könnte man dieses Jahr 1918 auch als Aufstieg der demokratischen Ordnung und den Sieg der Idee des Rechtsstaates feiern. Dann müsste man allerdings die Entwicklung in Russland als große Ausnahme verstehen: Hier siegte zunächst und für die Dauer von mehr als zwei Generationen ein anderes Herrschaftsprinzip, ein autoritärer Staat. Das war eine Modernisierungsdiktatur. Das zaristische Russland hatte sich seit 1861 in einem Reformprozess befunden und Schritte der europäischen Modernisierung nachvollzogen: die Bauernbefreiung, die Schaffung einer Großindustrie und modernen Verkehrsinfrastruktur, neue soziale Schichten (Industriearbeiter, Unternehmer und Intelligenz) entstanden, ebenso Anfänge der lokalen Selbstverwaltung. Auch nationale Ideen keimten, hier zunächst in einer Politik der Russifizierung und Unterdrückung nichtrussischer Nationalbewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts. Die politische Herrschaftsform blieb traditionell dynastisch. So entstand etwas, was Iván T. Berend für Ostmitteleuropa in der Zwischenkriegszeit eine „duale Gesellschaft“ nennt: die Entstehung einer neuen Gesellschaft unter der Haut traditioneller sozialer und politischer Verhältnisse.2 Dieses instabile Gleichgewicht führte in die Eruptionen der beiden russischen Revolutionen von 1905 und 1917.

Die zweite russische Revolution schuf den Raum für zwei alternative politische Ordnungen, eine bürgerliche oder eine sozialistische Republik. Die Akteure beider Alternativen hatten sich in den Reformen ab 1861 und in der Revolution von 1905 herausgebildet. Schließlich siegte die sozialistische Republik als Modernisierungsdiktatur. Ein Teil der russischen Sozialdemokratie, ihr „linker Flügel“, setzte sich in der Innenpolitik durch. Hier zeigt sich, wieviel ein organisierter politischer Trupp in der Situation einer zerbrechenden alten Ordnung erreichen kann. Die Bolschewiki hatten die Strategien, die Disziplin und innere Organisation, die nötige Skrupellosigkeit in der Wahl der Mittel und sie profitierten von der Situation miteinander zerstrittener politischer Gegner. Mit dem Aufbau einer neuen politischen Diktatur im Laufe eines blutigen Bürgerkriegs sowie der Übernahme von liegengebliebenen Modernisierungsaufgaben des zaristischen Russland wurde ihr Sieg möglich.

Allerdings blieb die durch die Bolschewiki verwirklichte umfassende Modernisierung des Landes stecken, sie blieb unvollendet. Das Instrument der Modernisierung, die Modernisierungsdiktatur, durch welche eine moderne Industrie aufgebaut sowie die Urbanisierung und eine Bildungsrevolution bewirkt worden waren, verhinderte gerade die Entwicklung der adäquaten politischen Herrschaftsform jener Moderne, die Demokratie. In den Poren des Staates entwickelten sich allerdings doch langsam die Voraussetzungen einer Demokratisierung. Sie bestanden im Willen und in den Kompetenzen von Bürgerinnen und Bürgern, sich an der Gestaltung von Politik zu beteiligen, welche sich in den Küchengesprächen von kritischen Intellektuellen und in den Hoffnungen von vielen Menschen, die außer einer technischen Bildung auch eine hoffnungsvolle Ahnung von der Welt außerhalb der Sowjetunion bekommen hatten, entwickelte. Selbst in der sozialistischen Utopie, die zur Herrschaftssicherung einer Parteielite missbraucht wurde, keimte das Neue, getragen von einer kleinen Schicht marxistischer Dissidenten, nämlich die Vorstellung, dass es noch etwas anderes auf Grundlage des sozialistischen Programms geben könnte als nur den Konsumsozialismus der Breschnewzeit. Das war die ideelle Grundlage jener Gruppe der „1960er“, der „Schestidesjatniki“, die die Hoffnungen des Tauwetters in die Konzepte der Perestroika hinüberretteten.

In den Nischen des Systems und seiner Ideologien entstanden allerdings auch die Träger des Zerfalls des multinationalen sozialistischen Imperiums, die späteren nationalisierenden Eliten. Obwohl der Marxismus eine Überwindung der Nationen vorausgesagt hatte, förderte die bolschewistische Elite in den 1920er Jahren zunächst eine Renaissance des Nationalen. Das Stichwort dafür war „Korenisazija“, Einwurzelung. Diese Politik, die als Bündnispolitik auf die Stabilisierung der Herrschaft des Zentralstaats gerichtet war, setzte unter der Hand die nationalen Erneuerungsbewegungen des 19. Jahrhunderts fort, die woanders zu Nationalstaaten führten, in der Sowjetunion hingegen keine staatliche Eigenständigkeit hervorbrachte. Ein Nebenprodukt war allerdings die Bildung von kulturellen Voraussetzungen für die spätere Nationalstaatsbildung. Staaten wie die Ukraine haben – im Gegensatz zur Wahrnehmung durch die heutigen nationalistischen Eliten – erst in der Sowjetukraine Grundlagen einer eigenständigen Nationalstaatsbildung gelegt bekommen. Die nationalen Sprachen, Schriften und Kulturen wurden entwickelt, und damit wurden wohl auch die nationalen Mythen im Denken eines Teils der nunmehr entstehenden intellektuellen Gruppen am Leben gehalten und ausgebaut. Sie wurden für die Eliten der späten 1980er Jahre dann eine Legitimationsgrundlage für ihr Bemühen, aus dem Zerfallsprozess der alten Ordnung zu neuen Herrschaftsformen zu finden.

Natürlich kamen in den späten 1980ern, wie schon in der Revolution von 1917, externe Kräfte hinzu. Einerseits gab es für viele der nationalen Keimformen auch eine Diaspora, die die interne Nationalstaatsbildung unterstützte. Das war zumindest in den baltischen Staaten, in den Nachfolgestaaten des Transkaukasus sowie in der Ukraine der Fall. Die Führungsmächte der so genannten „Ersten Welt“, also des Kapitalismus der Nordhalbkugel, betrachteten zudem das Ende der kommunistischen Sowjetunion als ihren Sieg und hatten es aus machtstrategischen Gründen gefördert. Den neuen russischen Nationalstaat konnten sie allerdings nicht dauerhaft an sich binden. Eine neue internationale Friedensordnung unter Einschluss Russlands entstand so bis heute nicht.

Habsburgs lange Schatten

Eine noch um Jahrhunderte ältere europäische Monarchie, das Reich der Habsburger, zerbrach ebenfalls am Ende des Ersten Weltkriegs. Die Französische Revolution von 1789 und Napoleon hatten bereits dem alten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation 1806 ein Ende bereitet und kurz zuvor (1804) die Schaffung eines „Österreichischen Kaisertums“ angestoßen. Jenes Österreich war eine der Ordnungsmächte Europas im 19. Jahrhundert. Unter der Hülle der alten Ordnung bildeten sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts in ihm eine demokratische Herrschaftsordnung und ein Rechtsstaat, weitergehender als im zaristischen Russland, heraus.

Allerdings war auch das nicht ohne Druck von unten geschehen. Am Ausgangspunkt standen die unvollendeten Revolutionen von 1848. Die Verfassungsreformen von 1867, die das Imperium in einem gewissen Ausmaß föderalisierten, hatten dem späteren Zerfall zugearbeitet. In ihrem Gefolge belebten sich auch in anderen Gebieten des Reiches nationale Autonomiebewegungen: vor allem im Gebiet des böhmischen Königreichs, aber auch in Kroatien, in der Slowakei und in Galizien. Der Ausgleich mit den Ländern der böhmischen Krone gelang nur für Mähren. Teilweise wurden die nationalen Bestrebungen aus taktischen Gründen gefördert, wie etwa die Kräfte um Józef Piłsudski in der österreichischen Reichshälfte während des Ersten Weltkriegs oder die ukrainischen Autonomiebestrebungen vor allem in Ostgalizien. In der ungarischen Reichshälfte wurden durch die Magyarisierungspolitik der ungarischen Herrschaftselite ungewollt Unabhängigkeitsbewegungen der nationalen Minderheiten wie der Kroaten unterstützt. Die italienische Wiedergeburtsbewegung, das Risorgimento, führte 1866 zum Herausbrechen Oberitaliens aus dem Habsburger Herrschaftsbereich.

Im Habsburger Imperium sind im Verlaufe des 19. Jahrhunderts einige wichtige Schritte der Modernisierung gegangen worden: Es hatte sich ein Volksbildungswesen herausgebildet, in einigen Gebieten war eine moderne Industrie entstanden, der Staat hatte sich begonnen zu demokratisieren. In der österreichischen Reichshälfte existierten ein allgemeines Männerwahlrecht (ab 1907) und eine Vertretung der verschiedenen nationalen Gemeinschaften im Reichsrat, dem Parlament. Diese politische Repräsentation förderte ihrerseits die Bewegung für nationale Selbstbestimmung. Der Zerfall des Reiches und die Bildung von neuen Nationalstaaten war trotzdem nicht die einzige politische Möglichkeit. Ein alternatives politisches Konzept war durch österreichische Sozialdemokraten entwickelt worden. Es beinhaltete eine Kulturautonomie der verschiedenen Ethnien im Rahmen eines demokratisierten Gesamtstaates. Diese Idee war es, die auch in der Krise der staatssozialistischen Ordnung Österreichs in den 1980er Jahren in modifizierter Form wieder auftauchte. Zumindest geschah das in Gestalt der durch einige Intellektuelle der österreichischen ÖVP unterstützten „Mitteleuropa“-Konzeption.3 In Ungarn gab es Kräfte in der intellektuellen Elite, die mit dieser Idee sympathisierten. Hier wurde eine Donauföderation konzipiert, deren Kern ein Bündnis Österreichs und Ungarns bilden sollte. Als haltbarer erwiesen sich aber dann doch die 1918 entstandenen und nach 1945 gefestigten Nationalstaaten.

Obwohl Österreich nach 1955 (nach seiner Unabhängigkeit und Neutralität) mit dem Rücken zum Osten gelebt hat, ist es wohl auch ein Erbe der Habsburger Geschichte, dass die österreichischen Unternehmen, Banken, Versicherungen und weitere Betriebe die Wirtschaften Ostmittel- und Südosteuropas erfolgreicher als andere westeuropäische Unternehmen, wenn man von der deutschen Autoindustrie absieht, eroberten. Die Verhandlungskultur in österreichischen Unternehmen spielte eine gewisse Rolle in der Strategie der Investitionen. Man kannte in Österreich wie in den östlichen Nachbarländern die Notwendigkeit vieler Gespräche und der Suche nach Verbündeten. Darüber hinaus entdeckten die Österreicher nach 1989 ihre eigene Geschichte neu – die Expansion der Habsburger nach Süden und Osten – und gewannen damit eine historische Legitimation für ihr wirtschaftliches Engagement.

Deutschlands instabile Republik

Das Deutsche Kaiserreich unter der Führung Preußens hatte sich erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts herausgebildet. Hier brach 1918 kein Imperium im eigentlichen Sinne zusammen (wenn man von den bescheidenen Kolonien absieht, die es verlor – und Polens deutsche Teilungsgebiete, die wieder freigesetzt wurden), sondern ein politisches Regime kam an sein Ende. Auch in Deutschland hatten sich unter der monarchischen Herrschaftsform moderne Wirtschafts- und Lebensformen herausgebildet. Die industrielle Revolution vollzog sich besonders schnell. Die sich damit herausbildende Industriearbeiterschaft hatte durch starke Gewerkschaften und eine einflussreiche sozialdemokratische Partei an politischem Einfluss gewonnen. In der ersten parlamentarischen Regierung im Oktober 1918, am Ende des Weltkriegs, war die Sozialdemokratie das erste Mal präsent. Politisch begünstigt wurde der Aufstieg der Sozialdemokratie durch das allgemeine Wahlrecht und die Existenz einer konstitutionellen Monarchie sowie durch den missglückten Versuch Bismarcks, diese politische Bewegung durch Sozialistengesetz und Sozialgesetzgebung klein zu halten.

Das Kaisertum zerbrach durch die militärische Niederlage und eine revolutionäre Bewegung am Ende des Kriegs. Die Abdankung des Kaisers und die Ausrufung der Republik (gleich zweimal, durch Philipp Scheidemann als bürgerliche Republik und durch Karl Liebknecht als sozialistische Republik) schuf die Möglichkeit einer neuen Verfassung, der von Weimar 1919. Sie war politisch relativ stabil, wurde aber durch die Friedensordnung der Siegermächte und die wirtschaftlichen Nachbeben des Kriegs, v. a. die Hyperinflation des Jahres 1923, erschüttert. Ende der 1920er Jahre geriet dann auch die parlamentarische Demokratie in die Krise. Eine neue autoritäre Diktatur wurde geboren. Auf der Ebene der Verfassung war es besonders der Widerspruch zwischen der legitimen Macht der parlamentarisch kontrollierten Regierung und der des Reichspräsidenten, der die Weimarer Verfassungsordnung unterminierte. Gleichzeitig waren es die Spannungen des Modernisierungsprozesses, die die Weimarer Republik instabil machten. Die soziale Stärke der Industriearbeiter und Angestellten fand keinen adäquaten Ausdruck in der Wirtschaftsordnung. Es fehlte sowohl an einer entsprechenden demokratischen Betriebsverfassung als auch an einem System staatlicher Sozialpolitik. Nach dem Ende von Weimar kam es zu einem autoritären Sozialstaat unter nationalsozialistischem Vorzeichen. Erst nach der erneuten militärischen Niederlage Deutschlands in einem nächsten großen Krieg bildeten sich unter der Aufsicht der Westmächte als Ergebnis von Lernprozessen der Eliten und einer starken wiederrichteten Sozialdemokratie in einem Teil des Landes eine neue stabile Demokratie und ein moderner Sozialstaat heraus.

Der kleinere östliche Teil geriet unter den Einfluss des sowjetischen Staatssozialismus. Die Modernisierung der Gesellschaft vollzog sich ungleichzeitig: Während die Autorität der Frauen durch wirtschaftliche Selbstständigkeit gestärkt wurde und eine umfassende Bildungsentwicklung die Handlungsfähigkeit der Menschen förderte, blieben die politischen Verhältnisse starr. Die Utopien der Marx‘schen Sozialismusauffassung sorgten aber auch in diesem Land des Staatssozialismus in bestimmten Gruppen der Intelligenz für das Entstehen demokratischer Hoffnungen und Reformkonzepte. In gewissem Maße war schon die 1949 entstandene „Deutsche Demokratische Republik“ als Utopie angelegt, die ihre Möglichkeiten allerdings niemals ausschöpfen konnte. Aus der Konkurrenz zweier wohlfahrtsstaatlicher Modelle ergab sich in der Krise der DDR im Herbst und Winter 1989/90 der Sieg des westlichen Modells in deren Bevölkerung4 sowie folgerichtig die Legitimation des Beitritts der ostdeutschen Gesellschaft zum westdeutschen Staat.

Türkei – Konflikte der Modernisierung am Rande Europas

Im vierten großen Imperium, dem Osmanischen Reich, das seit dem 15. Jahrhundert seine Herrschaft auf Teile Südosteuropas ausgedehnt hatte, war die Krise der Modernisierung bereits im Jahrhundert vor 1918 angekommen. Einzelne Teile des Herrschaftsgebietes waren in diesen Jahren aus dem Imperium herausgebrochen worden, zwei Kriege auf dem Balkan unmittelbar vor dem ersten großen Weltkrieg beschleunigten diese Entwicklung. Reformen (unter dem Begriff „Tanzimat“ bekannt) hatten versucht, die zerbrechende staatliche Herrschaft zu stabilisieren. Die Herstellung einer Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und eine begrenzte konstitutionelle Einschränkung der Rechte des Herrschers waren wichtige Teile dieses Prozesses. Sie zeigten gleichsam, wie die Hegemonie der Ideen des europäischen Zentrums – Rechtsstaat, Gleichheit aller Bürger vor der Staatsmacht, sowie die Bändigung der Souveränität des absoluten Herrschers durch eine Verfassung und durch regelmäßige Wahlen – auf seine Peripherie wirkten. In der schon für das zaristische Russland festgestellten „dualen Gesellschaft“ war im späten Osmanischen Reich der Einfluss der traditionellen Ordnung noch deutlicher gegeben. Die Modernität war hier nicht mehr als eine dünne Erdschicht über traditionellen Wurzeln. Erst aus der Niederlage der Türkei an der Seite der Mittelmächte und dem Widerstand gegen eine Zerstückelung des Landes durch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs öffnete sich der Weg in die moderne Türkei, in den türkischen Nationalstaat.

Der Widerstand der türkischen Eliten gegen eine weitere Marginalisierung (Peripherisierung) des Landes war eine der Triebkräfte dieser nationalen Revolution am Rande Europas. Die Türkei übernahm unter Führung ihres ersten Präsidenten Mustafa Kemal, genannt Atatürk, bestimmte Organisationsprinzipien der französischen Revolution, v. a. die Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften. Sie modernisierte auch Sprache und Kultur sowie schuf ein modernes Bildungswesen. Eine Demokratie entstand zunächst nicht, sondern die Erfolge der Modernisierung wurden durch autoritäre politische Strukturen gesichert. Auch der türkische Staat war in dieser Zeit eine Modernisierungsdiktatur. Die Modernisierungselite festigte das Staatsgebiet in den Grenzen der heutigen Türkei.

Nach 1945 kam es unter dem Einfluss des gewandelten Zeitgeistes in der westlichen Welt und im transatlantischen Bündnis dann in der Türkei zu einer Demokratisierung, zu Wahlen eines Parlaments auf Grundlage des allgemeinen Wahlrechts und zur Parlamentarisierung der Regierungsbildung. Dieser Prozess wurde allerdings immer wieder durch Militärputsche unterbrochen. Mit dem Aufstieg der AKP ist nun offenbar die Rolle des Militärs als Wächter der Verfassung zu Ende gegangen. Die gewisse Renaissance des osmanischen Reichsgedankens unter Erdoğan scheint allerdings nicht von vornherein gegen eine weitere demokratische Entwicklung gerichtet gewesen zu sein. Ob sich in der Türkei das Modell eines „illiberalen Staates“ oder das einer westlichen Demokratie durchsetzen wird, ist heute nicht ausgemacht. Hier scheinen auch Widersprüche der Modernisierung eine Rolle zu spielen. Eine modernisierte städtische Gesellschaft steht gegen eine traditionellere ländliche. Ansonsten zeigt sich wieder die Macht des organisierten politischen Willens.

Das Ende der traditionellen Herrschaftsordnungen und die Wirkungen der internationalen Sicherheitsarchitektur

Ein Vergleich des Niedergangs der vier großen europäischen Monarchien am Ende des Ersten Weltkriegs ist nur schwer auf einen Nenner zu bringen. Mein Versuch, die Entwicklung der politischen Ordnungen mit den vielfältigen Modernisierungsprozessen in den betreffenden Gesellschaften zu verbinden, hat sowohl Vorzüge als auch blinde Flecken. Eines jener Erklärungsdefizite besteht darin, dass historische Prozesse nur im Nachhinein alternativlos aussehen. In den konkreten Krisensituationen spielen hingegen häufig Zufälle eine Rolle, entscheiden die Aktionen von entschlossenen Personen oder Gruppen oder in den Massen verwurzelte Mythen und Ideologien über gesellschaftliche Alternativen. Das war 1918 ebenso wie 1989-1991 der Fall.

Zum Abschluss dieses Essays soll nur noch eine generelle Rahmenbedingung neben den erwähnten europäischen Modernisierungsprozessen in den Fokus der Betrachtung gerückt werden: die internationalen Ordnungen, die Wirkung der jeweiligen internationalen Sicherheitsarchitektur. Die Möglichkeiten eines internen Wandels in den einzelnen Fällen wurden in hohem Maße durch die hegemonialen Ordnungen auf europäischer Ebene bestimmt.

Am Ende des Ersten Weltkriegs bildete die politische Hegemonie Frankreichs den Rahmen der Entwicklung in den neuen Nationalstaaten, nachdem sich die USA aus Europa (und aus dem Völkerbund) zurückgezogen hatten. Die Verfassungen der neuen Nationalstaaten am Ende des Ersten Weltkriegs wurden deutlich durch das französische Vorbild beeinflusst, nach dem Muster der Verfassung der Dritten Französischen Republik geschrieben. Das dominierende Wahlrecht war demzufolge ein Verhältnisrecht ohne Sperrklausel, das viele Parteien zuließ. Im Laufe der 1930er Jahre wurde jene Hegemonie des republikanischen Frankreichs allerdings durch die des autoritären Deutschlands ersetzt. Besonders starken Einfluss nahm Deutschland durch seine erstarkende Wirtschaft auf den südosteuropäischen Raum. Auch die politischen Erfolge Hitlerdeutschlands in der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg wurden bedeutsam. Daneben wirkte das faschistische Italien seit 1922 in dieselbe politische Richtung, v.a. die autoritären Regime in Ungarn oder den baltischen Staaten sowie die autoritären Tendenzen in Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien stützend. Österreich versuchte nach 1934 einen Spagat zwischen Italien und Deutschland, um seine Unabhängigkeit zu bewahren. Das misslang spätestens mit dem deutschen Einmarsch im März 1938.

1945 kam es zu erneuten starken internationalen Einflussnahmen auf die zwischen der Sowjetunion und Westeuropa liegenden Staaten. Meist konnte sich die UdSSR bzw. deren Führung durchsetzen. Die Grundlage dafür wurde in den Vereinbarungen von Teheran, Jalta und Potsdam gelegt. Danach standen sich zwei Weltsysteme relativ starr gegenüber. Erst ab den 1960er Jahren kam es zu einer stärkeren Wechselbeziehung unter den Bedingungen einer friedlichen Koexistenz und schließlich der Ordnung des Vertrags von Helsinki 1975.

Nach 1989 war es zunächst die internationale Sicherheitsordnung des Westens, die die Richtung der Entwicklung bestimmte. Alle Vorstellungen über eine Konvergenz der Systeme lösten sich unter dem Einfluss einer wirtschaftspolitischen Transformation gemäß des neoliberalen „Washington Konsensus“, der Ostausdehnung der NATO und des Niedergangs der sowjetischen Reformbestrebungen unter Gorbatschow auf. Die Unsicherheit in der Krise des Ancien Régime, des sowjetischen und jugoslawischen Sozialismus, ließ die multiethnischen Föderationen (Sowjetunion, Jugoslawien, Tschechoslowakei) zerbrechen. Schutz wurde wieder unter dem Dach von Nationalstaaten und ethnisch definierter Nationen gesucht, was zu Konflikten mit neuen Minderheiten führte. Die westlichen Demokratien wirkten in der Situation der Unsicherheit bestenfalls unentschlossen gegenüber separatistischen Bestrebungen. Das war zu wenig, um der Alternative einer demokratischen Erneuerung in jenen föderalen Staaten eine Chance auf Verwirklichung zu schaffen. Für die jugoslawischen Kriege tragen insofern auch einige Staaten des Westens wie Deutschland und Österreich einen Teil der politischen Verantwortung. Für das Scheitern der Erneuerung der staatlichen Strukturen der Sowjetunion ist die Lage nicht anders.

Das größte Problem der postsozialistischen internationalen Ordnung ist der in den letzten zehn Jahren aufgebrochene Konflikt zwischen Russland und den meisten anderen europäischen Staaten. Dafür trägt nicht nur Russland und schon gar nicht allein dessen Präsident die Verantwortung. Was besonders fehlte, war die gegenseitige Achtung der Sicherheitsinteressen aller Staaten, auch Russlands, eine neue Friedensordnung. Die Ideen der Charta von Paris vom November 1990 blieben nur Papier.

Damit ist erneut die Frage danach offen, ob eher demokratische oder aber illiberale Herrschaftsmodelle die weitere Entwicklung v. a. der Nachfolgestaaten der ehemaligen europäischen Monarchien im östlichen Teil des Kontinents bestimmen werden. Manches spricht dafür, dass der autoritäre chinesische Kapitalismus als Erfolgsmodell den größeren Einfluss ausüben wird. Trotzdem ist jener „illiberale Staat“ nicht ohne Alternativen. Eine gestärkte demokratische EU könnte dagegen halten, zumindest dann, wenn sie mehr wird als nur ein Binnenmarkt, mehr als eine Arena für effizientes Wirtschaften globaler Unternehmen.


Fußnoten:


  1. Siehe genauer mein Buch: Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 – Drei Versuche im Westen anzukommen. Frankfurt (Main)/New York 2002. ↩︎

  2. Siehe dazu sein Buch „Decades of crisis. Central and Eastern Europe before World War II“. Berkeley/Los Angeles 1998. ↩︎

  3. Siehe dazu Erhard Busek, Emil Brix: Projekt Mitteleuropa. Wien 1986. ↩︎

  4. Zur deutschen Vereinigung gibt es inzwischen viele wissenschaftliche Analysen. Auch ich habe mit dem Buch „Das 41. Jahr. Eine andere Geschichte der DDR“ (Wien 2008) einen Beitrag zur Debatte geleistet. ↩︎