Es lohnt sich, anständig zu sein
Wer Władysław Bartoszewski auch nur einmal persönlich gehört, gesehen erlebt, gelesen hat, dem konnte ganz schnell und unvermittelt klar werden, was es heißt, die Erfahrung des Bösen nicht in Bitterkeit und Hass enden zu lassen, sondern sie umzuwandeln in die Kraft zum Guten.
Von ihm ging eine unbändige Kraft und Energie aus. Man konnte es spüren, wenn man in seiner Nähe war. Ich habe mich oft gefragt: Wann ist er müde? – Keine überflüssige Frage angesichts erschöpfender Erfahrungen in seinem – dennoch – sehr langen Leben.
Ich sehe ihn vor mir: Die große hagere Gestalt, höre die hohe, meist heisere Stimme, die mich wie ein fortwährender Schrei des Entsetzens anmutete, wie eine hörbare Erinnerung an die schon in der Jugendzeit durch Deutsche erlittene Gewalt. Die durchdringenden Augen hinter den dicken Brillengläsern. Was hatten sie gesehen! Auschwitz, Warschauer Ghetto, sinnloses, tausendfaches Sterben während der Jahre des Zweiten Weltkrieges. Und danach die Kerker der Kommunisten. Er erlitt Unrecht, erfuhr Hass und setzte dagegen den leidenschaftlichen Kampf für Gerechtigkeit und – ja, Liebe.
Ich habe ihn oft erlebt, wenn er mir zu Interviews vor der Kamera gegenüber saß, wenn er mit jungen Deutschen stundenlang im Fernsehstudio über die Vorzüge der Demokratie diskutierte. Heftig konnte er werden, wenn er ideologischer Ignoranz begegnete. Dann konnte sich die heisere Stimme überschlagen. Er war einer, an dem sich die Geister schieden, der keine faulen Kompromisse zuließ.
Er konnte scharf werden. Seine Schärfe und Leidenschaftlichkeit waren auch ein Ergebnis der stummen Stunden auf dem Appellplatz in Auschwitz. „Diese Erfahrung lässt keine Kompromisse in den entscheidenden Fragen mehr zu“, sagte er mir einmal spätabends nach dem dritten Glas Whiskey.
Unvergesslich sind mir die Stunden in der Wiener Wohnung von Stanisław Jerzy Lem, seinem Freund, zur Aufzeichnung der ZDF-Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“. Oder wenn ich mit ihm sprach als Autor und Interviewpartner dieser Zeitschrift. In vielen dieser Begegnungen hörte ich immer wieder den Satz: „Es lohnt sich, anständig zu sein.“ Ihm konnte man das abnehmen – ohne Wenn und Aber.