1922: Der Vertrag von Rapallo – Realität und Mythos

aus OWEP 4/2017  •  von Hans Hecker

Prof. em. Dr. Hans Hecker: 1982 - 2007 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Deutsch-sowjetische Verhandlungen haben bei westlichen Beobachtern immer wieder skeptische Mutmaßungen hervorgerufen: Über geheime Absprachen wurde gemunkelt, an „Rapallo“ erinnert. Ein scheinbar längst begrabener „Mythos“ geisterte plötzlich durch Europa. In Wirklichkeit waren die Dinge zwar kompliziert, aber auch einfach: Vier Jahre nach dem Ersten Weltkrieg schloss das Deutsche Reich mit Sowjetrussland in dem kleinen Ort Rapallo bei Genua, in dem eine internationale Konferenz über Finanz- und Wirtschaftsfragen tagte, am 16. April 1922 einen Vertrag – in vielen Gesprächen vorbereitet, aber im handstreichartigen Verfahren überraschend.

Dieser Rapallo-Vertrag enthielt lediglich die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen, den Verzicht auf sämtliche gegenseitigen finanziellen und wirtschaftlichen Ansprüche, die Regelung aller rechtlichen Fragen sowie die Entwicklung enger Wirtschaftsbeziehungen.

Die beiden „Parias der Weltpolitik“ hatten sich zusammengefunden, um ihre politische und wirtschaftliche Isolierung durch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs zu durchbrechen. Dieses gemeinsame Ziel überlagerte die politisch-ideologischen Gegensätze zwischen der bürgerlich-demokratischen Reichsregierung und dem bolschewistischen Revolutionsregime. Eine militärische Zusammenarbeit wurde in Rapallo nicht verabredet, sie hatte schon früher unter höchster Geheimhaltung begonnen. Der Handelsaustausch florierte durchaus, die „Russenaufträge“ für die deutsche Industrie erreichten jedoch nicht die Dimensionen, wie die DDR-Historiographie sie später behauptete. „Rapallo“ signalisierte den Beginn der „Zweigleisigkeit“ der sowjetischen Außenpolitik: Da das Ausbleiben der Weltrevolution einen „modus vivendi“ des revolutionären Russland mit den kapitalistischen Staaten erzwang, verstärkte die Lenin-Führung zum einen die Steuerung der westlichen kommunistischen Parteien von der Moskauer Zentrale aus, zum andern kehrte sie unter dem Außenminister Georgij Tschitscherin zur klassischen Diplomatie zurück.