25 Jahre Renovabis – Bleibender Auftrag zur Versöhnung

Ein Gespräch mit Dr. Gerhard Albert, Geschäftsführer von Renovabis

Dr. Gerhard Albert, Geschäftsführer von Renovabis, war bereits vor der Gründung des Hilfswerks im Jahre 1993 als Mitarbeiter des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz in der kirchlichen Arbeit für Osteuropa engagiert. Er tritt im Sommer 2018 in den Ruhestand, was die Gelegenheit zu einer Bilanz bietet. – Das Gespräch mit ihm führten Christof Dahm und Burkhard Haneke.

Die Entstehung von Renovabis ist untrennbar mit der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verbunden. Wie würden Sie die Lage der Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa zur Zeit der politisch-gesellschaftlichen Umbrüche 1989/90 umschreiben?

Dr. Gerhard Albert (Foto: privat)

Oberflächlich betrachtet herrschte zunächst Normalität. Deshalb konnten die späteren plötzlichen Veränderungen ja auch als Revolution erscheinen. Man hatte sich in der Mühsal des Alltags, den Reisebeschränkungen und Versorgungskrisen, den bürokratischen Zwängen und der Bespitzelung irgendwie eingerichtet. Auch die Enttäuschung über die ausgebliebene Erfüllung der Verheißungen des real existierenden Sozialismus hatte man längst hinter sich. Und doch muss es für viele Menschen eine ganz unbestimmte, aber doch zum Zerreißen gespannte Erwartung gegeben haben, dass sich etwas ändern würde.

Als einmal der Bann gebrochen war, wurde die Sehnsucht nach Freiheit übermächtig. Papst Johannes Paul II., Gestalter und Deuter der Umbrüche zugleich, hat dies noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse in Worte gefasst: „Der unauslöschliche Durst nach Freiheit ... hat die Entwicklungen beschleunigt, hat die Mauern einstürzen und die Tore sich öffnen lassen ... Wie man sicherlich wahrgenommen hat, war der Ausgangs- oder der Treffpunkt oft eine Kirche. Nach und nach entzündeten sich Kerzen und bildeten eine wahre Straße des Lichts, wie wenn sie denen, die über Jahre hinweg sich angemaßt hatten, den Horizont des Menschen auf diese Erde zu begrenzen, sagen wollten, dass der Mensch nicht auf unbegrenzte Zeit in Fesseln gehalten werden kann ... Warschau, Moskau, Budapest, Berlin, Prag, Sofia, Bukarest – um nur die Hauptstädte zu nennen – sind praktisch zu Stationen einer langen Pilgerschaft hin zur Freiheit geworden“ (Neujahrsansprache an die Mitglieder des Diplomatischen Corps, 13. Januar 1990).

Es war nicht nur das Ende von Regimen, die vielfach bereits abgewirtschaftet hatten. Vielmehr ging erst 1989 für die Menschen in Mittel- und Osteuropa der Zweite Weltkrieg wirklich zu Ende – in jedem Fall der längste und schonungsloseste Abschnitt des 20. Jahrhunderts, der 1914 mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel sprichtvon „Ostmittel- und Osteuropa (als) Kernzone der Weltkriegs- und Revolutionsepoche. Hier tobte in präzedenzloser Form die Gewalt.“Die ganze Region ist in neueren historischen Veröffentlichungen als „Bloodlands“ oder „Black Earth“ (Timothy Snyder) bezeichnet worden.

Das sind bis heute massiv trennende Erfahrungen zwischen Ost und West. Im Westen hatte unter den Bedingungen freier und offener Gesellschaften, wenn auch mit mancherlei Verzögerungen und immer unvollkommen, eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der belasteten Vergangenheit erfolgen können. In den totalitären Systemen war dies in der Regel nicht möglich gewesen. Die Wunden und Bürden von Gewalt und Repression sind aber nicht verschwunden, sondern bestimmen immer noch die Erinnerung, im Generationenabstand oft selektiv und verzerrt. Vieles von der Fremdheit, mit der sich heute Ost und West in Europa wieder begegnen, wurzelt in diesem unaufgebrochenen Boden.

Welche Rolle haben die Kirchen in den Transformationsprozessen seither gespielt? Welche Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft in Mittel- und Osteuropa in den letzten 25 Jahren sind Ihrer Ansicht nach besonders positiv zu sehen und wo gab es, vorsichtig ausgedrückt, Fehlentwicklungen?

Die Ausgangsposition war für die Kirchen im Vergleich der einzelnen Länder und der je eigenen Prägung sehr unterschiedlich. Auch muss man zwischen einzelnen Personen und den Kirchen als Gemeinschaften und Strukturen unterscheiden. Dort, wo christlicher Glaube und Nähe zum kirchlichen Leben über die Zeit der Verfolgung hin stark geblieben waren, hatte die Kirche während der kommunistischen Herrschaft Freiräume für all die bieten können, die sich nicht vereinnahmen lassen wollten. Tadeusz Mazowiecki sagte bei unserem Renovabis-Kongress 1999, der Papstbesuch in Polen 1979 sei der Anfang des Weges zur Selbstbestimmung gewesen: „Damals haben wir gesehen und erkannt, dass die Gesellschaft sich selbst organisieren kann, dass sie erstarkt, indem sie sich selbst organisiert.“ In der Tschechoslowakei hingegen, wo die Kirche brutal an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden war, war es gerade diese Machtlosigkeit, die auf traditionell kirchenferne Teile der Opposition glaubwürdig wirken konnte.

Während der Ereignisse von 1989/90 war es nicht selten der moralischen Autorität von Kirchenleuten zu verdanken, dass der Umbruch gewaltlos blieb und man von der „sanften“ oder der „samtenen“ Revolution sprechen konnte.

Jedenfalls gingen die Kirchen an den meisten Orten gestärkt daraus hervor. Wie sehr sie sich dieses Ansehen in der Folge bewahren oder in veränderter Form in die Neugestaltung der Gesellschaft einbringen konnten, ist eine andere und kontrovers diskutierte Frage. Die Entfaltung des Dienstes an den Menschen in Caritas und Bildung, der zuvor verwehrt war, war in jedem Fall ein Beitrag zur Entwicklung einer freiheitlichen und pluralen Gesellschaft. Doch lag das Hauptaugenmerk der kirchlichen Verantwortlichen zunächst auf dem Aufbau einer Wiederherstellung funktionierender Strukturen der Seelsorge und der Glaubensweitergabe. Vielleicht musste es angesichts der Folgen eines jahrzehntelang von oben verordneten Atheismus auch dort liegen. Dazu war es aber in vielen Ländern unausweichlich, die materiellen Voraussetzungen dafür zu schaffen: Die pastorale Infrastruktur wie Kirchen, Pfarr- und Gemeindehäuser, Seminare und Administrationszentren war nicht selten buchstäblich zerstört oder musste aus verwahrlost zurückgegebenen Gebäuden wiederhergestellt werden. Diese Sorgen haben viele Bischöfe und Priester lange Zeit in Beschlag genommen. Ordensgemeinschaften, die sich unbelasteter von ihrem Charisma leiten und von ihren internationalen Verbindungen tragen ließen, taten sich manchmal etwas leichter. Es bleibt die Frage, und sie wurde von manchen nicht selten mit vorwurfsvoller Schärfe formuliert, ob der Aufbruch der „Wende“ nicht durch die Sorge um die Wiederrichtung von Strukturen verdrängt wurde. Dafür gibt es ebenso Anzeichen wie für das Gegenteil: in geistlichen Gemeinschaften, an den vielen Orten, an denen sich Christen um die notleidenden Menschen kümmern, in der wachsenden Bedeutung, die neuerdings der Erwachsenenbildung beigemessen wird. Dahinter stehen Erfahrungen mit Pluralisierung und Säkularisierung, denen sich anfänglich nicht jeder öffnen wollte. Aus deutscher Sicht vermisst man zuweilen den Aufbau eines gesellschaftlich orientierten Laienapostolats. Überhaupt gibt es zwischen Katholiken in West und Ost in der letzten Zeit wachsende Unterschiede über die Position, die Christen in der säkularen Gesellschaft einzunehmen hätten, ob im dialogischen oder im affirmativen Verständnis eines Eintretens für christliche Werte.

Können Sie in wenigen Sätzen darlegen, welcher Auftrag Renovabis bei seiner Gründung von den Bischöfen und katholischen Laien mitgegeben wurde – und was ist für Sie als eine persönliche Bilanz besonders wichtig?

Renovabis – der Name war nicht gleich von Anfang an gefunden, sondern bot sich an, je mehr über die Tiefe und Spannweite des Auftrags reflektiert wurde. Dessen Dimensionen finden sich im Statut von Renovabis wieder: Wiederherstellung der missachteten Würde der menschlichen Person als Fundament der Gesellschaft, Heilung der Wunden, Gerechtigkeit, die künftigen Frieden verbürgt, grenzüberschreitende Solidarität – welche Vermessenheit wäre es gewesen, diese Erwartungen allein auf menschliche Schultern zu laden und nicht von der neu schaffenden Kraft Gottes zu erhoffen.

Renovabis will unsere Nachbarn in Europa und uns selbst in dieser Hoffnung stark erhalten. Erneuerung kann nur in den Herzen der Menschen beginnen. Nur dort kann auch der versöhnende und stärkende Dienst der Kirche seinen Ausgang nehmen. Es war mir immer besonders wichtig, dass über dem Wirken von Renovabis der Satz steht, nach dem „der Mensch der erste und grundlegende Weg der Kirche ist“ (Johannes Paul II., Redemptor hominis, 14). Alle einzelnen Hilfsaktionen und Projekte in ihrer ganzen Vielfalt in Pastoral und Diakonie, in Verkündigung und Liturgie, im Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und für eine menschenwürdige Gesellschaft müssen diesem Satz standhalten können.

Der Osten und Südosten Europas ist immer noch heimgesucht von den Schrecken der Vergangenheit und gezeichnet von den Lasten der Gegenwart. Mit uns allen in einer rapiden Veränderungen unterworfenen Welt von heute empfindet er die Unsicherheiten der Zukunft. Persönlich will ich zutiefst dankbar sein, wenn dort, ermutigt durch den Dienst von Renovabis, in den Herzen der Menschen an immer mehr Orten dauerhaft Glaube, Hoffnung und Liebe erstarken, wachsen und leuchten.