Streiflichter aus der Geschichte Serbiens

aus OWEP 4/2008  •  von Holm Sundhaussen

Der Autor ist Professor für Südosteuropäische Geschichte an der Freien Universität Berlin.

Die meisten Serben gliedern ihre Vergangenheit in drei ungleiche Zeitabschnitte: 1. das „goldene Zeitalter“, 2. die Periode der Fremdherrschaft („türkisches Joch“) und 3. die „nationale Wiedergeburt“.1 Die dritte Periode begann mit den beiden serbischen Aufständen gegen die osmanische Herrschaft (1804-1813 und 1815) und leitete die moderne Staats- und Nationsbildung ein. Den Aufständen vorausgegangen waren dreieinhalb Jahrhunderte osmanischer Herrschaft, die den rund zweieinhalb Jahrhunderten serbischer Staatlichkeit im Mittelalter ein Ende bereitet hatten. In der romantisch gefärbten Vorstellung des 19. Jahrhunderts erschienen Staats- und Nationsbildung als „Wiedergeburt“ oder „Auferstehung“ dessen, was im Mittelalter vorhanden gewesen war, als Wiederaufnahme der „goldenen Zeit“ vor Beginn der osmanischen Herrschaft, als „Erwachen“ der Nation aus ihrem „Tiefschlaf“. Die in vielen Teilen Mittel- und Osteuropas verbreiteten Metaphern von der „Wiedergeburt“, von der „Wiedererhebung“ (Risorgimento) bzw. vom „Erwachen“ der Nation suggerieren die Kontinuität einer weit in die Vergangenheit zurückreichenden Nation, die durch widrige Umstände (im Fall der Serben: durch das „türkische Joch“) unterdrückt war und im Lauf des 19. Jahrhunderts aus dem erzwungenen „Tiefschlaf“ zu neuem Leben erwachte.

Der mittelalterliche serbische Staat

Das „goldene Zeitalter“ der Serben wurde geprägt durch die Herrschaft der Nemanjiden-Dynastie, begründet vom Großgespan Stefan Nemanja (reg. 1166-1196).2 Dieser errang die Herrschaft über Raszien, ein Gebiet, das sich etwa mit dem heute – zwischen Serbien und Montenegro geteilten – Sandschak von Novi Pazar (Ras) deckt. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts unterwarf Nemanja die Zeta (Montenegro), Teile des Kosovo, einige nordalbanische Gebiete und mehrere Küstenstädte. Nach seinem Rückzug in ein Kloster übernahm sein Sohn Stefan (reg. 1196-1227) die Herrschaft und ließ sich 1217 von einem päpstlichen Legaten zum König krönen; daher sein Name „Stefan der Erstgekrönte“. Zusammen mit seinem Bruder Sava entschied sich Stefan jedoch für den Anschluss an die Ostkirche. 1219 wurde die serbische Kirche autokephal (d. h. selbstständig) mit Sava als erstem Erzbischof. Staatliche und kirchliche Macht lagen damit in den Händen einer Familie und gingen eine enge Symbiose ein. Gleich ihrem Vater Stefan Nemanja wurden die Brüder Stefan und Sava von der Serbischen Orthodoxen Kirche wie mehrere ihrer Nachfahren heilig gesprochen. Insgesamt befinden sich unter den Heiligen der serbischen Kirche zweiundzwanzig (!) weltliche Herrscher. Religiös und kulturell orientierte sich das Reich der Nemanjiden am byzantinisch-orthodoxen „Modell“ und grenzte sich – nach anfänglichem Schwanken – gegen den weströmisch-lateinischen Teil Europas ab. Symbolisch fand dies in der Übernahme des byzantinischen doppelköpfigen Adlers als serbisches Herrschaftswappen oder in den Fresken des um 1315 errichteten Klosters Gračanica bei Priština (Kosovo) seinen Ausdruck. Dort wird der serbische König Milutin mit allen Insignien der byzantinischen Kaisermacht dargestellt! Sein Nachfolger, Stefan Dušan (reg. 1331-1355), der sich zu Ostern 1346 in Skopje ohne byzantinische Einwilligung zum Kaiser krönen ließ und den Titel „Stephanus in Christus Gott frommer Kaiser und Autokrator von Serbien und Romanien (Byzanz)“ annahm, verstand sich als Selbstherrscher, als „Zar aller Serben, Griechen, Albaner und der Küstenländer“. Er erhob den serbischen Erzbischof in den Rang eines Patriarchen (worauf ihn der Patriarch von Konstantinopel mit dem Bann belegte) und strebte die Nachfolge des Oströmischen Reiches an. Während seiner 24jährigen Regierung erlangte das Nemanjiden-Reich seine territorial größte Ausdehnung und umfasste nicht nur das heutige Serbien (ohne die Wojwodina), Montenegro und die südliche Adriaküste, sondern auch das heutige Albanien, Makedonien und Nordgriechenland.

Gleich anderen „Staaten“ der damaligen Zeit war das Reich der Nemanjiden ein dynastisches Gebilde mit häufig wechselnden Grenzen, ohne feste Hauptstadt und mit einer ethnisch heterogenen (serbischen, walachischen, griechischen und albanischen) Bevölkerung. Die „Legitimität“ ihrer Herrschaft leitete die Nemanjiden-Dynastie aus der göttlichen Designation ab. Die „von Gott gegebene Herrschaft“ und der „von Gott verliehene Thron“ gehören zu den stehenden Formeln der altserbischen Herrscherbiographien. Der Vergrößerung ihres Reiches, „meines Israel“ (wie es bei Stefan Nemanja heißt), dienten dynastische Erbverträge und das „Recht des Eroberers“. Doch schon unmittelbar nach Dušans Tod (1355) löste sich das kurzlebige, überdehnte serbische Kaiserreich unter Zar Uroš („dem Kind“) in eine Vielzahl rivalisierender Teilfürstentümer auf. Mit Uroš‘ Tod (1371) starb die Nemanjiden-Dynastie in der männlichen Hauptlinie aus. Einer der mächtigen Erben von Dušans Reich war Fürst Lazar Hrebeljanović, der an der Spitze einer christlichen Allianz gegen das osmanische Heer unter Sultan Murad I. am 28. Juni 1389 auf dem Amselfeld (Kosovo polje) den Tod fand. Kurz darauf wurde er von der Kirche heilig gesprochen. Mit seiner Kanonisierung nahm die legendäre Ausgestaltung der Schlacht von 1389 ihren Anfang. Aus den ersten vierzig Jahren nach Lazars Heiligsprechung sind dreizehn hagiographische Texte über ihn und die Kosovo-Schlacht überliefert. Darin wird der Fürst (oft fälschlich als „Zar“ bezeichnet) als Märtyrer, Nachfolger Christi – in einem der Texte auch als „zweiter Christus“ – verherrlicht und seine militärische Niederlage gegen die „Ungläubigen“ als spiritueller Sieg gedeutet. Im kollektiven Gedächtnis der Serben fällt der von Legenden und Mythen umwobenen Schlacht auf dem Amselfeld die Bedeutung einer Zeitenwende zu („Untergang Serbiens“). Aber noch war es nicht so weit. Lazars Nachfolger mussten zunächst nur die Hoheit des Sultans anerkennen; Serbien wurde ein Vasallenfürstentum. Erst die Niederlage des ungarischen Reichsverwesers János Hunyadi gegen Sultan Murad II. in der zweiten Schlacht auf dem Amselfeld am 18./19. Oktober 1448 besiegelte die osmanische Hegemonie in Südosteuropa für Jahrhunderte. 1455 wurden Kosovo, das „serbische Jerusalem“ mit dem Sitz des Patriarchen in Peć und zahlreichen Klöstern, 1459 der nordserbische Reststaat durch Sultan Mehmed den Eroberer in das Osmanische Reich inkorporiert. Das war das definitive Ende des mittelalterlichen serbischen Reiches bzw. dessen, was davon nach dem Tod Stefan Dušans und der Aufsplitterung seines Imperiums übrig geblieben war. Obwohl die zweite Amselfeldschlacht politisch folgenreicher war als die erste, ist sie aus dem kollektiven Gedächtnis fast völlig verschwunden.

Die Zeit der Osmanenherrschaft

Die dreieinhalb Jahrhunderte osmanischer Herrschaft in Serbien werden in der Regel als „türkisches Joch“ oder „asiatisch-islamische Despotie“ erinnert. Mit der historischen Realität haben diese Etikettierungen wenig zu tun. Gewiss: Die serbischen Fürsten und der serbische Adel verschwanden – viele waren in den Kriegen gefallen, einige traten zum Islam über, andere flüchteten. Und mit dem Adel verschwanden auch die vormaligen Rivalitäten bzw. die „feudale Anarchie“, unter der die Bevölkerung schwer gelitten hatte. Die soziale Lage der Mehrheitsbevölkerung, der Bauern und Hirten, verbesserte sich spürbar. Und von einem muslimisch-christlichen Glaubenskrieg, einem „clash of civilizations“, kann innerhalb des Osmanischen Reiches bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine Rede sein, auch wenn die „Türkenkriege“ der christlichen Mächte in Teilen der Balkanbevölkerung eine mehr oder minder starke Resonanz fanden. Eine flächendeckende Zwangsislamisierung hat es in den europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches nicht gegeben. Hinsichtlich der Duldung (nicht Gleichberechtigung!) von Angehörigen monotheistischer Buchreligionen war das Imperium der Osmanen zu dieser Zeit vorbildhaft. Ihr Reich war ein Überschichtungsstaat, der nicht auf Integration, sondern auf Segregation der verschiedenen Glaubensgemeinschaften setzte und den religiösen Oberhäuptern weit gefasste Autonomierechte zubilligte. An der Spitze der orthodoxen Bevölkerung des Reiches stand der Ökumenische Patriarch in Konstantinopel; neben ihm gab es mehr als fast zweihundert Jahre (1557-1766) einen gleichberechtigten serbischen Patriarchen mit Sitz in Peć (Kosovo). Aufgrund ihrer Zuständigkeiten und Privilegien wuchs die höhere christliche (ebenso wie die jüdische) Geistlichkeit allmählich auch in die Rolle einer weltlichen Führungsschicht hinein.

Auf lokaler Ebene konnten sich die Dorfgemeinschaften und Stämme, sofern sie ihre Abgaben zahlten und loyal waren, selbst verwalten. Neben der Glaubensgemeinschaft wurde das Dorf als soziale Organisationsform zum wichtigsten Fixpunkt kollektiver Identitätsbildung oberhalb des Verwandtschaftsnetzes. Dagegen scheint die ethnische Zugehörigkeit der Bevölkerung im Sinne einer biologischen Abstammungsgemeinschaft nur eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben.

Die Situation der christlichen (aber auch der muslimischen) Bevölkerung änderte sich grundlegend, als die „Pax Ottomanica“ in der langen Stagnations- und Verfallszeit des Osmanischen Reiches seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunächst vorübergehend, dann immer öfter aus den Fugen geriet. Der Steuerdruck nahm zu, und die osmanische Regierung sah sich oft nicht imstande, die Gesetzesbrüche und Willkürhandlungen ihrer Provinznotabeln, Soldaten und Milizen zu ahnden. Damit brach auch die vormalige Rechtssicherheit in sich zusammen. Die Folge war eine zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung, die jedoch in der Regel nicht das Ausmaß eines großen flächendeckenden Aufstands annahm. Hingegen nahmen die Migrationen zu, sowohl innerhalb der europäischen Provinzen (von den Ebenen in die schwer kontrollierbaren Gebirgsregionen und Städte, aber auch in umgekehrter Richtung) als auch über die Grenzen des Osmanischen Reiches hinaus (in die „Militärgrenze“ der Habsburger Monarchie, in das Königreich Ungarn oder in die venezianisch beherrschten Territorien, später auch nach Russland).

Zum nationalen Mythos gestaltete sich die „Große Wanderung“ der Serben von 1690. Anlass war die Eroberung Serbiens durch habsburgische Truppen, denen sich mehrere Tausend serbische und albanische Freischärler in Erwartung eines kaiserlichen Sieges angeschlossen hatten. Nach der erfolgreichen osmanischen Gegenoffensive flohen Teile der Bevölkerung unter Führung des serbischen Patriarchen Arsenije III. Crnojević aus Furcht vor Vergeltung in das Habsburgerreich und nahmen auch die Reliquien des Fürsten Lazar mit. Kaiser Leopold I. garantierte den Flüchtlingen Glaubensfreiheit und eine eigene Kirchenorganisation. In einem 1706 verfassten Schreiben spricht der serbische Patriarch von „40.000 Seelen“, die das Kosovo unter seiner Führung verlassen hätten. In der Volksüberlieferung ist dagegen von 200.000 bis 300.000 Menschen die Rede. Zweifellos war die „Große Wanderung“ von 1690 ein spektakulärer Fall. Aber Wanderungen hat es sowohl vor wie während und nach der osmanischen Herrschaft gegeben. Sie waren Teil des Alltags. Daher ist die Geschichte des Balkanraums zu wesentlichen Teilen eine Migrationsgeschichte. Dass die Albaner erst nach dem Exodus der Serben deren Land im Kosovo „okkupierten“, ist ein populärer Mythos.

Zu den Wanderungen im Raum kamen die Wanderungen zwischen den Kulturen, vor allem in Gestalt religiöser Synkretismen, des Glaubenswechsels (einschließlich des Kryptochristentums) und/oder des Sprachwechsels. Die Nachfahren dieser kulturellen Migranten wurden im Zuge der Nationsbildungsprozesse zu „Verrätern“ gestempelt, sofern sie sich nicht unter Hinweis auf ihre (unbeweisbare) Abstammung bzw. unter Verweis auf den vermeintlichen Glauben oder die vermeintliche Sprache ihrer Ahnen vereinnahmen ließen wie z. B. die von Serben und Kroaten umkämpften bosnischen Muslime.

Zu den interessantesten und umstrittensten Erscheinungen in den europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches während dessen Zerfallsphase gehören jene Gesetzesbrecher, denen die südslawische und griechische Volksüberlieferung unter den Bezeichnungen „Haiduken“, „Uskoken“ und „Klephten“ in zahllosen Liedern ein poetisch eindrucksvolles Denkmal gesetzt hat. In der Balkanhistoriographie werden sie vorzugsweise als Vertreter einer antifeudalen Bewegung sowie als Vorkämpfer der nationalen Befreiung verehrt und gefeiert. Aus osmanischer Sicht handelte es sich um Gesetzesbrecher und „Banditen“. Gewiss gab es unter den Haiduken Sozialrebellen und Rächer der Armen, balkanische Robin Hoods, aber die Mehrheit dürften einfache Räuber gewesen sein. Sie waren weder Vorkämpfer des Christentums noch der nationalen Befreiung, und ihre Opfer waren nicht nur Muslime, sondern auch Christen, unabhängig von der jeweiligen ethnischen Zuordnung.

Eine vornationale Orientierung wies auch die überwiegende Mehrheit derjenigen auf, die sich im Zeitalter der napoleonischen Kriege an den beiden serbischen Aufständen gegen die Osmanen beteiligten. Ihre Ziele waren rückwärts, nicht vorwärts gewandt. Sie kämpften gegen die Willkürherrschaft der osmanischen Provinznotabeln und für die Wiederherstellung der als sakrosankt betrachteten Selbstverwaltung der Dörfer. Die Ideale der Französischen Revolution, insbesondere die Konzepte von Nation und Nationalstaat, waren ihnen fremd und stießen zunächst nur bei den habsburgischen Serben und einer schmalen Führungsschicht südlich der Donau auf Nachhall.

Staatlichkeit und Entstehung der Nation

Ab 1815 bzw. offiziell ab 1830 war das serbische Gebiet südlich der Donau ein erbliches Fürstentum unter osmanischer Oberhoheit, das dann auf dem Berliner Kongress 1878 seine Souveränität erhielt. Der Staatsgründung folgte der Prozess der Nationsbildung, der zunächst getragen wurde von einer kleinen Zahl Gelehrter, die sich um die Sprache, die Volksüberlieferung und die Geschichte bemühten. Die Frage, wer ein Serbe ist bzw. an welchen Merkmalen man ihn erkennen könne, blieb längere Zeit umstritten. Schließlich kristallisierte sich eine Kombination von Religionszugehörigkeit (Orthodoxie) und Sprache (Štokavisch) heraus, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch das biologistische/rassische Konstrukt der Abstammungsgemeinschaft ergänzt wurde. Es ist auffallend, dass die beiden bedeutendsten Vorkämpfer des „Volkskonzepts“, der ehemalige Mönch Dositej Obradović und der Begründer der serbisch(kroatischen) Schriftsprache Vuk Karadžić, die Zugehörigkeit zur Orthodoxie als Definitionskriterium für die Serben nachdrücklich abgelehnt und ganz auf die Volkssprache gesetzt hatten. Da aber die katholischen Südslawen, die in etwa dieselbe Sprache sprachen wie die Serben, keine Serben sein wollten und sich Serben und Kroaten nicht auf einen gemeinsamen Namen („Illyrer“, „Jugoslawen“ o. ä.) einigen konnten, fiel der Religionszugehörigkeit eine immer größere Bedeutung als „nationaler Ausweis“ zu. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstand eine serbische Nationalkultur durch Kodifizierung der Sprache, Verschriftlichung der mündlichen Überlieferung, Ausgestaltung der (weltlichen) Heldenlieder und (geistlichen) Legenden über die Amselfeldschlacht von 1389 zum Nationalmythos, die Entwicklung einer neuserbischen Hochkultur in Prosa und Lyrik, in Theaterstücken, Malerei usw. Ein Meilenstein in diesem Prozess war das 1847 veröffentlichte Versepos „Der Bergkranz“ des montenegrinischen Fürstbischofs Petar Petrović Njegoš, des „serbischen Goethe“, über die Vorbereitung auf die historisch nicht belegte montenegrinische „Bartholomäusnacht“ bzw. die Vernichtung der zum Islam konvertierten Montenegriner. Die Schlacht auf dem Amselfeld ist als Ausgangspunkt „allen Unglücks“ sowie als moralisches und religiöses Referenzsystem im gesamten Versepos präsent. Fortan wuchsen Serben (und Montenegriner) mit den Versen von Njegoš auf und sollen sie schließlich besser gekannt haben als das Vaterunser. Ein Meilenstein in der Entwicklung eines staatspolitischen Konzepts war die 1844 vom damaligen serbischen Innenminister Ilija Garašanin verfasste Denkschrift, in der sich erstmals die Konturen eines künftigen großserbischen Staats abzeichneten (Wiederherstellung von Stefan Dušans Reich, zuzüglich vieler Gebiete, die niemals zum mittelalterlichen serbischen Staat gehört hatten).

Das Fürstentum, seit 1882 Königreich Serbien erlebte im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der an ausländischen Universitäten geschulten neuserbischen Intelligenz einen tiefgreifenden Modernisierungsprozess, der auf die entschiedene Ablehnung des Großteils der bäuerlichen (und analphabetischen) Bevölkerung stieß. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts spaltete sich die Elite in einen volkstümlich/populistisch/antiwestlichen und einen fortschrittsorientierten, prowestlichen Flügel – eine Spaltung, die mit Modifizierungen und wechselnden Kräfteverhältnissen bis zur Gegenwart andauert.

Serbien in Jugoslawien

Einen tiefen Einschnitt in der neuserbischen Geschichte bilden die Jahre von 1912 bis 1918: die beiden Balkankriege, in denen Serbien Kosovo und das heutige Makedonien eroberte, wodurch die Staatsbevölkerung ihre vormalige weitgehende Homogenität verlor, und der Erste Weltkrieg, der nach einer Besetzung Serbiens durch die Mittelmächte schließlich mit einem serbischen Sieg und der Gründung des ersten jugoslawischen Staats im Dezember 1918 endete. Mit Entstehung des „Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen“ (ab 1929: Königreich Jugoslawien) lebten nun erstmals alle Serben (oder solche, die als „Serben“ verstanden wurden) unter einem gemeinsamen staatlichen Dach, allerdings in einem Staat, der ungeachtet der südslawischen Vereinigungsideologie de facto ein Vielvölkerstaat war. Wie die Eroberung Kosovos und Makedoniens war auch die Gründung des ersten Jugoslawien letzten Endes ein serbischer Pyrrhussieg, denn die „nationale Frage“ paralysierte fortan Politik und Wirtschaft und untergrub die Legitimität des zentralistisch konzipierten, serbisch dominierten Staates.

Der Überfall Hitlers im April 1941 und die Zerschlagung Jugoslawiens lösten eine beispiellose Serbenverfolgung aus. Die im kroatisch-faschistischen Ustascha-Staat (Kroatien und Bosnien-Herzegowina) beheimateten Serben wurden Opfer eines Völkermords. Im deutschbesetzten Serbien kam es nach den ersten Widerstandsaktivitäten zu drastischen Vergeltungsmaßnahmen gegen die serbische (und jüdische) Bevölkerung. Der aufflammende Widerstand spaltete sich schnell in einen serbisch-nationalistischen (Tschetniks) und einen kommunistischen Flügel unter Titos Führung. Beide Bewegungen bekämpften nicht nur die Besatzungsmächte (die Kommunisten sehr viel intensiver als die Tschetniks), sondern führten auch einen erbitterten Krieg gegeneinander, aus dem die Tito-Bewegung siegreich hervorging.

Im Unterschied zum ersten verstand sich das zweite (sozialistische) Jugoslawien als Bundesstaat mit mehreren gleichberechtigten Nationen. Serbien war eine der sechs Teilrepubliken. Es behielt die 1918 an Jugoslawien gefallene Provinz Wojwodina und die Provinz Kosovo, die beide einen Autonomie-Status erhielten, verlor jedoch Makedonien, das zu einer eigenen Teilrepublik (mit einer eigenständigen Nation) aufgewertet wurde. Die Stärkung der beiden autonomen Provinzen Serbiens nach den Verfassungsänderungen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre („Dreiteilung Serbiens“) und das gewachsene Selbstbewusstsein der Kosovo-Albaner schürten die Unzufriedenheit bei Teilen der serbischen Eliten und der Kosovo-Serben. In der schweren politischen und wirtschaftlichen Krise nach Titos Tod 1980, als Schritt für Schritt alles wegbrach, worauf die Bürgerinnen und Bürger Jugoslawiens einst stolz gewesen waren, brachten Angehörige der Serbischen Orthodoxen Kirche, serbische Schriftsteller und Wissenschaftler (Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften von 1986) die „serbische Frage“ auf die Agenda der öffentlichen Diskurse in Serbien. Mit Opfermythen, Verschwörungstheorien und Bedrohungsszenarien trieben sie die nationale Mobilisierung voran, die durch nationalistische Strömungen in anderen Teilen Jugoslawiens, insbesondere in Kroatien und Kosovo, zusätzliche Nahrung erhielt. Da die politischen Führungen in den Republiken unwillig bzw. unfähig waren, sich auf eine Reform von Staat und Gesellschaftssystem zu einigen, brach Jugoslawien zu Beginn der neunziger Jahre auseinander. Das anschließende „dritte Jugoslawien“ umfasste nur noch den Rest dessen, was vom zweiten übriggeblieben war: Serbien und Montenegro. Dieser (rest)jugoslawische Bundesstaat wurde 2003 durch den lockeren Staatenbund „Serbien und Montenegro“ abgelöst, der seinerseits mit dem knappen Votum der Montenegriner zugunsten ihrer Unabhängigkeit im Mai 2006 von der politischen Landkarte verschwand.

Vorangegangen waren die postjugoslawischen Kriege der neunziger Jahre, in denen Serben aus Kroatien, Bosnien und Kosovo mit Unterstützung des Milošević-Regimes in Belgrad und paramilitärischer Banden für die Errichtung eines großserbischen Staates kämpften. Dabei kam es zu massiven Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und dem Genozid an bosniakischen Zivilisten in der ostbosnischen Stadt Srebrenica. Zwar wurden von allen kriegführenden Parteien Verbrechen begangen, doch die Spirale der Gewalt wurde von serbischen Milizen in Gang gesetzt. Und da Gewalt Gewalt erzeugt, blieb niemand gänzlich verschont. Alle ehemals kriegführenden Parteien sind davon überzeugt, dass sie ausschließlich Verteidigungskriege geführt und ihre jeweiligen „Helden“ nur das getan haben, was angesichts der vermeintlichen Bedrohung jeder „anständige“ Mensch hätte tun müssen.3

Nach dem Sturz von Milošević im Oktober 2000 setzte in Serbien zunächst ein Demokratisierungs- und Transformationsprozess ein, der jedoch nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Zoran Djindjić im März 2003 unter seinem Nachfolger Vojislav Koštunica in einen fünfjährigen Stillstand mündete. Mit der Unabhängigkeitserklärung Kosovos im Februar 2008 ging auch das „serbische Jerusalem“ verloren. Nun, nach den Wahlen vom 11. Mai 2008, steht das verarmte Serbien vor der Herausforderung eines umfassenden Neuanfangs. Von einer Aufarbeitung der Vergangenheit wird man jedoch bestenfalls und frühestens in zwei bis drei Jahrzehnten sprechen können.


Fußnoten:


  1. Holm Sundhaussen ist Verfasser des aktuellen Standardwerks über Serbien: Geschichte Serbiens. 19.-21. Jahrhundert. Wien 2007. ↩︎

  2. „Gespanschaft“ ist die deutsche Bezeichnung für den slawischen Begriff „župa“, der ursprünglich einen Familienclan bezeichnete und sich später zur Bezeichnung für eine territoriale Einheit entwickelte. An der Sitze steht der Župan, deutsch „Gespan“ (Anm. d. Redaktion). ↩︎

  3. Vgl. auch Holm Sundhaussen: Der Zerfall Jugoslawiens und dessen Folgen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 32/2008, Schwerpunkt „EU – Balkan“. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“. 4. August 2008, S. 9-18. ↩︎