Auf der Liste des Lebens

aus OWEP 2/2022  •  von Violeta Kyoseva

Violeta Kyoseva (geb. 1950) ist bulgarische Germanistin, Deutschlehrerin, Gründerin und zweite Vorsitzende von „FAR – Verein für demokratische Bildung“ in Burgas.

Wer bin ich?

Wo lebe ich, wie gestalte ich mein Leben und welche Themen sind für mich wichtig? In welchem Bezugsfeld suche und finde ich den Sinn meines Lebens?

Violeta Kyoseva (Foto: privat)

Ich komme aus Bulgarien, aus der wunderschönen Stadt Burgas am Schwarzen Meer. In meiner Familie habe ich viel Liebe und Wärme bekommen und das hat mein ganzes Dasein gekennzeichnet. Meine Kindheit ist in einer Umgebung verlaufen, wo unterschiedliche Ethnien wie Armenier, Mazedonier, Griechen und Russen zusammenlebten. Diese ersten bunten, fröhlichen und unvergesslichen Erlebnisse sensibilisierten mich für eine multikulturelle, menschliche Gesellschaft. Die Einsichten, die ich damals glücklicherweise spontan entwickelt habe, verhelfen mir heute in unserer aktuellen Situation mit Flüchtlingen aus der Ukraine zu einer aufgeschlossenen Haltung.

Frühe Begegnungen

Der größte Teil meines Lebens verlief im Kommunismus. Oft scherze ich, dass ich ein vollendetes sozialistisches Produkt meiner Zeit bin. Mein Sinnbezugsfeld entfaltete sich früh in Richtung Bildung, Sprachen und Pädagogik. Ich hatte ein Talent für Fremdsprachen und wählte Deutsch dank des faszinierenden Vorbilds meiner Deutschlehrerin. Deutsch lernen war damals bei uns, zwanzig Jahre nach Kriegsende, nicht sehr üblich. Es erlaubte mir aber, mich mit Fragen wie Kriegsfolgen, Klischees und Menschenfeindlichkeit auseinanderzusetzen.

Mein Studium in Reisekunde bestimmte meine erste Beschäftigung mit deutschsprachigen Jugendlichen in einem Internationalen Jugendzentrum. Die Jugendlichen kamen damals vorwiegend aus dem sozialistischen Ausland, aber auch aus einigen westlichen Ländern. Das war meine erste wahre Begegnung mit der Realität zwischen Ost und West in der Zeit des Kalten Krieges sowie mit unterschiedlichen Kulturen, Weltanschauungen und Religionen. Ich hatte die Möglichkeit, mit Jugendlichen jenseits des „Eisernen Vorhangs“ zu sprechen, und begann erstmals, meine Einstellungen infrage zu stellen. Das war die Geburt von Wertekategorien wie Toleranz und Völkerverständigung in mir. Ich sah früh ein, dass ein Leben mit einer wertvollen Idee interessanter und reicher ist als ein Leben in einförmigen Bahnen, und verfolgte dieses zutiefst positive emotionale Gefühl weiter.

Bei meiner Arbeit als Reiseleiterin erfuhr ich, dass die neuere Geschichte eigentlich eine christliche Geschichte ist. Die Werke der großen Dichter, Schriftsteller, Maler oder Bildhauer wurden jahrhundertelang von der christlichen Kultur inspiriert. Dieses reiche christliche Menschengut begleitet uns unmittelbar in unserem Leben und gibt uns Kraft und Glauben durch die in ihm vermittelten Werte. Die zahlreichen Kirchen und Klöster in Bulgarien weckten bei mir auch das Interesse für unsere orthodoxe Kirche.

Die große Frage, welche Rolle Kirche und Religion in meinem Leben spielen, war eigentlich immer da. In unserem geschichtlichen Kontext in Bulgarien – mit fünf Jahrhunderten türkischer Herrschaft – spielten der christliche Glaube, die slawische Sprache und das kyrillische Schrifttum die entscheidende Rolle, um unsere Nation zu bewahren. Sie sind der einmalige Code unserer Identität. Die Bezeichnung „Christ“ war damals gleichbedeutend mit „Bulgare“.

Meine Begegnung mit Gott

Ich gehöre zu der Generation, für die Kirche und Religion verboten waren. Deshalb neige ich dazu, über den Glauben allein aus dem Grunde zu sprechen, dass ich keine Erfahrungen darin hatte, meine Religion in der Kirche auszuüben. Ähnliche geistliche Defizite tragen auch viele meiner Zeitgenossen mit sich herum.

Die erste Glaubensschule ist immer die Familie. Zu Hause hörten und lernten wir Gebete und erlebten gemeinsam die wichtigen Momente, bei denen Gott gefeiert wird. Seit dieser Zeit glaube ich, dass in jedem von uns eine leere Stelle steckt, die darauf wartet, von Gott erfüllt und von uns angenommen zu werden.

Diese Begegnungen mit Gott sind manchmal ein Funke, ein anderes Mal eine Stille oder Auszeit, die uns Aufklärung schenken. In unserem orthodoxen Glauben spielen die Ikonen der Heiligen eine wichtige Rolle. Die alten bulgarischen Ikonen zu Hause sind der Schlüssel zur Bewahrung unseres christlichen Glaubens während der jahrhundertelangen muslimischen Unterdrückung. Der Mensch strebt nach dem Licht Gottes gemeinsam mit anderen Gleichgläubigen. Die feierliche und magisch sakrale Atmosphäre der Kirche mit dem engelstimmigen orthodoxen Gesang gibt Raum und Zeit zum Göttlichen.

Einsatz als Lehrerin

Das Germanistik- und Geschichtsstudium an der Universität in Sofia war mein nächster Entwicklungsschritt. Ich war und bin heute noch von Deutsch fasziniert und unterrichtete es mehr als 23 Jahre mit viel Hingabe am deutschsprachigen Goethe-Gymnasium in Burgas. Ich wollte alles von mir Erlernte sowie die Liebe an der Fremdsprache weitergeben. Ich wollte meinen Schülern durch die Kraft einer lebendigen Bildung und positiver Beispiele Sinn und Orientierung für ihren weiteren Weg geben. Das war lange Zeit meine verantwortungsvolle Aufgabe, die ich mit viel Liebe und Einsatz erfüllte.

Leider haben viele unserer Schülerinnen und Schüler den Weg nach Deutschland zum Studium genommen. Heute sind mehr als zwei Millionen Bulgaren, darunter sehr viele Jugendliche, ins westeuropäische Ausland und in die USA ausgewandert. Dadurch erlebt Bulgarien eine demographische Krise. Ein erwachsener deutscher Teilnehmer an einer bulgarisch-deutschen Begegnung schrieb darüber: „Das Dilemma Bulgariens und seiner Menschen scheint zu sein, dass sie wie eine Sonne ständig Energie nach außen abgeben, ohne etwas dafür zurückzubekommen.“ Ich liebte meine Arbeit als Lehrerin, aber mir wurde klar, dass ich eigentlich ständig Emigranten ausbildete. Nach und nach reifte in mir eine neue Idee heran – es fehlte nur noch ein Anstoß.

Engagement für die Jugendlichen durch „FAR“

Die Schule mit ihrem breiten Netzwerk von Schülern, Lehrern und Eltern sowie die vielen in den Jahren entstandenen Kontakte zuhause und in Deutschland bildeten die Basis für meine anschließende Beschäftigung weit über die Grenzen der Schule hinaus. In meinem Leben schwamm ich immer gegen den Strom und wollte experimentieren. Ich organisierte den ersten bulgarisch-deutschen Schüleraustausch für meine Schule. So bekam ich Mut und Bestätigung für meine Visionen zu einer neuen pädagogischen Entfaltung im sozialpolitischen Bereich. Mit viel Enthusiasmus seitens bulgarischer Kollegen und mit der Unterstützung des deutschen Partners, Benedikt Widmaier, dem Direktor der Akademie für politische und soziale Bildung „Haus am Maiberg“ im hessischen Heppenheim, wurde 1995 in Burgas „FAR – Verein für demokratische Bildung“ gegründet. „FAR“ bedeutet „Leuchtturm“, und das ist auch das Selbstverständnis unseres Vereins.

Auf dem neuen demokratischen Weg der Entwicklung unserer Gesellschaft wollten wir mit FAR den Jugendlichen vor Ort neue Programme für zivilgesellschaftliche Bildung, ein Forum zur Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen und ethischen Themen sowie Möglichkeiten für Entwicklungschancen anbieten. Im Mittelpunkt stehen bis heute Ziele wie Bildung eines eigenständigen Urteils und kritischen Denkens sowie die Entwicklung einer neuen politischen Kultur in einer Zeit gewaltiger Transformationsprozesse unserer postkommunistischen Gesellschaft. Diese Ziele verfolgt FAR seit 26 Jahren, bietet regelmäßig ein aktuelles Bildungsangebot und gibt auch meinem Leben mehr und mehr Sinn. Dadurch entstanden vertrauensvolle Beziehungen zu Kollegen in Westeuropa und auf dem Balkan. Ich begegnete nicht nur guten Fachleuten, sondern auch vielen wertvollen Menschen, die für meine weitere Sinnsuche wichtig wurden.

Die Bedeutung von Kyrill und Method

Den jungen Menschen wird durch unsere Aufklärungsarbeit die große demokratische Tradition Bulgariens bewusst, was ihr Bewusstsein stärkt. An erster Stelle nenne ich hier die gewaltige historische und geistige Tat der Slawenapostel und Brüder Kyrill und Method im 9. Jahrhundert, die uns Bulgaren das Lesen und Schreiben vermittelten – zwei wichtige Instrumente für Halt und Orientierung damals und heute. Sie waren nicht nur Schöpfer und Aufklärer, sondern auch große Demokraten ihrer Epoche. Kyrill und Method wurden zum bulgarischen Code der damaligen Zeit. Welche Rolle sie damals spielten und welchen großen Beitrag sie für die Entwicklung der europäischen, demokratischen Kultur leisteten, zeigt ihre Wahl zu „Patronen von Europa“ 1980 durch Papst Johannes Paul II. Allein durch diese Kulturtat hat Bulgarien seinen verdienten Platz in der Familie der europäischen Völker.

Das Gebet ist eine Möglichkeit, mit Gott, mit sich selbst und mit anderen zu sprechen. Gott kennt unsere Motive und Bestrebungen und das Treffen mit ihm findet früher oder später statt, da wir ihm in jeder Lebenssituation begegnen. Das Treffen mit Christus durch ein vertrauensvolles Gebet ist eine Perspektive, die Horizonte überschreiten kann. Gebet und Dankbarkeit begleiten unseren Lebensweg in guten und in schwierigen Zeiten.

Vor einiger Zeit erkrankte ich plötzlich schwer und geriet in Lebensgefahr. In einer darauf folgenden langen Auszeit hatte ich die Möglichkeit, zu überlegen, zu überprüfen und zu überleben. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Familie. In extremen Situationen teilt sie tatsächlich unsere schwere Last und ist ein Garant für einen guten Ausweg. Meine Lieben gaben mir Halt und Wärme. Ich glaube aber auch, dass der Schöpfer sein „Ja“ für mich sprach.

Katholisch und orthodox

Durch meine mehrjährige internationale Vereins- und Bildungsarbeit und meine Partnerprojekte mit katholischen Bildungseinrichtungen in Deutschland begegnete ich auch der katholischen Kirche. Die von Renovabis viele Jahre geförderten gemeinsamen Projekte haben die institutionelle Existenz von FAR in Südosteuropa überhaupt erst möglich gemacht.

Die katholische Kirche weckte mein Interesse für die katholische Soziallehre, ein strukturiertes Wissen über die sozialen Aufgaben und das Engagement der Kirche den Menschen gegenüber. In der Orthodoxie wird das Sakrale viel mehr betont und das soziale Engagement der Kirche wird, obwohl es auch vorhanden ist, nicht klar definiert und praktiziert. Gegenwärtig, während der Pandemie, wendet sich auch die orthodoxe Kirche mehr und mehr dem Sozialen zu.

Die christliche Lehre erreicht uns durch die Reden und das Werk der Apostel, die klaren religiösen Texte helfen mir zu einem besseren und tieferen Verständnis der Botschaft Gottes. Eine besondere Person auf meinem geistigen Weg ist meine Kollegin Veronika Stich von der Katholischen Landvolkbewegung Bayern (KLB) geworden, mit der ich über viele Glaubensfragen gesprochen habe. Solche Gespräche öffnen immer die Tür zu den eigentlichen Inhalten und Werten. So begann ich durch unterschiedliche Wege, das Evangelium immer besser zu verstehen.

Die neue Rolle der Religion

Die Bulgarische Orthodoxe Kirche steht heute vor wichtigen Aufgaben. Eine davon ist die Einführung des Religionsunterrichts in der Schule – eine verspätete, aber doch immer noch mögliche Tat. Als Bildungseinrichtung setzt sich FAR dafür ein und leistet einen bescheidenen Beitrag. Die Schule soll nicht nur Wissen, sondern auch Erziehung, Ethik und zwischenmenschliche Beziehungen vermitteln. Die religiöse Bildung korrespondiert direkt mit dem Vertrauen der Menschen gegenüber der Kirche und ihren positiven Beispielen. Unsere Religionslehrer können das Gute aus der alten bulgarischen Tradition bewahren und ihre Arbeit mit neuen Methoden und Beispielen bereichern.

Die Pandemie führt zu überraschend neuen Wegen der religiösen Bildung. Früher lernten die Kinder Religion von den Erwachsenen, heute sind die Eltern durch den Online-Unterricht in diesen Prozess involviert. Gerade dieses neu entstandene Interesse gibt der Kirche eine neue Chance. Neu gesucht und entdeckt wird in der Zeit der Pandemie auch die wahre therapeutische Rolle der Kirche für viele, die sich einsam und verlassen fühlen. Gläubige wie Nichtgläubige suchen Zuflucht und Trost. Was sonst, wenn nicht der christliche Glaube, führte und rettete Generationen Christen über die Jahrhunderte? Warum sollte das heute anders sein?

Es reicht nicht, wenn wir die Kirche nur kritisieren, sondern wir müssen der Kirche die Möglichkeit geben, uns Christen wieder nahe zu kommen. Die Pandemie könnte den Prozess der Annährung intensivieren und uns neue Wege aufzeigen. Wir Menschen wollen in unserer Welt so schwimmen wie die Fische im Meer. Dafür müssen wir aber unbedingt das Wasser sauber halten, anders gesagt, die Ökologie unseres Geistes und Bewusstseins sauber bewahren.

Ich danke dir, Gott, dass du mir die Chance gegeben hast, genau diesen Weg zu gehen.